Sanktionen gegen Österreich?!

Vorwort: ich habe diesen Blog ungern abgebrochen, bevor er weiter ausdifferenziert war: der Parteitag der AfD und die Kommentare v.a. der konservativen Partein aber auch der Religionsverbände bräuchten einige Erwiderungen, die nicht sponatn erfolgen können. So bleibt es bei einem ersten Blick – erweiterungs- und kritikbedürftig.

Österreich weckt zur Zeit Abscheu, Verwunderung und Furcht: wenn die Unbedeutenden anfangen, perverse Politik zu machen und moralisch Amok laufen, dann erschrecken auch die Bedeutenderen, aber die sind ein wenig im Schatten der Ereignisse in Wien und am Brenner. Deshalb erst der Blick vor die eigene Tür: spannend ist es schon, wie der Verniedlichungsdiskurs läuft. ‚Alternative für Deutschland’ wird aus polizeilicher Sicht als eine bürgernahe und konservative Partei bewertet, so in der Anzeige einer Berliner Polizistin gegen eine anti-AfD-Demonstrantin. Der Kommentar: „da hat sich der Grundkurs politische Bildung ja voll gelohnt“ (Tagesspiegel 26.4.2016).

Damit kommen wir dem wieder erstarkten Nationalismus näher: zum Konservatismus kann man und soll man viel Differenziertes sagen, Aber wenn er mit der Staatsverachtung gegenüber dem ‚System‘ daherkommt und sich auf die Ängste und Sorgen der bürgerlichen Volksgemeinschaft zurückzieht, dann geht es ja nicht um das Bewahren einer erhaltungswürdigen Struktur, sondern um die Rekonstruktion einer ethnisch begründeten Herrschaft, die, weil sie auf die Volksgemeinschaft aufbaut, weder demokratisch noch verfassungstreu sein kann. Die Bürgernähe wird immer gemietet, wenn eine Minderheit – noch sind sie ja eine große Minderheit, die neuen Nazis und „Rechtspopulisten“ – dem Volk aufs Maul schaut und sich selbst dort findet. Konservative wehren sich zu wenig gegen diese Vereinnahmung, denn eine republikanisch verfasste und demokratisch agierende Gesellschaft braucht natürlich konservative Elemente noch im fortschrittlichsten politischen Konzept; das muss jede Generation erfahren, wir können es an uns 68ern ebenso zeigen wie an denen, die wir z.B. in Schule und Hochschule reformiert und konfrontiert hatten, die sich zum Teil gegen uns wenden müssen, weil der Fortschritt sich ja nicht immer opportunistisch einstellt, wenn man ihn will, sondern wenn man ihn richtig macht. Also bedeutet eine konservative Position (Opposition gegen das Abräumen gut gelungener Lebensumstände) fast den Beweis eines richtigen Lebens im Falschen, um einen adornitischen Ausdruck umzumünzen. Konservativ wäre es, den Artikel 16 des Grundgesetzes in seiner ursprünglichen Form zu belassen oder wieder herzustellen, um daraus eine andere Form der Aufnahmepolitik – und ihrer Grenzen – abzuleiten als das jetzt geschieht. Aber das ist nur ein Beispiel, mir geht es heute um Österreich und Deutschland. Und um Österreich muss ich so viel Sorge mir bereiten wie ich um dieses Land fürchten sollte.

Dass die Österreicher (fast alle) ihre Regierung unfähig und charakterlos finden, ist verständlich und richtig. Es gibt aber einige Parteien, die demokratisch und wählbar gewesen wären (schon in der Vergangenheit) und auch jetzt wählbar sind. Grüne und Liberale sind ja da, und nicht nichts, und sie haben ein Portfolio, das nicht von gestern stammt. Welche Österreicher das sind, die da wohlstandsverwahrlost den Volksparteien ihre Verachtung zeigen, lohnt der Untersuchung, so einfach kann man sie nicht einordnen. Aber nein, der Trend geht zur FPÖ, seit langem, das begann vor Haider und ist nicht abzusehen: diese Partei schleicht sich nicht an, sie ist offen rassistisch, ausländerfeindlich (im Gewande des sog. Ethnopluralismus -–Türken dürfen türkisch in der Türkei sein, klar), sie verkauft Identität. Das Verkaufen geht, zugegeben, in Österreich noch leichter als in Deutschland, weil es zu wenig demokratischen Konservatismus gibt (was man auch an der deutschen SPD besonders deutlich sieht, die österreichische SPÖ kann schon gar nicht mehr an ihre sozialen, republikanischen Wurzeln erinnern). Und die ÖVP ist ja nie aus ihrer nationalkulturellen Tradition herausgewachsen, die mit dem Dollfuss-Faschismus ganz erfolgreich war und sich noch gegen die NS-Politik abgrenzen konnte…Immerhin hat sich Österreich gerade im kulturellen Überbau der letzten Jahrzehnte geradezu eine Tradition des Widerstands gegen die Sozialpartnerschaft der Krisengewinnler gebildet. Sogar die deutschen Verlage und Theater leben nicht schlecht davon. Also, erklären kann ich den Wahlsieg des FPÖ-Programmschreibers Hofer vom letzten Sonntag ganz gut (37%), und es schmerzt fast physisch, warum ich auch verstehe, dass so viele Bürger – noch immer eine Minderheit, aber eine sehr große – diesen Rechtsausleger gewählt haben und nicht die Grünen oder Neos.

Am 30.4.2016 titelt die SZ: „Rechtsaußen oder rechts draußen“, nicht so schlecht erfasst…wie ich immer wieder sagen muss, es gibt niemanden außerhalb der Gesellschaft, man kann ihren Rand erweitern und ausbeulen, aber man kann niemanden aus ihr ausschließen, wie das der CSU Tauber einmal wollte. Rechts draußen gibt es schon, aus der „Compliance“ der bürgerlichen demokratischen Kommunikation und Politik. Wenn wir die Verfassung ernst nehmen und die Gesetze – ob gern oder aus einem gewissen Zwang heraus – befolgen, dann muss es klar sein, dass man mit der AfD und manchen ihrer Herolde im etablierten Lager nicht arbeiten kann. Wenn sich gerade die AfD auf die Verfassung beruft, um sich christlich abendländisch zu verorten, dann ist das offen nazistisch und nicht mehr konservativ. Aber das ist die Ambiguität unserer Gesellschaft, man kann nicht, aber man muss sie mehr als nur zur Kenntnis nehmen. Eine Demonstration gegen ihren Parteitag nutzt da nicht viel, selbst eine Analyse ihres Wahlprogramms. Die Rückkehr des verkrampften Ethnos zum Demos, zum legitimen Wahl-Volk, zum Souverän über den Öffentlichen Raum kann das Gegenprogramm, Gegengift sein. Also weg vom deutschen Weg, wie ihn Frau Nahles, diese heuchlerischste aller Sozialpolitikerinnen, mit der Abstrafung von EU Ausländern gerade versucht; wie das Dobrindt mit seiner ethnophoben Maut anstrebt; wie das die ganzen Lobby-hörigen Regierungsmitglieder täglich praktizieren: die Wertegemeinschaft EU, oft beschworen, besteht darin, unter Wert an verscherbelt zu werden. Dass Nahles der AfD in die Hände spielt, dass die CSU sich ihr bis in die Wortwahl anbietet, merken nur Aufmerksame.

Was ich jetzt versuche, ist ein Schnelldurchgang durch eine unappetitliche Realität, aber es muss irgendwie sein, bevor ich einer weiter gehenden politischen Analyse komme. Ausgangspunkt: der schafpelzige Herr Hofer, Mitwirkender am Parteiprogramm der FPÖ, aber ganz und gar milde, „unpolitisch“, wird vielleicht die Wahl gewinnen, Bundespräsident werden, Österreich beschämen, aber noch nicht einmal so wie Orban, Fico, Kaczinski ihre Länder beschämen, halt alpin. Im reichen Land wird sich nicht viel ändern, die sind schon rechts. Flüchtlinge wird man weiterhin aufnehmen, immerhin, und besser behandeln als die grauenvolle Gesetzgebung und die angedrohten Grenzzäune vermuten lassen. Dahinter aber steht das Grauen einer Vergangenheit, die nicht vergehen will.

1918 blieb ein Restland, das, so die Sozialdemokraten und andere, gerne zu Deutschland kommen wollte, weil alle anderen Nationalitäten zu Nationalstaaten wurden, manche demokratischer (Tschechoslowakei), andere keineswegs. „Deutschösterreich“, ich habe die Briefmarken noch gesammelt. Deutschland war gerade dabei, aus der unsäglichen Kulturnation mit hunderten Despotien einen leidlich demokratischen Nationalstaat zu machen (Weimar war so schlecht nicht, es gab nur zu wenig Republikaner und Demokraten). Österreich blieb der Anschluss verwehrt, man war einigermaßen konservativ mit dem roten Wien als Hauptstadt, man sprach überwiegend „deutsch“, war aber alles andere als Deutsch. Mit Ethnie konnte keine Identität entstehen, das war vielleicht ein Glück. (Die Deutschen, die immer ein „reines Volk“ sein wollten, mussten damit scheitern; so viele Tote). Der österreichische Faschismus war irgendwie konsequent, diese okzidentalistische Abendländlerei im autoritären Ständestaat war damals eher Mainstream, nicht so bei den Nazis. Die kamen den Deutschen mit österreichischem Pass entgegen, 1938, Odilo Globocnik sei der Zeuge. Dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus war, glaubten die Austrofaschisten natürlich gerne, nachdem sie mit den Sozis zugleich von den Nazis verfolgt wurden, den gleichen Sozis, die sie selber nach 1934 in ihre Lager gesperrt hatten. So etwas verbindet. Ist im Übrigen besser aufgearbeitet als man denken mag, nur, schon zu meiner Zeit haben wenige Friedrich Heer gelesen oder Thomas Bernhards Bestehen auf der Nazifacette dieses Landes verstehen wollen. Sowas wirkt bis heute, weil es ja das Land nicht daran gehindert hatte, zugleich die beste deutschsprachige  Nachkriegsliteratur – kritisch und tiefgehend – hervorzubringen und den UN Generalsekretär und Nazi Waldheim zu installieren, den Nazis nicht einmal ein „Neo“ abzuverlangen und den Austrofaschisten keine glaubwürdige Erneuerung. Wenn die FPÖ und ihre braunen Spießgesellen heute Österreich sagen, meinen sie ein virtuelles Deutschland in einem virtuellen Europa. Wenn die beiden Volksparteien Österreich sagen, meinen sie einen gemeinsamen Machtmarkt irgendwo in der Umgebung.

Und, wie schon öfter angemerkt, so einfach die ist die moralische Überheblichkeit Deutschlands gegen den Kurswechsel der Österreicher nicht zu verkraften. Erst wenn es neue Flüchtlingsmengen gibt, die den Balkan vermeiden, wird sich zeigen, wer wie viele aufnimmt und schützt, gar willkommen heisst.

Ich wage keine Prognose. Wenn Hofer gewinnt, gilt das Obige; wenn es van der Bellen schafft, gilt es trotzdem. Es gibt keine Nazimehrheit in Österreich, es gibt aber eine dumpfe Gemeinschaftshysterie ohne empirischen Volksbegriff, also einen im nostalgisch-irrealen symbolischen Überbau. Die EU ist viel zu korrumpiert in der Pflege ihrer neuen Nationalismen, als dass ein Hofer auch nur die Erwägung von Sanktionen zuließe. Warum auch, dann müsste man ja auch welche für Deutschland fordern.

 

Finis Terrae III

Um sich der Situation zu nähern, in der wir verzweifeln müssen, um weiter leben zu können, um als Menschen im öffentlichen Raum handeln zu können, als Personen kenntlich zu sein, kann ich keinen Kompromiss erkennen, bevor ich nicht weiß, zwischen welchen unvereinbaren Positionen er geschlossen wird. Der Erdögan kommt mir in die Quere, die aktuelle Demütigung der Demokratie lässt daran zweifeln, ob nicht das darüber hinausgehende Nachdenken nur eine besänftigende Arabeske ist. Aber nein, ich versuche mich zu widersetzen. Carl Améry hat einmal vom Terror der Aktualität gesprochen, und so schiebe ich diesen Alptraum von Tagesverletzung weg von mir, wissend dass er mich morgen bei einer politischen Veranstaltung und in ein paar Tagen an der täglichen Arbeit wieder einholen wird. Ganz punktuell ist dieser Einbruch in unsere begrenzten Freiheitsräume ja ohnedies nicht, da die EU-Kommission auch mit anderen Diktatoren und Mördern freundliche Abkommen zur Flüchtlingsabschiebung treffen möchte, wohl in der Annahme, dass jeder doch am besten dort stirbt, woher er oder sie kommt.

Der Zeitstrahl in die bessere Zukunft ist jedenfalls weiter geknickt, was sich vielleicht auflösen oder umlenken lassen wird. Dass es soweit kommen musste, ist folgerichtig, und die Spiegelhälften der totalitären europäischen Grundvoraussetzungen nähern sich wieder erschreckend an. Das 19. Jahrhundert galt als ewig, weil es in das 20. so weit hineinragte, dass es nicht zu Ende gebracht wurde, und jetzt setzen sich die Formen des letzten Jahrhunderts, die Zeit auch vor dem Zweiten Weltkrieg, vor dem Kalten Krieg, vor der Entkolonisierung bei uns fest. Ich sage bewusst nicht „wieder“, vieles hat nie aufgehört, unter der Hoffnung durch zu tauchen, mit angehaltenem Atem. Schrecklich, dass es nur wenige Verschiebungen an Begriffen und Metaphern geben muss, um die Nivellierung unserer europäischen Schweinwelt („Werte“) und aller irgendwie opportun erscheinenden Diktaturen und Mordregime zu bemänteln; schrecklich, dass lächerlich geringe Zahlen – 3 Millionen Flüchtlinge – schon ausreichen, um die Masken von unseren zufriedenen Gesichtern der Mitte zu erodieren.

Nicht wirklich souveräne Nationalstaaten besinnen sich darauf, dass sie als Nationalstaaten vielleicht besser führen als in Staatenbünden, schon gar als der Bundesstaat, der wir längst sein müssten, um die Krise des dissoziativen Zerfalls abzuwehren. Es gibt Gründe, warum die osteuropäischen Länder nach zwei Diktaturen dem Sirenenruf des ethnischen, religiösen, faschistoiden Nationalismus nachgeben, Gründe, die man weder billigen noch dulden sollte, die man aber verstehen muss, um sie bekämpfen zu können. Und es gibt gar keinen Grund, warum Länder wie Österreich, die Niederlande oder die Skandinavier sich in einen Nationalismus einüben, der ihnen nur schaden kann; die Politik muss man so wenig respektieren wie die Ängste der Bürger vor den imaginären Flüchtlingen. Beide Nationalismen sind nicht einfach Rückfälle, sie signalisieren die Normalität einer Evolutionsstufe von Rechtsstaat und Freiheit, die nirgendwo so gefestigt ist, wie man sie beim Betriebsausflug ins bessre Land seit den 60er Jahren gesehen hätte. Die USA sind so wenig unser Verbündeter in Sachen Freiheit und Werte wie die Anrufung Europas noch irgend einen tieferen Sinn ergibt angesichts der Prioritäten des Zusammenhalts, als da sind Abwehr und Rückzug aus den bereits erreichten Standards abgebauter nationalstaatlicher Souveränität.

Der Nationalismus geht der Nation voraus. Er kann dem Staatenbund nicht vorausgehen, weil der nicht einfach aus Nationen besteht. Deshalb lehnen ihn die meisten der EU Gegner auch ab. Berufen auf eine Demokratie, der die Mehrheiten müde sind und deren Repräsentanten sich in schlechtem Beispiel überbieten, hilft wenig. Vor allem kann die Demokratie mit Mehrheitsentscheidungen zu Deutschtum, Türkentum, auch Europäertum, nichts anfangen; was fehlt, ist eine republikanischer Grundton in allen politischen Denkakten, auch für die Schaffung eines „Europäischen öffentlichen Raums“. Vgl. auch Finis terrae II. Da dieses Anliegen weder neu noch originell ist, kann es leicht durch alle möglichen ideologischen oder auch kleinstteiligen Aktionen und Diskurse verdeckt werden, als wäre es nicht die Grundlage für die Aktivierung demokratischer Prozeduren. Die Verachtung dieser Prozeduren, die Abkürzung durch die Selbstzuweisung der Position des „Volkes“ – wir sind es, auch wenn wir gegen es sind: Pegida, AfD, aber auch mancher Stammtisch der Mitte, und in ganz vielen Interessengruppen, Vereinen und der Basisorganisation des Volkes als sich vergessen fühlende Bürgerinnen und Bürger  – diese Verachtung ist eine Trotzreaktion, die nicht verstehen will, was für Mühe Demokratie im Gegensatz zu Unterwerfung macht, machen muss.

Wie das alles zusammenhängt, ist nicht einfach, aber leistbar zu vermitteln. Die Selbst-Entmächtigung der Demokratiemüden durch die falsche, aber eingängige Behauptung, „die Politik“ würde sie nicht wahrnehmen erregt auch bei mir Wut, aber gespalten in die Verzweiflung darüber, dass sich die politischen Mandatare nicht wehren und in die Aggression, die auf das Mitleid und Verständnis derer hoffen, die nichts dazu tun, diesen Entsolidarisierungsprozess zum Programm zu machen. Man kann das auch Stimmungsdemokratie nennen (Heinz Bude ist ein verlässlicher Analytiker). Oder auch Teilherrschaft von Gefühl und Empfindung, kontrafaktische Entmachtung der Vernünftigkeit von Argumenten und Prozeduren. Dadurch, dass viele Politiker*innen sich nicht gegen ihre Entmachtung durch den Volksmund wehren, ja, diesen sogar als legitimen Ort von Angst quasi in eine Verständniskoalition bringen, entmündigen sie ihre Handlungsfähigkeit[1]. Die müssen sie aber haben, wenn sie gewählt werden als Garanten der Durchsetzung der Regeln, die wir uns selbst geben. Statt von den Politikern zu fordern, was ihres Amtes ist, fördern wir sie durch ihre Auslieferung an Lobbys und die Angst der Übeltäter.

Das Volk ist keine Volksgemeinschaft. Die meisten Kritiker der Situation beklagen, dass die Menschen  – viele Menschen – das Gefühl für Zugehörigkeit, „belonging to“, verloren hätten. Man kann aber einer Volksgemeinschaft nicht zugehören, oder ihr beitreten, weil sie schon schicksalhaft einen in die Hierarchie – meist rassistisch, aber auch kulturell und sozial – einordnet. Man ist schon eine Karteikarte (Im Bericht über die neuen Nazis Götz Kubitschek und Ellen Kositza haben das Bender/Bingener (16.4.2016) gut herausgearbeitet, vor allem, wie Wahlen und Demokratie den „einheitlichen Volkswillen privatisieren“ (das geht auf Carl Schmitt zurück). Der Demos, das Volk, auf dessen Souveränität Demokratie aufbauen, ist niemals eine Volksgemeinschaft, weil die Vergesellschaft erst dadurch geschehen kann, dass die Menschen sich selbst zugehören. Das ist die Bedingung für Republik. Und daran fehlt es.

Aron Bodenheimer, Freund, gelehrter Analytiker und aufbegehrender jüdischer Gelehrter, hat an entscheidender Stelle von unserem Stamm gesagt „Teilnehmen und nicht dazu gehören“. Dieses Schicksal kann ich verallgemeinern: die Zugehörigkeit kann nicht verliehen werden, aber die Teilhabe sollten wir erarbeitet, wo immer wir sind. Den Raumschaffen, dessen Öffentlichkeit unsere Vergesellschaftung mit einbezieht, nicht unser Wir dem Sie der Macht entgegenstellen. Nun hilft das nicht gegen die Verzweiflung und es hilft nicht unbedingt für die weitere Analyse. Oder doch: wenn wir in viele, scheinbar unendlich viele, Zugehörigkeiten uns aufspalten lassen, aus dem scheinbaren Pluralismus der Eigenartigkeit jeder Besonderheit, und jede Eigenart ihren unverrückbaren Platz in einem göttlichen oder auch nur parteipolitischen Heilsplan hat, dann steht uns niemand mehr nahe, der sich dieser Besonderheit unterwirft. Die Bescheidung auf die kleinstmögliche Zelle der Vergemeinschaftung erfordert für diese totalitäre Autorität über die Gruppe, wir da draußen sollen, dürfen an nichts teilhaben, was drinnen geschieht. Das ist das Ende der Weltgesellschaft, das sich hier im Kleinen abzeichnet. Noch nicht festgefügt, aber im Wachsen.

Es würde zu weit gehen, zu behaupten unter diesem kosmopolitischen Blickwinkel gäbe es „kein“ Polen, Ungarn Deutschland, aber die Bedeutung dieser Bezeichnung geht nicht annähernd im Blickwinkel auf, unter dem wir Unterschiede wahrnehmen. Das gleiche gälte für politische und kulturelle Systeme, die plötzlich als gleich und mit Eigenart versehen würden, egal wie unmenschlich, uneffektiv und ungerecht sie seien. Dieser vermeintliche Pluralismus bedeutet nichts anderes, als dass jeder Machthaber in seinem Bereich herrschen kann, wie er will. Trivial?

Erst die Einmischungspflicht, die Teilhabe, ermöglicht Analyse, Verständnis und vielfach auch die Erklärung. So geht’s weiter, und ermöglicht eine Fortsetzung.

[1] Diesen Absatz lese ich gerade durch, als auf einer Parteiveranstaltung der Grünen in einem Vortrag genau dieser Sachverhalt empirisch belegt für das kleinteilige Ressentiment gebracht wurde. Die Gegenwehr über Kommunikation ist ein überzeugender Beitrag gegen die Resignation. Und es wäre gut, reagierten Politiker schnell auf vorausschauende Vorbereitung auf Flüchtlinge, die noch kommen werden. Stattdessen bekommt man Dank ohne Anerkennung. Der Vortrag der Vertreterin Frauke Postel von „Tolerantes Brandenburg“ (16.4.2016) sollte im Detail nachgedacht werden, als starke Dosis gegen die Verzweiflung, auch in der Verteidigung der repräsentativen Demokratie. wenn die Volksgemeinschaft sich der Plebiszite annimmt, dann fällt mehr als nur das Verbot der Todesstrafe, dann fällt die Europäische Vorstellung eines friedlichen Staatenbundes.

Nazis? Nicht schon wieder…

 

  1. Ein Problem: Wissenschaft und Satire.

Satire darf alles. Ich bleibe bei Tucholskys Satz, und zwar ohne Abstriche. Über Geschmack streite ich, jederzeit, aber nicht über die Freiheit ihn zu verletzen. Denn die Beleidigung trifft nicht die Menschenwürde, sondern die Ehre. Und Ehre ist eine analytische Kategorie, die eine Variable bezeichnet, des einen Ehre ist des andern Schande, und oft steht Ehre für Macht oder ersetzt Ohnmacht. Satire verweist auf die Wirklichkeit, die oft anders nicht zu sehen ist als durch ihren Angriff.

Wissenschaft darf auch alles. Sie verweist ebenfalls auf die Wirklichkeit, ihre Ergebnisse sind aber nicht dem Augenschein, sondern der Analyse und Theorie geschuldet, also der Wahrheit. Wissenschaft muss beleidigen, wo sie das angreift, was – aus schlechten Gründen oder Unwissenheit oder Täuschung, – für wahr gehalten wird. Sie ist aus den gleichen Gründen angreifbar, darf nicht beleidigt reagieren, wenn sie angegriffen wird, muss sich wehren, wenn ihr Versuch der Wahrheit kompromittiert wird.

Wie nun, wenn wissenschaftliche Begriffsbildung schärfer zuschlägt als Satire? Wenn man, mit guten und argumentierbaren Gründen Tabus bricht, Menschen so charakterisiert, dass sie entweder reagieren müssen oder nach dem Staat und dem Strafrecht schreien?

Populäre Beschimpfungen stammen nicht aus der Wissenschaft: „du bist behindert“, „du Opfer“, und dergleichen mehr stammen aus unserer jüngeren Geschichte und werden verabscheut, aber kaum kritisiert, nicht geahndet…sondern als populistischer Jugendjargon oder rechtes Idiom abgetan. Anders ist es seit einigen Jahren, als „Antisemit“ zum nicht-hintergehbaren Schimpfwort wurde. Versuch dich wehren, wenn dir einer das A-Wort entgegenschleudert, öffentlich gar, und du aus der Verteidigungsposition kaum sagen kannst, was du gerade gesagt hast. Wenn Antisemiten dieses A-Wort gut einsetzen, immunisieren sie ganze Gruppen und die Politik gegen den Antisemitismus und zerstören die notwendige Gegenwehr.

Wie ist das nun mit einem Gegenwort, „du Nazi“, mehr noch als „du Faschist“? (Die zweite Person „Du“ ist noch und immer eine zusätzliche Herablassung, die bei „Sie“ in der Anrede beleidigender und schärfer ist, weil man das gegenüber für voll nimmt). Das kann man doch nur sagen, wenn man begründet, jemand rede/handle wie ein Nazi oder er/sie handle als Nazi.

Als Wissenschaftler muss ich auf diese Differenz achten, aber in beiden Fällen muss ich von Nazis sprechen, wenn ich die begründbare und belegbare Vermutung habe, dass die Person wie und als Nazi spricht und handelt. Kein Vertun. Die Beweislast liegt bei meinen Argumenten und ob sich der Angegriffene verteidigt, und wie, kann mir erstmal egal sein: ich muss meine Aussage begründen, und auch, warum und wozu ich sie mache, genauer: wenn ich sie an die Öffentlichkeit wende, dann impliziert das auch meine Auffassung vom politischen Raum, indem sich nicht nur die Meinungsfreiheit konstituiert, sondern auch die Wissenschaftsfreiheit und Kritik und die Adressaten des Denkens ausgehandelt werden.

  1. These

Wenn man von Nazis spricht, haben viele die Assoziation von stämmigen im Nacken ausrasierten Schlägertypen und einer unflätigen und pöbelhaften Ausdrucksweise; deren Rede schon versprach, was sie dann ja auch eingelöst hatten. Die Feinfühligeren, die Gebildeteren unter den Nazis waren nur in ihren Kreisen sichtbar und wirkten nicht minder nachhaltig. Aber ihr Bild ist unscharf geworden, war nie präzise: zu viel Gemeinsames gab es in der Wortwahl, als dass man im Nachhinein auf den Inhalt hätte geachtet. Die politische Bildung und viel Aufklärung haben diese Vorstellungen einer Nazi-„Oberfläche“ verfestigt, sodass oft gar nicht mehr darüber nachgedacht wird, was eigentlich genau diese Leute damals gesagt, was genau sie angekündigt und was sie verwirklicht hatten. Verfolgen wir die Strategien der Nationalsozialisten nach und binden wir sie in damalige Diskurse ein, die nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa stark entwickelt waren, dann können wir vergleichen und werden viele Ähnlichkeiten erkennen. Wenn sich einer ausdrückt wie ein Nazi, argumentiert wie ein Nazi, die gleiche Logik anwendet wie ein Nazi, was ist der dann, oder die?

Es wäre naiv, die Bezeichnung auf oberflächliche Erscheinungsformen, Kleidung etwa, Leitbegriffe o.ä., zu reduzieren. Heute kommen Nazis natürlich ganz anders daher als in den zwanziger Jahren. Analytisch kommt man nicht umhin, die FPÖ in Österreich, die ungarische Regierungspartei und ihre Konkurrentin Jobbik und auch die AfD in Teilen als nazistisch zu bezeichnen, wobei die Abgrenzung zum totalitären Staatsbegriff oft unscharf ist (Faschismus will den gewaltsamen Staat, die völkischen Nazis wollen gerade die Herrschaft jenseits des Staats). Und entsprechende Traditionslinien lassen sich bis in die Hetze mancher „christlich-sozialen“ Parteivorständler und anderer Lautsprecher der Volksparteien, dort allerdings in der Minderheit, verfolgen. Jedenfalls ist der Begriff „rechts-populistisch“ verharmlosend, ja, beschwichtigend und außerdem unscharf, denn Populismus hat ja auch seine elitenkritische Seite. Und die ist natürlich bedenkenswert, wenn sich die Eliten im Wegschauen, Verharmlosen oder aber auch Verteidigen von Positionen üben, die Teil der Probleme und nicht ihrer Lösung sind.

Samuel Salzborn aus Göttingen ist einer der Wenigen, die diese historische Linie beim Namen nennen und verfolgen (FR 8.4.2016,2-3). Aber natürlich gibt es viel artikulierten Widerstand gegen das Wiedergängertum völkischer Ressentiments. Nicht nur das Feuilleton, auch die Reportagen und Kommentare der freien Medien bei uns sind besser geworden im Widerstand, auch hier mit bedauerlichen Ausnahmen. Nur wagt man die Analogie nicht oft auszusprechen, es erscheint undenkbar, dass sich wiederholt, was sich damit verbindet. Der Stacheldraht zwischen EU Mitgliedsländern, der Orban-Seehofersche Geifer, die christlich-nationalistischen Ausfälle in Polen, das stumpfe Ustascha-Revival, all das hätte ich vor drei Jahren zwar für denkbar, aber kaum für vorstellbar gehalten. Brüssel schweigt dazu, wie zu vielem Wichtigen. De Maizière wäre zu wünschen, in der Zeitmaschine als Hugenotte an den Grenzen Preussens zurückgewiesen zu werden; die rassistische Hetzjagd der CSU auf einen nicht-weißen katholischen Pfarrer ist nicht vor Gericht, sondern am Biertisch gelandet. Wiederkehr aus Einzelbeispielen summiert? Methodisch ist das möglich, aber nicht einfach.

Mir geht es nicht um die immer wieder notwendige Auflistung und Aktualisierung der deutschen und europäische Nazi-Novellen. Es gibt genügend Widerstandskraft, dass wir nicht „noch gibt es sie“ sagen müssen. Wir haben das Kabarett und die „Lügenpresse“, die man wieder so richtig mögen kann; aber wir sind in der Sphäre der politischen Öffentlichkeit zu unentschlossen zu sagen was ist. Als passte zwischen die CSU und den Rand tatsächlich noch jemand. (Ob das „Rechts“ im alten Schema ist, muss neu gedeutet werden…).

Übrigens: in den USA darf man sich wieder weigern, Schwulen etwas zu verkaufen, aus christlicher Gesinnung. Nur im vorzivilisierten Mississippi, auch in Carolina wird das vorbereitet. Man sollte den Botschafter einbestellen. Soweit zur Freundschaft.

  1. Antithese

Mit diesen Ausführungen lasse ich mich genauso instrumentalisieren, wie es die AfD und die Rechten in der Politik gerne wollen. Ich lasse mich von Einzelfällen, die verabscheuungswürdig, aber eben nicht repräsentativ sind, in die Falle locken, in dem ich den Nazi Höcke für die AfD und die bayrische Priesterverfolgung für die CDU nehme und dann den Schluss von der Wiederkehr der Nazis vorschnell ziehe.

„In Wirklichkeit“ ist das alles nicht so fürchterlich. Habe ich nicht selbst vor einigen Jahren – in wissenschaftlichem Zusammenhang – geschrieben, 15% für eine rechte Partei (also tatsächlich rechts von der CSU) sei in Demokratien normal und noch mehr sei verkraftbar, weil und wenn es eben eine Demokratie sei? Was machen denn die Rechten wirklich? Sie kritisieren Missstände, die die Regierenden verniedlichen oder ignorieren, sie schauen dem Volk aufs Maul, was die Regierenden tunlichst nicht tun, sie regeln im Lokalen, wohin die Herrschenden nicht kommen? Und im Übrigen ist der Rest des anstehenden Parteiprogramms so inhaltsleer wie die Programme anderer Parteien. Wir sind überheblich, wenn wir der AfD nicht glauben, sie nähme die Ängste des Volks nicht ernst. Und dass sie lieber Deutsch als muslimisch sein wollen, ist das gute Recht einer ethnopluralistischen Gesellschaft (Vorsicht: der Begriff hat es nicht positiv in sich).

Machen wir also gute und verständliche Politik, dann erledigen sich die rechten Ausreißer von selber, so wie das die Linke auch getan hat und noch tut. Gehen wir auf die Menschen zu, hören uns ihre Sorgen und Ängste an. Das Volk will nicht nur seinen Besitz bewahren, es will klare Regeln und angemessene Strafen für Regelverletzer haben, und das Eigene soll nie schlechter dastehen als das Fremde. Ist denn das nicht, mit winzigen Variationen, das im Normalmodus unserer Gesellschaft fast jeder sagen könnte, jeder Sozialdemokrat, Grüner, Christsozialer, Liberaler? Naja, Unterschiede muss es geben dürfen, weil es sie gibt. Und was die Nazi-Analogie betrifft, so ist der Vergleich absurd: es geht ja nicht um die Judenvernichtung, auch nicht um die Vernichtung von Flüchtlingen oder Muslimen, sondern nur darum, dass sie nicht so zahlreich bei uns das zerstören, was wir so beispielhaft – aus der Geschichte haben wir gelernt – aufgebaut haben. „Wir“, das Volk.

  1. Keine Synthese, und Kompromiss wobei?

Meine Antithese greift auf, was ich jeden Tag höre, in der S bahn, auch im Gespräch mit ansonsten eher angenehmen Gesprächspartnern, was ich lese in den Analysen der Medien und der Wissenschaft. Aber die Antithese ist ja nicht, was gesagt wird, sondern was es bedeutet, dass es heute und so gesagt und getan wird.

Zwischenruf: was ich damit meine, ist auch vorbildlich in der dreiteiligen Fernsehserie „Kudamm 56“ im ZDF abgebildet worden. Das war die Generation, in die ich hineingeboren wurde, und deren Kinder eben heute das Volk repräsentieren, und deren Enkel auch schon da sind im Konflikt. Ich konnte 1968 schreiben, dass wir nur 23 Jahre vom Kriegsende entfernt sind und 35 Jahre von der Machtübernahme; ich konnte 1989 schreiben, dass es nach 1968 fast so weit ist, wie von dort zum Krieg, und heute ist es verständlich, dass viele EU-Bewohner nach 1989 viel mehr Abscheu vor dem Kommunismus haben als vor den Nazis, die Halbwertzeiten der Erinnerung sind nur in der Wissenschaft leicht aufzubrechen; oder ist heute überhaupt noch in ein Geschichts“bild“ einzubauen, wenn man nicht weiß, wonach man sucht? Und deshalb auf Erzählungen zurückgreift, die unwahr, aber attraktiv sind („christliches Abendland“, Volksgemeinschaft geht vor Staatsmacht, Abgrenzung schafft Identität).

Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Nazis seit ihren Anfängen zwei Diskurse besonders gepflegt hatten: zum einen die Kritik an der Demokratie genau dort, wo deren „Schwachpunkte“ eigentlich die Stärke republikanischen Staats- und Gesellschaftsverständnisses sind: die differenzierte und egalitäre Meinungsbildung mit dem Ziel, dass sich eine Republik Regeln gibt, an die sich Mehrheiten und Minderheiten halten, weil und nicht obwohl sie demokratisch zustande gekommen sind. Zum andern aber die Kritik an tatsächlichen Missständen, die – isoliert und überhöht dargestellt – nur beseitigt werden können, wenn die Verfahren beseitigt werden, die angeblich zu ihrem Bestandteil gehören. Solche Punkte sind nicht willkürlich aufgegriffen, Wissenschaft, aber auch genaues Hinsehen, kann sie oft erkennen: die Begründungen für die ausländerfeindliche Maut, die  Obergrenzendebatte über Flüchtlinge, die ständige Drohung mit Gewalt und Strafen (Schießbefehl, Sozialleistungsverweigerung etc.), und immer wieder der Besitzstand an imaginären Gründen für die eigene Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit den Herrschenden im „System“. Der Begriff taucht auch wieder auf.

Die Müdigkeit an der Demokratie, die europaweit um sich greift, schlägt uns oft den Widerstand gegen den Blödsinn der Nazis aus der Hand. Von Weimar sagt man, es wäre eine Republik ohne Republikaner gewesen, bei uns ist jedenfalls der Duktus der Gleichgültigkeit gewachsen gegen beides – das liberale tua res agitur, kümmere dich um das, was dich angeht, und zwar öffentlich, wo es hingehört – und die demokratische und solidarische Einsicht, dass niemand aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann.

Die Konfrontation mit der Nazi-Analogie ist wichtig. Sie mag manche befremden und andere reizen, und wieder andere beleidigen. Das nehmen wir in der Wissenschaft auf uns, wie die Satiriker sich mit Karl Kraus sagen müssen: Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten. (Fackel 309/10). Und wer weiß, vielleicht sehen manche den Nazi-Vergleich mit Erschrecken, wenn sie lernen, was die Nazis wirklich gesagt und getan haben.