Kosovo – gerade zurück

Vom ersten bis zum fünften August war ich mit einem Freund im Kosovo, nach 25 Jahren haben wir Erinnerungen aufgefrischt, Veränderungen und Wiederholungen beobachtet und uns biographisch arrangiert. Über diesen Aspekt werde ich hier nicht ausführlich schreiben, sondern über die Eindrücke einer kurzen Reise durch ein kleines Land, mit einem mehrschichtigen Anlass nicht nur der Reminiszenz, sondern auch der Innovation. Reminiszenz wäre der Rückblick auf unsere Zeit bei UNMIK, Innovation war der erste Besuch bim Filmfest in Prizren, das es schon einige Jahre gibt, und zu dem uns ein Freund aus Deutschland animiert hatte. Schaut in die letzten beiden Abschnitte zu den nicht biographischen Eindrücken…

1.

Ankunft in Pristina. So hätte man sich diesen Flughafen nicht vorgestellt, zwar nicht unendlich groß, aber so modernisiert, wie kaum erwartet, von einem Parkplatz- und Mietwagenmeer umgeben und, paradox?, gesichtslos wie alle Flughäfen dieser Art, man muss schon wissen, WO man ist. Wiedererkennen des Antennenbergs gegenüber, in dem die langen Tunnels sind, in denen die MIGs verborgen waren. Haben wir nie betreten dürfen.

Wir können nicht mit den Bekannten nach Prizren fahren, deren Mietwagen ist schon voll, und glücklicherweise bekommen wir nach mehreren Abfuhren wegen Ausbuchung bei einem kleinen Unternehmen einen Leihwagen, Peugeot, sehr in Ordnung, fünf Tage Bequemlichkeit. (Überquellendes Benzin beim Tanken schafft nur kurzfristig Besorgnis).

Erste Verunsicherung. Fährt man aus dem Flughafen hinaus, sieht es wie früher aus, zwei Kilometer, denn sehen wir die Autobahn, Ost-West, offenbar neu. Wir wollten die alte Bundesstraße von Pristina nach Süden fahren, aber nach Durchfahrt durch die heute noch eher scheußlichen Vorstädte sagt man uns: kehrt um, nehmt die Autobahn. Ja, das tun wir, eine sehr neue, breite Autobahn, die weit nach Westen ins schwach besiedelte Gebiet ausholt, und dann nach Süden abbiegt. Gut befahren, aber nicht so voll wie alle anderen Straßen. Also auch nicht verstopft. Nach einer Stunde in Prizren, überlaufen und sehr kompliziert, zur Garage des Hotels zu kommen, dauert eine Stunde, obwohl wir ungefähr wissen, wo es ist: aber ein Straßen- und Einbahngewirr. Dann sind wir da. Das Auto in der Tiefgarage, wir wissen schon, dass man nicht so einfach wieder herauskommt. Das Hotel „Centrum“ sehr typisch, zwei Gebäude, durch ein weiteres Hotel getrennt, alles gehört zusammen und den Eigentümern, die teilweise auch selbst dort die ganze Zeit arbeiten, wir haben eine Suite aus zwei Einzelzimmern mit einem supermondänen Bad, dessen Armaturen wir eher nicht benutzen. Alles schön, sauber und in kleinen Aspekten schon defekt…Wir flanieren in die Fußgängerzone im Zentrum und treffen dort, „natürlich“ auf Hörschelmann, seine Begleitung zweier deutscher Offiziere i.P. Bernhard Grigoleit und Rolf Damke. (Pardon, in der ersten Fassung hatte ich hier einen falschen Namen angegeben)) und eine lokale, also deutsche, kosovarische, Journalistin aus der Region, die in Potsdam auch mit den Grünen arbeitet. Das sind echte Zufälle und keine verdeckte Planung. Man kann auch sagen, typisch für Kosovo insgesamt, oder überhaupt? Keine Philosophie bitte dazu. Eher das Wiedererkennen der abendlichen Lebendigkeit ab 20 Uhr…die Stadt ist übervoll: zu den ca. 40.000 Einwohnern viele Besuche, v.a. aus Deutschland – Ferienbesuche, dann die Zuschauer für das Filmfest, dann die Motorradtruppe – siehe die kommenden Tage, und Touristen, nicht so viele. Aber wir werden erst an den folgenden Tagen diese Struktur der kulturell und historisch wohl spannendsten Stadt Kosovos kennen lernen. Unsere Erinnerung über Ereignisse ganz am Anfang unserer Arbeit für UNMIK Spätherbst 1999 bis 2003 ist nicht intensiv, vieles erkennt man wieder, aber wir haben hier ja nicht gelebt (Die Einbahnstraße am Flussufer war ein frühes Ergebnis der militärischen Besatzung, bis heute sinnvoll). Sonst schon stark modernisiert. Wir erhalten eine Vorschau auf das Filmfest.Und es wird spät….wann schlafen die alle eigentlich? Von unserem Hotelfenstern aus sieht auf eine Baustelle, wo ein Haus im alten Stil, Fachwerk, wieder aufgebaut wird. Viele Stunden am Tag Arbeit, die am frühen Morgen beginnt.

2.

Erkundung nach dem Frühstück. Eine orthodoxe Klosterkirche, neugestaltet nach den Angriffen von 2004, da waren wir schon nicht mehr im Land, aber das Ereignis ist noch im Bewusstsein, weitere Vertreibung der Serben auch von hier. Wie überall im Land, viele neue Moscheen neben den alten, wenig besucht…wir erfahren, dass die Saudis Islamisierung betreiben, die vielen männlichen Kinder zT. schulisch befördern und den Frauen dafür die Schleier verpassen. Viele, aber nicht ganz die Hälfte. Den Hang hinaufsteigen, gut gepflastert, wo die Stadt das Sagen hat, sind die Mülleimer geleert, ansonsten Müllhaufen und Flaschenberge. Zunehmend schöner Rundblick über die Stadt, das Kloster auf halber Höhe kann man nicht betreten, oben auf der Festung das Zeichen der APK – und schon eine große Festung, man kann das nachvollziehen, wie sie das Tal beherrscht hat, man sieht weit. Wenige Touristen. Im großen Innenhof wird eine Musikbühne mit vielen Lautsprechern aufgebaut, wir erfahren hier, dass die Motorradfahrer hier ein Fest am nächsten Tag haben werden, dabei haben wir die meisten von ihnen ja nicht gesehen – kommt noch. Wir steigen nicht weiter, aber genießen den Rundblick, bis zum Scharr und hinüber nach Djakovica und in die Stadt hinein. Dicht. Runtergehen im steilen Gelände, ein Espresso nach dem anderen, in der Innenstadt auf das andere Ufer. Dort knickt die Hauptstraße an der Steinernen Brücke ab, und da stehen wir und sehen mindestens 200 Motorräder vorbeifahren, diszipliniert, viele haben die Maschinen aus Deutschland gebracht, Teil einer Lebensstandard-Manifestation, ebenso wie Investitionen in teure Privatautos und Eigentumswohnung in der Stadt, die die meiste Zeit leer stehen und nicht vermietet werden. Viele Bettler, angeblich alle Roma. Geht man diese Straße weiter, die Ausfallstraße nach Nordwesten, denn kommen wir an einer sehr großen Anzahl von Goldjuwelieren vorbei, später dann auch Silber. Soviele wie nirgendwo anders als in Dubai oder NY…wieviel die wem verkaufen ist genauso ein Rätsel wie, woher das Gold kommt. Gegenüber ebenso lang Brautkleider, Brautkleider und Hochzeitsgewänder, Nagelstudios. Zurück in die Stadt.

Der Abend gehört der Eröffnung. Axel von Hörschelmann agiert als einer der Hauptakteure mit den Einlassprozeduren, kennt auch viele. Viele Menschen stauen beim Einlass auf die Leinwandinsel, einer der acht Veranstaltungsorte, auch ganz nahe der Innenstadt. Erst warten alle auf Kurtti, den Präsidenten, als er nicht kommt, eine kurze Begrüßung, dann ein palästinensischer Vorfilm, ok, und der erste Film:  „Opening Ceremony“, with invitation only, ca. 300 Menschen auf der Tribüne. The Helsinki Effect, ein finnischer Film von großer dokumentarischer Qualität darüber, wie es zu den drei Körben von Helsinki gekommen ist, viel Breschnew und USA und gute Kommentare. 2025: Regie und Drehbuch: Arthur Franck, Besetzung: Bjarne MädelArthur FranckUrho Kekkonen . Als der Film zu Ende ist, steht der Premierminister Kurti auf und verlässt gut bewacht die Arena, wir sehen ihn und erinnern uns daran, wie er uns nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis in Jugoslawien im Kosovo besucht hatte – heute der wichtigste Politiker. Keine Brücke zu dieser Vergangenheit, oder nur ein Steg.

3.

So animiert, erkunden wir am nächsten Tag weiter die Stadt, kaufen Tickets und schöne T Shirts, besuchen das Postamt und eine Kunstgalerie, die doch wichtige zeitgenössische Kunstwerke ohne Kitsch präsentiert. Dann beginnt der Filmmarathon. Erst 11 Kurzfilme, davon vier hervorragend, über soziale Unterschichten in Deutschland, Serbien, und viele eher zweitrangige Versuchsmodelle. Dann drei sehr gute und einen schlechten Kurzfilm, die drei sind auch länger und international gut. Der negative Höhepunkt war ein Film über die Entdeckung des Coronavirus. „The Blame“. Blame (2025) | Film-Rezensionen.de Die richtige Kritik an Trump und Kennedy reicht nicht, die Realität ist durch den Regisseur und die Argumente zu sehr schwarz-weiß. Forget it, schade. Insgesamt ist das Programm sehr detailgenau und umfangreich, oft kann man sich gar nicht entscheiden, wo man was sehen will. Das ist gut so. Und dass es keine rahmensprengenden Reden gegeben hat, ist auch gut.

4.

Am nächsten Tag brechen wir zeitig, nach aufrichtiger Verabschiedung und dem letzten Frühstück im Hotel auf. Wir verabschieden uns von unserer deutsch-kosovarischen Kollegin in Gjakova/Dakovica. Haben viel vom binationalen Verhältnis und von Details erfahren, die schon wichtig sind nach 25 Jahren. Weiter nach Nordosten, wenig bearbeitetes Agrarland, nicht wirklich neuartig, hingegen retro-aktiv Zufahrt und Eintritt ins Kloster Decan, Pass abgeben, italienische NATO und alles wie früher. Auch, dass ich diese gut renovierte Klosteranlage nicht so richtig einatme, anders als Gracanica, denn hier hatte ich nichts zu tun gehabt. Kunsthistorisch eine gute Stunde. Weiter nach Norden, die Straße ist schon stärker bebaut, aber „normal“, und das Gebirge links ist einfach schön. Bis vor Pec. Da quält man sich schon zum Beginn der Auffahrt zur Rugovaschlucht ganz schön stockend, und dann fährt eine Schlange hinein und eine kommt uns entgegen. Wir parken früh (klug) und wandern die Straßem entlang hinauf (ungut), bis zum Eingang in die wirklich tiefe Schlucht, gegenüber dem Felsen, wo wir unsere Freunde haben klettern gesehn und wo mitten aus der glatten Felswand eine Quelle entspringt (überall sehr wenig, zu wenig Wasser). Eine kleine Betonaussichtsplattform und eine Eisenleiter zum Flussabstieg sind neu, sonst schaut es aus wie früher. Wir essen zwei Maiskolben, es gibt keine wirkliche Touristik. Wir wandern an der Straße zurück, nach wie vor viel Verkehr, Rückblenden: Manche Wochenenden hier oder weiter im Tal, man kann nicht „normal“ über die Grenze nach Mazedonien fahren, das haben wir mehrmals auf der nationalen Grenzstraße über den Pass gemacht, ich einmal anonym im Bus. Zurück in Pec, Cafe und Eis und alles wie vorher, nur viel Verkehrsumleitung, weiter Richtung Prishtina. Wir nehmen Nebenstraßen, teilweise durch sehr schöne Hügellandschaften, aber auch viel Zersiedlung. Entgegen der Landkarte schaffen wir es, wieder auf die Hauptstraße zu kommen und dann auf der Autobahn Richtung Prishtina. In dessen näherer Umgebung, etwas abseits vom Hauptverkehr, suchen wir vergeblich nach Unterkunft, dann aber am Ende der Stadtautobahnzufahrt ein gutes Hotel Star Hill für zwei Nächte, direkt am Kreuzungspunkt. Hier ist eine Typische Neubausiedlung mit 8-12 stöckigen Mittelstandshäusern, mit keinen besonderen Lokalen, die bis auf eines ohnedies am Sonntag nur Getränke ausgeben. Dann essen wir halt Reis bzw. Pasta. Soziodiagnose der Umgebung verrät wenig über Pristina. Ökodiagnose: die Autobahnen und Zufahrten weit hinaus ins Land gesäumt von Industrie, Handel, Großhandel: das ist die Fortsetzung der Moderne, die wir am nächsten Tag als Kapitalismus ohne Sozialrahmen diagnostizieren.

5.

Der letzte Tag. Im Bus 7c ins Zentrum von Prishtina. Sozusagen Wiedererkennen plus neue Strukturen plus zerstörtes Älteres. Ich kann das alles nur zusammenfassend darstellen, es zerfällt in viele erinnerte und viele konstruierte Schichten, und zu zweit schaffen wir eine weitere Erinnerungsebene, die viel mit unseren tatsächlichen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten damals zu tun hat. Der Bus hält fast genau vor meinem früheren Ministerium, einem dunklen Hochhaus, umgebaut und uninteressant. Gegenüber das Rektorat, wir gehen in den Garten, der Wächter will uns raushaben, als ich ihm aber sage, wo ich einige Zeit das Sagen hatte, ist er überfreundlich. Das Haus steht noch immer im gleichen Garten, dahinter die unverständlich heruntergekommene Bibliothek, damals ein wichtiger und repräsentativer Bau. (Da gehen wir erst bei der Abfahrt über den Campus). Vieles ist popularisiert, was Geschäfte usw. angeht, die orthodoxe Kirche schräg gegenüber ist fast fertiggestellt. Die alte oberhalb des Campus nach wie vor zerfallend. Wir gehen zur Mutter-Theresa-Straße, die jetzt von Ministerien gesäumt ist, eine schöne Allee – an einige der randständigen Geschäfte erinnern wir uns, aber nicht viel. Das Grand Hotel, da haben wir wirklich Geschichte(n), ein nach wie vor düsterer und nichteinladender Eingang. Am Ende der Straße Jahrmarktbuden, von Raiffeisen gesponsert, das war gestern und vorgestern, noch nicht weggeräumt, auch die Bühne quer zur Straße noch da. Das Regierungsgebäude fast klein neben dem Hochhausneubau, und einem Zubau: alles Parlament. Wir gehen herum, und da sieht es doch noch erinnerbar so aus wie damals. Auf der anderen, der Hügelseite, auch, und als wir uns ein Eis kaufen, kommen noch andere Erinnerungen auf. Wir helfen uns aus mit Namen und Erinnerungen, aber es ist nicht tiefgreifend. Wir gehen an den Geschäften zurück, viele Ministerien, auch als wir richtung Sportpalast abbiegen. Den haben wir zwei Tage lang brennen gesehen, er ist wohl wieder intakt, mit erstaunlich brüchigen Treppen und Zugängen, im Untergeschoß Modegeschäfte, „wie üblich“. Keine großen Erinnerungen. Auch gehen wir nicht an die erste Unterkunft jenseits des Flusses und fahren auch nicht zu unserer Wohnung im westlichen Hügelbereich. Die Stadt bleibt, wie sie war, und wir sind „nicht mehr“ an sie gebunden, auch nicht wirklich durch Erinnerung. Spannend sind Kleinigkeiten, wie alte und neue Denkmäler (viele), eine Art Großstadtnormalität, aber die Stadt ist nicht wirklich groß. Ein typisch zweitklassiges Mittagessen unter der Hauptstraße, dann kommt unser Bus nicht. Wir fahren mit einem Taxi nach Hause, dessen Fahrer seit 25 Jahren aus Deutschland zurück ist, Gespaltene soziale Reaktion bei uns, weil er bedauert, dass er nur Taxi fährt. Es regnet. Wir fahren gleich los, über viele Baustellen und Staus Richtung Gracanica, dem serbischen Ankerplatz, teilweise durch wirklich gigantische Neubaugebiete mit Wohnhochhäusern, neben dem subproletarischen Stadtrand…Das ist gegenwärtig, nicht vergangenheitsbezogen, alles spannend, aber nicht ständig interessant. Gracanica: Das Kloster innerhalb der Mauer, mir hat es immer besser gefallen als andere, auch wenn ich einmal eine Neujahrsmesse eineinhalb Stunden dort stehend verbringen musste. Wir haben die serbische Schublade unserer Erinnerung aufgezogen, aber es war nicht tiefgehend. Über den südlichen Stadtrand in unsere Stadtautobahn zurückgekehrt, mich erinnert das ganze an die Wiener Triesterstraße vor 20 Jahren. Mühselig ein Abendlokal gesucht, um endlich eher durchnässt im Nachbarhaus Ceasar Salad und Burger zu essen, an den Nebentischen sprechen die kosovarischen Familien halb deutsch, halb eben kosovarisch.

Was ich hier nicht beschreiben kann, wollte ich es denn, sind die kleinen Elemente, die ebenso kleine Erinnerungen produzieren, die leuchten kurz auf, verschwinden. Die wirkliche Nacharbeit kommt noch: was haben wir dort gesehen, das wir viel früher gesehen haben, und wie hat sich nicht nur Prishtina verändert, sondern wie haben wir uns geändert? Naja, wir haben schon einiges geleistet, dass das jetzige Gebilde stabiler und dynamischer sich hält als eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Aber solche Wahrnehmungen darf man m.E. nicht gleich politikwissenschaftlich kartieren, sondern muss die Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen führen, die haben uns ja schon auch geprägt. Freundschaften, Gegnerschaft, Koalitionen, Politik, Kultur und – eine Lebenswelt, deren späten Rand wir jetzt noch einmal gesehen haben.

6.

Das alles lohnt für einen Post? Ja, doch, aber nicht unmittelbar. Reisebeschreibungen haben selten Novellenform, weil das besondere Ereignis und eine unerwartete Handlung im Vordergrund stehen. Hier nicht, andererseits sind die Eindrücke des Filmfests – jahrgangsübergreifend, vergangen, gegenwärtig, zukünftig – und die Motorradshow schon hinlänglich thematisch spannend; aber sie waren nicht der Grund unserer Reise aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Eine mehrjährige Erfahrung (1999-2003) in der Politik der Führung durch UNMIK im Zeitraum der beginnenden Wiedergewinnung kosovarischer Souveränität nach dem kriegerischen Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den serbischen Gewaltherrschern davor prägte unsere Aktivität in Pris(h)tina, der Hauptstadt des Kosovo – und im ganzen Land, das ja klein ist. Über meine Rolle damals habe ich kurz nach meiner Rückkehr aus dem Kosovo ein Buch geschrieben[1]. Jetzt war das nicht wichtig, sondern wie man sich an das erinnert, was vor 25 Jahren für das eigene Leben und seine berufliche wie persönliche Zukunft wichtig war und WIE man was erinnert. Wenn man an seine politische Tätigkeit zurückdenkt, geht das nicht ohne Nachdenken über die gesellschaftliche, soziale, kulturelle Umgebung der politischen Aufgabe, die man damals erfüllte, und dieses Nachdenken verbindet natürlich objektive und subjektive Ereignisse. Ein Beispiel: eines Abends erschien Albin Kurti zum Essen, kurz nachdem er aus serbischer Haft entlassen war – lest nach, wer er 1999 und danach war (Studentenführer) und wer er heute ist (Premierminister) Albin Kurti – Wikipedia (9.8.2025). Wie erinnert man das, was sagt es heute? Wie sieht man Gebäude, urbane Landschaften, serbische und kosovarische Kultureinrichtungen, wie verarbeitet man die Konflikte zwischen kosovarischen Albanern und albanischen Albanern, zwischen serbischen und nicht serbischen Slawen, unter den drei ziganen Volksgruppen? Und zwar in der Erinnerung, nicht durch erneutes Wiederaufleben. Die Reise durch das Land, die Gespräche sind sozusagen Trigger der Erinnerung, und sie helfen dem Gedächtnis, Lücken zu füllen, und das ist gut für Menschen unseres Alters. Mehr aber auch nicht. Auch ist es spannend, was von den Bewertungen unserer politischen und halbpolitischen Umgänge mit kosovarischen, manchmal serbischen, Menschen geblieben ist, wo es abgeflacht und wo es nach wie vor aktuell ist…nur mehr im Erinnerungsdiskurs.

7.

Hat man keine persönlichen Reminiszenzen, kann die Reise nach Prizren und durch den Kosovo doch auch in anderen Perspektiven interessieren. Z.B. der Fahrzeughype der aus Deutschland und der Schweiz eingereisten Kosovaren, hochklassige Modelle, Autos oder auch Motorräder, die etwas vom Status und weniger vom Bedarf oder tatsächlichen Vermögen zeigen (sollen). In Prishtina sehen wir dann viel häufiger kleinere und billigere Fahrzeuge lokaler Besitzer. Übrigens: wenig Gehupe, eher zuvorkommendes Fahren und kein unangenehmer Verkehr, dafür viele endlose Staus auf den Stadtzufahrtstraßen. ? Produkt der Modernisi8erung der Strukturen ?

Fährt man Überland, dann fallen die großen Reklametafeln auf und vor allem, dass doch fast alle damals im Rohbau befindlichen Häuser verputzt sind, außer hinterlassene, von Serben verlassene. Die Ungleichzeitigkeiten sind deutliche Zeichen der Entwicklung des Landes: hier die neue, großzügige Autobahn, da die Reparatur einer seit den Konflikten beschädigten Brücke, hier Gewächshäuser, da verkommene nicht genutzte Agrarflächen. Auf der Fahrt abseits der Hauptstraßen kommt man durch etliche Streudörfer, die gut anzusehen sind, aber: wie lebt man hier, wie kann man das? Die gleichen Fragen wie bei uns, und die Stadtland-Differenz spielt schon eine Rolle. Vor allem in Prizren, aber auch in Pristina und Pec, haben wir in den Einkaufsstraßen doch die Ungleichzeitigkeiten der sozialen und der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen, die Schmuck- und Modeläden sind ebenso zeitlos wie eine (minderheitliche) Gruppe wie früher be- und verkleideter Menschen. Aber auch die Sozialstruktur zu erkunden, macht auf eine Reise Sinn.

8.

Woher kommt das Filmfest, wie kann es so gut und vielfältig ausgestattet sein, und wie wird es weitergehen? Viel haben wir von Axel Hörschelmann und aus dem Katalog erfahren. Aber die Integration und Akzeptanz in der Stadt sind schon besonders, und die schlanke uneitle Umrahmung. Keine großen Reden und Vorstellungen. Beeindruckend die Sponsoren, neben Banken und Unternehmern die Botschaften von Schweden, England, Österreich, Italien, der Schweiz, Deutschlands, auch der EU, des British Council,  von UNDP…neben vielen bekannten europäischen und lokalen Firmen, natürlich Red Bull darunter. Wir sind jetzt bei Edition XXIV gelandet „Endless Greed Mental Void“ (was sich dahinter auch als Kritik verbirgt, mag man erkennen). Die uneitle Selbstdarstellung und die Praxis der Durchführung der unendlich vielen Filme sind erstaunlich. Wie überhaupt die Kultur in Prizren besonders deutlich die Stadt durchwirkt. Das merkt man auch an den (wenigen) Buchhandlungen, in denen es auffällig viele Übersetzungen ins Kosovarische gibt – und eine bemerkenswerte Vermarktung englischsprachiger Bücher der besten Kategorie und Übersetzungen (ich finde Orwell und Sigmund Freud neben vielen anderen), – natürlich neben Schmonzes und Kitsch. Und überall Espresso und Café und … nicht, dass das etwas „Besonderes“ ist, aber es ist hier schon besonders, denkt man an die Zeit vor einem Vierteljahrhundert zurück.

Viel zur Besonderheit trägt dazu bei, dass nichts touristisch überhäuft ist, und die Verbindung der zeitweise zugereisten Kosovaren und der Lokalen eine besondere Stimmung erzeugt. Und wie überall, außer in Deutschland und teilweise Österreich, wie überall sind die Kinder lange wach und dabei, und die Innenstädte belebt bis Mitternacht.

Viel Lob? Ja, und hinreichend Kritik zum aufgeblühten Kapitalismus ohne viel soziale Abfederung.

Anmerkung: wer dorthin fährt, sollte sich von Anfang an um zeitnahe Landkarten bemühen, nicht so häufig zu bekommen, am besten in Touristenbüros.

9.

So, das war es. Die nächste Ausgabe dieses Berichts wird mit Bildern kommen, das braucht noch etwas Zeit.

Fragen und Kommentare herzlich willkommen.


[1] Ohne Alternative. Mein Bericht vom Planeten Kosovo. Oldenburg 2004 (BIS). Insgesamt habe ich ca. 20 Texte zu meiner Arbeit im Kosovo veröffentlicht, viele längere Zeit nach meiner Rückkehr im Vergleich zu anderen Interventionsstaaten.

Judenstaat? Jüdisch? Fragen

In letzter Zeit steigen die die Auswanderungszahlen von jüdischen Israelis. Hier zunächst keine Begründungen.

Die Zahl der Israelis, die ihr Land verlassen, nimmt zu. Im Jahr 2023 waren es 24.900, im Vorjahr waren es 17.520. Dem entgegen kehrten im Jahr 2023 nur 11.300 Israelis zurück. (https://www.israelnetz.com/israelis-wandern-vermehrt-aus/ . Interessante Begründungen: Nicht der Krieg, sondern der Premierminister…

Andere Statistiken gehen bis auf 35.000 in 2023 und über 50.000 in 2024 hoch

Egal. Es geht nicht um Quantität, sondern darum, dass viele Menschen in Israel den jüdischen Staat in einen Judenstaat zurückdrehen wollen, und das ist keine Entwicklung.

Man muss aber die Entwicklung vom Judenstaat zum jüdischen Staat kennen, um zu wissen, wie sehr die jetzige, teilweise faschistische Regierung diese Entwicklung umkehrt, vor allem mit den meisten Siedlern, den meisten ultra-orthodoxen Religiösen, den meisten Gefolgschaften für Netanjahu.

Und man hat offiziell vergessen, dass Netanjahu die Hamas im Gaza gefördert hatte, damit die zivile Regierung in den palästinensischen Gebieten geschwächt wurde. „Laut der rechtskonservativen Website Mida hat Netanjahu seiner Likud-Partei 2019 erklärt, man müsse zulassen, dass die Hamas finanzielle Unterstützung aus Katar bekomme – das sei ein Schlüsselfaktor dafür, einen palästinensischen Staat zu verhindern. „Das ist Teil unserer Strategie: Eine Trennung zwischen den Palästinensern in Gaza und im Westjordanland herbeizuführen“, sagte er.“ Man kann das zurück und weiterverfolgen, der 7.10. schafft eine weitere Wende nach einer insgesamt negativen Entwicklung (Netanjahu wollte Palästinenser spalten – und spaltete Israel: Felix Tamsut, 21.01.2024, und in DW mehrfach).

Ich werde jetzt und an dieser Stelle nicht die Entwicklung seit der Entstehung des Zionismus und seit dem wichtigen Wechsel vom Judentstaat zum jüdischen Staat nachzeichnen. Aber dies ist der Auftakt zur Rekonstruktion einer Entwicklung, in der viele jüdischen Menschen in Zukunft den Judenstaat des Trumpnetanjahu weniger als ein jüdisches Leben außerhalb Israels bevorzugen werden.

Fortsetzung folgt.

Klima und Krise

Die Wolken türmen sich. Gleich geht der Starkregen wieder los. Die Pfützen sind breit und tief, eigentlich eine schöne nasse Landschaft in einer Saison großer Trockenheit. So ist es häufig: was nicht regelmäßig eine Situation, eine saisonale Witterung, eine politische Erwartung beherrscht, erfährt mehr Aufmerksamkeit und manchmal unerwartetes Lob. So, wie Klima und Wetterbefund nicht dasselbe sind, aber sich gut vermischen lassen, so geht es überall: ein guter Konservativer findet plötzlich Aufmerksamkeit, wo die Mehrheit dieser Rechten eher Abwendung erfährt; auf der Linken nicht anders, in der Mitte auch so, nur, dass man nicht so genau weiß, was die Mitte ist.

*

Das Wetter, das wir früher erlebt haben, wird heute verklärt. Die Politik unserer Jugend war auch nicht gut, aber durchschaubar – und wir konnten eingreifen. Davor auch wieder nicht. Beziehungen waren….naja, nicht eindeutiger als heute, aber auch durchschaubarer. Alles haben wir damals durchschaut und können es heute so wenig wie wir den Jungen diese Fähigkeit zutrauen, etwas zu durchschauen, zu erklären und es dann ändern oder beibehalten zu wollen. Lamento senile…Diese Generationenhaltung ist nicht neu, und viele Pädagogen, Blogger, Gurus verdienen mit ihr gutes Geld. Aber einen Nachteil haben diese Diskurse, sie verdecken, was sich wirklich ändert, nicht nur von Generation zu Generation, sondern von gestern bis heute.

Wer eine Zeitenwende behauptet, nimmt meistens wenigstens einen nachweisbaren Veränderungsfakt als Ausgangspunkt. Wer sie leugnet, versucht den zu dekonstruieren. Und altmodische Geschichtsredner denken nur in Zeitenwenden, die immer näher aneinanderrücken, bis die gesamte Geschichte nur mehr eine Wende ist, die keine bestimmte Zeit braucht. Soweit, so banal. Aber wenn eine Zeitenwende lange stabil gehaltene und fest geglaubte Tatsachen destabilisiert, was dann, o Bewusstsein?

Also: das alles hat wenig mit dem Alter der Betrachter zu tun, viel mehr mit selektiver Erinnerung. Manchmal aber hatte sich die Zeitenwende angekündigt, lange bevor sie eingetreten war. In Israel z.B. schon 1948, oder jedenfalls 1973, oder wann – sicher nicht am 7. Oktober 2023, da war sie schon eingetreten, und wieweit sie eingetreten gewesen ist, beschäftigt mich heute fast noch mehr als die richtige Kritik an Hamas und Netanjahu, die in gewisser Weise unmenschlich zusammenwachsen. Und das ist eine Kritik unter vielen, und wenn sie auch nicht alle auf einer Ebene sind, sie dürfen nicht abgelegt werden. Denn wenn man sich aussucht, was man historischer Kritik für sich beansprucht und was man dem „Man“ allgemein überlässt, macht man sich nicht nur vor anderen verdächtig, auch vor sich selbst.

*

Auf diese Weise wird man zu einem Menschen, der in den Abständen zwischen Laien und Profis, zwischen subjektiven Selbsteinschätzungen und der objektivierenden Tätigkeit des sich in die Kommunikation Einschaltenden bewegt (Was für Satz-Gethüm, geht mir nicht besser). Die Wahrnehmung der Abstände wird von vielen verdrängt, dann kann man sich am besten „raushalten“. Das aber soll ja wirklich nicht sein, auch wenn es – oder genauer: wenn man – nervt.

Darum denke ich, dass wir nerven müssen, wenn es um die Abwehr der rechtsradikalen Subfraktion geht, Klöckner, Spahn, Dobrindt & al., auch wenn sich viele mit der Normalisierung der Rechten noch zufrieden geben. Diese Normalisierung geht aber eher der Festlegung als der Veränderungsdynamik entgegen. Veränderung ist nicht an sich gut, sondern braucht Inhalte und Formen, und die sind z.B. bei den Kritiken . siehe oben . wichtig. Beispiel: auch wenn es evident ist, Israel kann man nicht kritisieren, wenn der Bezug zu Hamas nicht genannt wird. Übrigens reicht der innerhalb der Kritik nach beiden Seiten. Ähnliches gilt für jede Kritik, und man darf das nicht verwechseln damit, dass „alle“ irgendwie schuldhaft an „allem“ beteiligt sind. Sind sie nicht, und wenn, muss das Wort „irgendwie“ getilgt werden.

Das schlechte Wetter hält irgendwie weiter an, aber es ändert am Klima nichts.

Sommerflucht in die Resilienz

Ich laufe vor der Wirklichkeit davon. Stellen Sie sich vor, wie man über Israel und den Nahen Osten unaggressiv, „cool“, sachlich und wirksam schreiben kann; wie man über Trump und Putin ohne bissige Charakteristika schreiben kann; wie man über das absurde Regierungstheater Merz schreiben kann, ohne weniger Schuldige zu beschweren und wirklich Schuldige zu entlasten; wie man die nächsten zehn Krisenherde global und die nächsten sozialen Widersprüche bearbeitet, so dass es Wirkung bei den LeserInnen, also bei Ihnen zeigt; und reagieren Sie auf die Kulturzerstörung, die uns sehr schnell den unkultivierten Durchschnittsgesellschaften angleicht. Stellen Sie sich das alles vor der zweiten Tasse Café am Morgen vor, denken Sie ruhig darüber nach, atmen Sie tief ein – und

WAS TUN SIE DANN?

Sagt jemand: Nichts. Und jemand sagt: weiß nicht. Sagen viele, wir schichten erst einmal ab und nehmen uns das Wichtigste vor, aber was wird das sein? Sagt jemand: ich verstärke meinen Widerstand.

Wie kann man Widerstand (aus)üben, wenn die Objekte unerreichbar oder nah, aber diffus und schwammig sind?

(Der normale Rat dieses Blogs wäre, sag erst einmal nichts, denk nach, bevor deine Meinung zu weiterer Untätigkeit führt. Aber darum geht es heute nicht).

NICHTS IST AUCH ETWAS

Aber ja. Wenn man uns vorwirft: „Ihr tut ja (auch) nichts“, muss man das nicht einfach so hinnehmen. Wie im physikalischen Quanten Modell, muss sich der Widerstand auch bündeln, kräftig werden, aber dann, wenn er losgeht, schwer zu bremsen oder zu steuern.

Das meinte ich immer einmal mit der Ablehnung der meisten sofortigen Reaktionen auf falsche oder widerwärtige Angriffe. Ohrfeigen und Rücken-Zuwenden geht im Privaten, aber nicht im Gesellschaftlichen. Wie lange musste die Ohrfeige für Kiesinger vorbereitet werden – und was waren ihre Nachwirkungen? (https://www.deutschlandfunkkultur.de/beate-klarsfeld-ohrfeigt-1968-kanzler-kiesinger-eine-100.html).

Oder ganz anders: gesellschaftlich ist unmittelbarer, wirksamer Widerstand eher eine Ausnahme; hingegen wirkt organisierter und andauernder Widerstand oft, nicht immer, nachhaltig. Trivial? Angesichts der oben au8fgemachten, nicht abschließbaren Liste vielleicht doch nicht. Fragen wir einfach: wie organisieren WIR den Widerstand gegen Merz, Söder, Spahn, Dobrindt & Co.? Wir, nicht „man“.

Mit wem? und vor allem: Im Hinblick worauf?

Widerstand? Was ist das im Frieden? Haben wir überhaupt Frieden? Erstmal sollten wir uns vor Angriffen schützen. Wie schwer das ist, sehen wir jetzt im Konflikt um die Verfassungsrichterin.

Und jetzt machen wir erstmal Kraftsport und Bewegungsübungen.

Postkolonial? Begriff & Morast

Der Titel soll euch nur aufmerksam machen. Es geht um sehr viel, nicht nur mir. Israel und Gaza. Das ist kein Pünktchen auf der Weltkarte. Es geht um Antisemitismus, Antiislamismus, Islamismus, ja, und um Geschichte, auch unsere – Unsere Geschichte, das ist eine nationale, manchmal auch jüdische Geschichte. Zuviel um einfach zu sein.

Mein Fachblatt SOZIOLOGIE, Jg. 54, Hefte 2 und 3, befasst sich mit der Wissenschaft Soziologie und dem Antisemitismus, und dabei gibt es von einem Symposion mehr oder weniger klarstellende Artikel. Am letzten habe ich mich festgehakt: Jens Kastner: Widerstand gegen Weiße: Zur Thematisierung von Israel/Palästina in der dekolonialistischen Theorie 314-319. Ein deutlicher, nicht aggressiver Artikel gegen die Kolonialansicht von Israel durch propalästinensiche Wissenschaft, konkret Vergues 2024 und Grosfoguel 2009. Propalästinensisch ist „mein“ vager Begriff, denn oft wird eine Ideologie auch bloß als muslimisch, bloß als arabisch, bloß als „palästinensisch“ verwendet. Kastner ist glaubwürdig und vielseitig (https://de.wikipedia.org/wiki/Jens_Kastner). Worum es mir geht, da ich ja in letzter Zeit so viele Blogs und einige Vorträge zum Thema gehalten habe? Das Unwissen über Israel, auf das auch Kastner anspielt, ist eine Waffe, nicht nur des Antisemitismus.

Ich denke, man muss hier weiter ausholen. Weil und wenn die jüdische Besiedlung Palästinas zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht kolonial war, so hatte sie doch viele Merkmale der Nationalitätsgründung vieler anderer Länder. Und alle, ausnahmslos, haben das Problem gehabt, Verdrängung und Integration handhaben zu müssen. Dabei spielte in Palästina eine Rolle, dass es bis 1918 unter Türkischer, danach aber unter Britischer Herrschaft stand, und die Engländer eine erhebliche, heute beiseite geschobene Kolonial- und Besatzungspolitik ausgeübt hatten, teilweise in Bürgerkriegen, mit und ohne Intervention weiterer Mächte. Aber die jüdischen Einwanderer und -innen waren jedenfalls nicht kolonial, und nach Gründung des Staates Israel 1948 muss man die Geschichte von Gaza genau verfolgen, damit man bei diesem Votum bleiben kann. Nun zu einem schmalen Detail: Wer waren und sind die Palästinenser? Die Antwort darauf ist kompliziert und widersprüchlich, aber ohne die Frage zu stellen, ist der Kolonialvorwurf an jüdische Israelis nicht nur falsch, sondern auch pervers.

Ich gebe hier bewusst keinerlei Literaturhinweise, weil diese so vielfältig sein müssten, um Kastner zu ergänzen und zu erweitern. Aber ich rate, auch den Wissenschaftler:Innen und Interessierten, die ganze Geschichte zu erkunden und sich eine Zusatzfrage zu stellen: ob der Antisemitismus, welchen Alters auch immer, nicht vorrangig durch den Israelbezug erklärt werden kann. Für Diskussionen und Hinweise dazu stehe ich zur Verfügung. Für die Soziologie als Wissenschaft und institutionell ist das ein wichtiges Thema, für das man danken kann, weil es sich öffentlich darstellen lässt.

Aufregen und ruhig bleiben

2 Träume, in kurzen Abständen. Ich sollte mehr im Regen spazieren gehen, als unter dem Schirm träumen. Aber die Wirklichkeit frisst sich ins Unterbewusste, wie der Wolf in die Schafherde

VARIANTE 1

Regt euch nicht so auf. Die Weltpolitik war NIE gut für alle, es hat immer Gewinner und Verlierer gegeben, und das natürlich auch vor Ort.

Zur Zeit ist eben eine konservative Korrektur einer nicht wirklich erfolgreichen linken Politik, und die Übertreibungen in der sozialen und ethischen Politik und vor allm in der Umwelt unterschätzen die Selbsthilfekräfte des Volkes, die ja auch die Demokratie korrigieren.

Der Republikaner Trump korrigiert überall, innen und außen, die liberalen Übertreibungen, die an der konservativen Volksmehrheit vorbei agieren. Der Diktator Trump lässt dauernd unliebsame arme Einwohner abschieben, am besten werden sie mit Gewalt in andere Länder gebracht. Das Oberste Gericht gibt endlich unmenschliche, aber rechtsmäßige Urteile ab. „Oberstes US-Gericht macht Weg für Trumps Massenentlassungen frei“ (reuters, 9.7.2025)

Der gestrenge Putin korrigiert den anarchischen Verlust der russischen Machtposition, die allein zu weltweiten Verhandlungspositionen führen.

Der weitsichtige Chinese Xi schafft mit China ein gutes Gegengewicht gegen den arroganten Westen und formiert seine Staatsbürger zu einer konfliktarmen Einheit.

Wirtschaftliche Abhängigkeiten führen oft zu mehr sozialen und politischen Freiheiten im eigenen Land, und das ist ja wohl das Wichtigste. Und strenge Verhaltensregeln im eigenen Land, wie von Frau Klöckner angeordnet, machen uns eindeutiger, ebenso wie der symbolische, wenn auch aufwändige, Grenzverkehr von Dobrindt endlich wieder nationales Selbstbewusstsein schafft. Und wenn die Bürger, d.h. das Volk, die Umweltpolitik reduzieren, dann leben sie dafür ihre Freiheiten länger und besser aus, und sie werden schon sehen, wie sie als Alte behandelt werden – menschlich, sagt der Aktionär.

VARIANTE 2

Der Diktator Putin lässt dauernd unliebsame hochrangige Gegner ermorden, am besten werden sie aus dem Fenster gestoßen. Und die Ukraine wird vernichtet, was regt sie sich auf?

Der Diktator Trump lässt dauernd unliebsame arme Einwohner abschieben, am besten werden sie mit Gewalt in andere Länder gebracht. „Das Oberste Gericht gibt endlich unmenschliche, aber rechtsmäßige Urteile ab. Oberstes US-Gericht macht Weg für Trumps Massenentlassungen frei“ (reuters, 9.7.2025)

Der Diktator Xi lässt dauernd fast die gesamte Bevölkerung überwachen und reguliert auf diese Weise das regierungstreue Verhalten. Dafür kann diese große Volkswirtschaft auch geordnet angeleitet werden, KI endlich praktisch gegen Individualismus eingesetzt.

Drei Diktatoren, die von ihren jeweiligen Gefolgschaften natürlich nicht so bezeichnet werden, sondern vielmehr umschmeichelt. Jeder Diktator hat sein Gefolge.

INTERMEZZO

Trump wird von Netanjahu umgarnt, einem israelischen Diktator und Anführer einer teils faschistischen, teils ultrareligiösen Regierung. Die Vorstellung, dass er Trump für den Friedensnobelpreis nominiert hat, ist so satirisch komisch, dass man ihn nur beglückwünschen kann. Unjüdischer, dümmer geht es nicht, das weiß auch Trump. Aber es nützt ihm. Umgekehrt sind Trumps Pläne für Gaza erstmals kurzfristig für Netanjahu hilfreich. Als ob die Hamas dem Trump etwas eingeflüstert hätte, bevor sie sich auflöst. „US-Medien meinen, der Friedensnobelpreis sei zu Trumps „ultimativer Fixierung“ geworden, die er für seine Bemühungen um die Beendigung von Konflikten in der ganzen Welt, einschließlich des Krieges zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen, für wohlverdient halte.“ (msn 8.7.2025)

Bei den letzten Sätzen müsst ihr nachdenken. Sind die logisch, sind sie haltbar? Ungefähr so wie das Bündnis zwischen den beiden. Solche Dualpartnerschaften haben Putin und Xi nicht, die müssen anders handeln. Trump braucht das nicht. Netanjahu scheinbar auch nicht.

VARIANTE 3

Wir von unten, am Rande, nicht so im Zentrum der globalen Machtbalance.

Und wie geht Deutschland damit um? DAS beschäftigt mich, nicht vorrangig? die tyrannischen Tatsachen der Weltherrscher.

Ich werde der Bundestagsdebatte nicht vorgreifen. Erst analysieren, dann Thesen aufstellen. Variante 3 kommt demnächst. Ich hoffe, die Träume bleiben konkret.

ZWISCHENBILANZ

Leider hat die Debatte zu keinem Urteil gereicht, wie eine Variante 3 aussehen könnte. Fast alles, das von den Parteien heute, am 9.7., vorgetragen wurde, hätten wir vorhersehen können, und die selbstbewusste Arroganz von Frau Klöckner ist schon eine Vorstadtbühne wert…

Variante 3 kommt noch

Juden, jüdisch – Klug und dumm?

Vorspiel: Dummheit und Faschismus

„Der Faschismus entsteht immer aus einem Geist der Provinz, einem Mangel an Kenntnis der wahren Probleme und der Ablehnung der Menschen, sei es aus Faulheit, Vorurteilen, Habgier oder Ignoranz, um ihrem Leben eine tiefere Bedeutung zu verleihen. Schlimmer noch, sie prahlen mit ihrer Ignoranz und suchen Erfolg für sich selbst oder ihre Gruppe durch Anmaßung, unbegründete Behauptungen und falsche Darstellung guter Eigenschaften, statt an echte Fähigkeiten, Erfahrung oder kulturelle Reflexion zu appellieren

Faschismus kann nicht bekämpft werden, wenn wir nicht erkennen, dass er einfach die dumme, erbärmliche und frustrierte Seite von uns selbst ist, für die wir uns schämen müssen. “
(Federico Fellini: Im Gespräch mit Natalia Ginzburg., dankbar von Edith Pedevilla am 7.7.25 übermittelt).

Es geht um die Verbindung von Faschismus und Dummheit. Ergänzt meine Blogs der Vergangenen Tage. Und erweitert den Hinweis auf DUMMHEIT in einem besonders peinlichen Fall, ja, Syndrom.

  1. Akt: Dummheit entfaltet

Der von mir seit Jahrzehnten unverändert verehrte und gelesene Robert Musil (Törless, Der Mann ohne Eigenschaften u.v.m.) hat im März 1937 zweimal auf Einladung des österreichischen Werkbunds einen Vortrag über die Dummheit gehalten (Österreichischer Werkbund – Wien Geschichte Wiki). Zweimal, das kann also schon beim ersten Mal gewirkt haben, schwierig zu lesen, die Ironie muss wienerisch und nicht norddeutsch verstanden werden – und sehr aufschlussreich, wie die Dummheit über alle Gebiete und Sphären aufgegliedert und verstanden wird, und keineswegs der Klugheit oder Intelligenz im Weg steht. (Musil, R.: Über die Dummheit. Hamburg 2022, Nikol). Ich habe mich eher durchgebissen als den Essay überflogen, nichts geht ohne die Dummheit, die Weisheit schon gar nicht. Warum ist das wichtig? Weil viel in dem, was wir andenken oder anvisieren, widersprüchlich ist, und deshalb braucht es dieser Dialektik, um überhaupt zu verstehen.

  • Akt: Juden müssen nicht jüdisch sein

So, wie Kluge oder Gescheite auch dumm sein können, so wenig sind alle Juden jüdisch. Ihre ethnische Herkunft kann man nicht ändern, aber ihre soziale Qualität und ihr Verhalten, also jüdisch zu sein, zu leben, sich jüdisch zu verhalten, ist nicht festgelegt. Und je dogmatischer sie vorgeblich dargestellt wird, desto mehr sollten wir zweifeln.

Die meisten antisemitischen Vorurteile gelten formal den „Juden“, beziehen sich aber auf das, was den Judenfeinden am Jüdischen nicht gefällt oder nicht passt. Das heißt natürlich, dass ich das Jüdische verteidige, gegen Antisemiten und gegen den Missbrauch des Jüdischen durch bestimmte Juden. „Bestimmte“? Ja, nicht alle, und schon gar nicht „Die Juden“ an sich. Mit anderen Worten: es kommt darauf an,  „Jüdisch„ zu definieren, für sich in Anspruch zu nehmen und den Begriff nicht einfach allen anderen zu überlassen, vor allem nicht denen, die damit das Judentum herunterwirtschaften, geistig und materiell. Die sind meistens antisemitisch, manchmal aber auch Juden.

  • Akt: Wie komme ich jetzt dazu?

Wir befinden uns in einer ziemlich schrecklichen Situation, weltweit. Mit einem aggressiven Kern, neben anderen, von unauflösbarer Gewalt im Nahen Osten, sagen wir in Israel und Palästina. Dazu habe ich seit langem viel geschrieben, gesagt, nicht nur Richtiges und Kluges, aber doch meist glaubhaft. Und viele äußern sich dazu, und man kann gut nachweisen, dass es ein begriffliches Dreieck gibt: „Israel-Juden-Antisemitismus“ – jetzt kommt es darauf, wer welchen der drei Begriffe wie, positiv oder negativ, verwendet und wie die drei verknüpft sind. Wer immer einen direkten Bezug zum Antisemitismus aufgrund der Juden in Israel vornimmt, aufgrund bestimmter Juden, wohlgemerkt, verwechselt die ethnische Herkunft mit dem Verhalten. Und wenn das verabsolutiert wird, dann meint es genau das Jüdische, das seit ewigen Zeiten für den Antisemitismus steht. Und wie komme ich jüdischer Mensch dazu, mich darüber auszulassen? Wieder einmal?

  • Akt: Dummheit antisemitisch, schwer aufzulösen

Alle möglichen Gründe für die israelische, die palästinensische, die arabische, die globale Nahostpolitik werden dauernd herausgebracht, und sie werden mit jeder Drehung antisemitischer (so als würde man immer auf den eigenen Spuren im Kreis reiten und meinen, man käme dem Ziel näher). Welchem Ziel? Frieden? Völkerrecht? Überleben der Palästinenser? Auslöschung der Hamas? Zweistaatenlösung? Machtzuwachs für Netanjahu, damit er nicht vor Gericht muss? Vernichtung Israels von der Wüste bis zum Meer? Ein floridierender Strand für Trump? Ich habe noch mehr ???

Warum antisemitischer? Weil man die Vorurteile gegen die Juden, also antijüdische, als Ausgangspunkt der Analysen und politischen Meinungen (Gemeinplätze) verwendet und so tut, als könnte mit diesem Fixpunkt die Realität erklärt werden. Das ist dumm.

  • Akt: Der Fixpunkt ist falsch. Das Judentum entwickelt sich weiter

Es kann sein, dass Netanjahu für einige Zeit die Oberhand behält. Dass viele kritische, intelligente, religiöse Jüdinnen und Juden das Land Israel verlassen, dass nicht nur der Zionismus gescheitert ist, sondern Israel als letzter Zufluchtsort für alle Juden. Was dann bliebe, ein gewalttätiges Land von Siedlern und Ultrareligiösen, die sich mit anderen, z.B. arabischen Ultras in der Umgebung irgendwie einigen oder auch nicht, aber jedenfalls ein weiterhin ungesichertes Ziel von jüdischen Menschen abgebaut wird. Wer weiß, für wie lange, wer weiß, mit welchen Folgen für jüdische Menschen an anderen Orten der Erde, in einer zunehmenden Rückkehr nicht nur des Antisemitismus. Auch Israel würde dann nicht mehr das Land sein, in das man sich gerne begeben würde, sei es aus Wertschätzung oder aus Fluchtgründen. Wenn das zuträfe, dann wäre Israel nicht mehr „jüdisch“, und die Juden, die dort lebten, wären es auch nicht zur Gänze.

Und wir, die das Jüdisch sein weiter und immer weiter entwickeln, müssten schon überlegen, wann und wie wir nach Israel, mit Israel weiterleben, und viele von uns IN ISRAEL.

Ist das so unwahrscheinlich angesichts der Realität, nicht der Ideologie? Und den Hinweis auf Dummheit habe ich unter anderem gebraucht, damit wir Juden nicht abwechselnd als klug und dumm zugleich missachtet werden – und weil Musil schon Recht hatte.

Widerstand ist nicht Gewalt

The crisis of democracy must find a democratic solution. Fortunately this is quite possible. The border between these two Americas is entirely open and on the Blue side, migrants are welcomed with all possible warmth“ (Marilynne Robinson, NYRB, 26.6.2025: „Notes from an Occupation“).

Das gilt für die USA – Einem Land unter gegenwärtiger Besatzung, „Occupation“. Und das gilt für Deutschland und die EU. Hier zerstört der rechte Flügel der konservativen Merz-Regierung in Windeseile nicht nur Umweltpolitik, auch die Menschenrechte. Der Kampf gegen die Migration ist menschenfeindlich, pragmatisch dumm (Grenzpolitik aus der Sandkiste) und demokratiefeindlich.

Lest über Seenotrettungsabsage der sogenannten Bundesregierung: SZ. 7.7.2025: Hilfe schadet nie.

Wir sind eine andere „Blue side“ als die US Demokraten, und vieles ist bei uns anders. Aber die Seite des Humanismus bleibt aufgeschlagen. Der Merzklub kämpft für die untere Mittelschicht UND die Oberschicht gegen die Armen und Marginalisierten in Deutschland. Und die Autonarren, Umweltignoranten, Wohlstandsstabilisierer ignorieren das, indem sie fiktive Alternativen propagieren, wie work-life-„Balance“. In der Balance liegt das Problem, weil das Gleichgewicht jeder Art immer der Gegner des Interesses jeder Art war und ist. Man macht seinen Job, klar, aber jenseits der Arbeitszeit ist Freizeit und Freiwilligkeit privates und nicht mehr öffentliches Unterfangen. Öffentlich heißt nicht staatlich, sondern über den Rand der eigenen Bedürfnisse hinaus.

*

Widerstand. Keine Retroidealisierungen. Nicht nur lokal oder föderal demokratische Alternativen wählen, das auch. Handeln, als ob von der Mitwirkung der Erfolg abhinge, ob das humanitäre Spenden sind, wer sich das leisten kann, oder eben Mitwirkung, Praxis geht vor Koalitionskritik, oft. Gewaltlosigkeit muss man nicht predigen, man muss sie nur praktisch leben. Widerstand ist auch dann gewaltlos, wenn er auf Gewalt stößt. Was natürlich im Kleinsten der Fall ist, und auch im Großen. (Das ist übrigens die „Blaue“ Hoffnung der USA, jenseits und mit der Demokratischen Partei.

Widerstand können wir lernen und weiter entwickeln, wir haben ja das Potenzial. Ich erinnere mich an die eigenen Diskussionen, so 1975 bis 1980, im Studium und in der aufkommenden Politisierung. In dieser Memory spielt die Beziehung von Öffentlich und Privat, anders Öffentlich und Individuell, eine große, oft aus heutiger Sicht komische und überzogene Rolle. Aber die Diskussion dieser Beziehung hatte schon Folgen, Trennungen und „Beziehungen“ (aller Art, KörperGeistSeele), Und die Kritik an Institutionen hat langfristige Folgen nach sich gezogen, paradox natürlich in den politischen Sekten, und eine Demontage bis heute. Anders gesagt: auch wenn politische Parteien weiterhin für eine Demokratie wichtig ein können, sie bilden nicht das Rückgrat des demokratischen Widerstands., auch wenn sie Opposition sind oder an der Regierung mitwirken. Ironisch: so wenig wie Religionsgemeinschaften.

Wenn man mit guten Grund WIR und nicht ICH sagt – der Grund muss allerdings da sein und gut, dann können wir Widerstand anbieten, auch den Kleinbürgern und Kleingeistern, die uns bisher in die elitäre Höhe verbannt haben, um zu sehen, wie wir abstürzen.

Hitzig, aber kalt

Auseinandersetzungen sind oft „hitzig“ und nicht selten Gegenstand von Medien und Literatur. Sie lassen durchaus Deutungen auf die Psyche und den Geisteszustand, manchmal auch Seelenzustand, der Streitenden zu. Kühle Beobachtung von Streit gehört auch zum Inventar politischer Verhaltensweisen. Und privat gibt es all das sowieso.

Wenn die Streiterei öffentlich ausgetragen wird, ja, wenn andere an der Hitzigkeit teilhaben sollen, dann steckt dahinter wohl ein Kalkül. Nicht mein Thema heute: Musk vs. Trump, aber des Musketiers Angriffe auf den Diktator sind schon seltsam aufgeregt. (Vgl. vielfache Meldungen, u.a. heute Tagesspiegel, 08:52 Uhr). Oft frage ich mich, ernsthaft, ob das alles nicht auch eine Inszenierung ist. Und dann steigen die Medien und Blogs drauf, und wieder wird etwas wirklich, das eigentlich sich nur im Mythos der Machtausübung abspielt, wie seinerzeit im griechischen Olymp oder bei den Sportspitzenverbänden.

Aber die beiden sind nicht mein Thema, nur ein Beispiel. Die Beobachtung von ausgetragenen Konflikten ist etwas anderes als selbst Teil einer Auseinandersetzung zu sein. Trivial? Naja.

*

Man muss nicht an die Spitzen der Macht hochschauen, um Gewalt wahrzunehmen. Auf Augenhöhe gibt es genug davon. Und überall kann man lesen, dass und wie sich festgefügte Strukturen derart auflösen, dass sie nicht mehr kontrolliert werden. Isolde Charim (charim@falter.at) hat nach dem Schulmassaker von Graz „Fragen nach dem ersten Schock gestellt“. Sie stellt mit Recht die beiden Triebe nach Freud ins Zentrum, den Lebens- und den Todestrieb. Und sie analysiert knapp und klar, was geschieht, wenn die Gesellschaft den Todestrieb nicht (mehr) regulieren kann. Ihr Schluss „Die Art, wie der Todestrieb sich geltend macht, wie er ausbricht, ist immer kennzeichnend für die jeweilige Gesellschaft“. (Falter 26/25, S.9)

Die Regulierung von Konflikten, das bin jetzt ich, findet im Vorfeld des angewandten Todestriebs statt. Es gibt ihn natürlich weiterhin, aber er kann gesellschaftlich eingehegt werden, oft besser, manchmal schlechter. Aber wenn er der Freiheit der Macht hingegeben wird, ist es im Einzelfall zu spät. Die Einzelfälle summieren sich, sie geben ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft ab. Strafprozesse gegen die Täter sind die Norm, aber die Wurzel der meisten Attentate liegt in der Gesellschaft, dass und wie sie die Täter herausgebildet hat. Eigentlich auch trivial und althergebracht, aber…oder gar nicht: wenn ich bedenke, wozu uns aufgeklärtes Denken und Tun befähigt, dann frage ich, warum in die jeweilige Situation nicht gesellschaftlich, nicht einzelfällig subjektiv, eingegriffen wurde. Konkret, auf den steirischen Fall bezogen, ein paar Seiten weiter, schreibt Anna Stockhammer wie die braun-schwarze steirische Landesregierung die Sozialarbeit an gewalttätigen betreuten Männern einstellt – weil die Budgetpolitik der rechtsradikalen Regierungspartei sich gegen „Integrations- und Migrationsvereine“ gestellt hat )S. 16). Ein Beispiel für viele gleichzeitige. Der globale Übergang vom dritten in das vierte Weltalter (Ovid: das „eherne“ Zeitalter geht in das „eiserne“ über…heute würde man sagen, die autoritäre Herrschaft verliert die letzte Legitimation (z.B. Wahlen) und wird Diktatur). Da sagt Ihr: bei uns ist das aber nicht der Fall. Wie lange noch auf dem Weg dahin macht sich die Unmittelbarkeit der Gewalt wahrnehmbar? Bevor wir von Widerstand sprechen: schauen wir genau hin, dann schränken ökonomische und militärische Machtansprüche längst gefestigt geglaubte Demokratieübungen fragil oder marode.

Gegenposition? Jedenfalls nicht einfach: Wahlen, Orban, Erdögan, Trump…sind gewählt, noch demokratischer als Putin oder Xi. Das kann es nur marginal sein. Geht zurück zu Freud. Da ist ja nicht nur der Todestrieb, sondern auch der Lebenstrieb, und dem zu folgen beinhaltet z.B. dass man sich nicht bis zur Gewaltschwelle aufregt. und vor allem diese Erregung nicht legitimiert und dogmatisiert, sonst gehen die Menschen ja gerne in den Krieg oder hauen sich eine in die Fresse. Ich gebe zu: sehr verkürzt. Aber doch plausibel. Gegenposition: bitte nicht lachen, ein Gleichnis. Vor wichtigen Entscheidungen gab es bei einigen antiken Völkern eine Entscheidung, dann eine Nacht darüber nachzudenken, und eine Wiederholung der Entscheidung. Danach wurde gehandelt. Würde das heute in die Gegenwart übersetzt, bedeutete es Machtverlust der gegenwartsbezogenen Medien. Auch schon etwas wert…Aber natürlich müssen wir uns, müssten sich alle, daran beteiligen. Ob das noch geht?

Da sehe ich die Chance des Widerstands.

Beispiele gibt es so viele mehr. Es ist Politik, sie zu sammeln und zusammenzuführen, hochrot vor Anstrengung vielleicht, aber nicht aus hilflosem Zorn.

Unehrliche Realpolitik

Zitat der Wahrheit – etwas ausführlicher

…es ist schon erstaunlich, wie sehr manche Menschen bereit sind, sich vor anderen in den Staub zu werfen. Selbst einflussreiche Spitzenpolitiker wie Mark Rutte, Generalsekretär des größten Militärbündnisses der Welt. In einer Text-Nachricht kurz vor dem Nato-Gipfel überschüttete Rutte den Empfänger mit Komplimenten. Dieser habe etwas getan, „was niemand zu tun gewagt hätte“ und nun steuere er „auf einen weiteren großen Erfolg zu“. Sogar den Schreibstil des Adressaten imitierte Rutte: „Du wirst etwas erreichen, das KEIN amerikanischer Präsident in Jahrzehnten erreicht hat.“

Die private Nachricht war wohl nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt, doch der Empfänger – Sie werden sich inzwischen denken können, um wen es sich handelt – verbreitete sie genüsslich weiter. Der Fall illustriert anschaulich, wie sehr sich westliche Staats- und Regierungschefs, oder eben Rutte, derzeit bemühen, Donald Trump bei Laune zu halten.
es ist schon erstaunlich, wie sehr manche Menschen bereit sind, sich vor anderen in den Staub zu werfen. Selbst einflussreiche Spitzenpolitiker wie Mark Rutte, Generalsekretär des größten Militärbündnisses der Welt. In einer Text-Nachricht kurz vor dem Nato-Gipfel überschüttete Rutte den Empfänger mit Komplimenten. Dieser habe etwas getan, „was niemand zu tun gewagt hätte“ und nun steuere er „auf einen weiteren großen Erfolg zu“. Sogar den Schreibstil des Adressaten imitierte Rutte: „Du wirst etwas erreichen, das KEIN amerikanischer Präsident in Jahrzehnten erreicht hat.“

Die private Nachricht war wohl nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt, doch der Empfänger – Sie werden sich inzwischen denken können, um wen es sich handelt – verbreitete sie genüsslich weiter. Der Fall illustriert anschaulich, wie sehr sich westliche Staats- und Regierungschefs, oder eben Rutte, derzeit bemühen, Donald Trump bei Laune zu halten…
(SZ 25.6.2025)

Man kann darüber hinwegsehen. Wir wissen ja, wie abhängig Europa mehrheitlich vom amerikanischen Diktator ist, den wir anders einschätzen als die gegnerischen Diktatoren in Moskau oder Peking. Die kleinen Diktaturen zählen da ohnehin kaum…

IST DAS SO?

Ja und nein. Wie häufig. JA Unterhalb der Atommächte – drei große Diktaturen – gibt es von ihnen abhängige, „befreundete“ Länder, die für sich nationalistisch ausgerichtet sind, aber an sich durchaus alles Mögliche sein können, Demokratien, illiberale Demokratien, autoritäre Herrschaften, Faschisten…manche sind auch Atommächte, die bislang wenigsten demokratisch, die meisten sind keine Nuklearmächte, v.a. nicht militärisch. NEIN Auch wenn fast alle relevant beteiligten Politiker entweder willkürlich herrschen oder auf einem beschränkten Niveau sich selbst überbrücken in eine bessere Zeit (heutiges NATO Treffen, morgen EU), gibt es in der globalen Flächenpolitik keine gleichmäßig verteilten Herrschafts- und Versagensgebiete (siehe römisches Reich, k.u.k. Monarchie, Osmanisches Reich, Russland…) Man muss also schauen, wer in diesen Ländern wo welche Maßnahmen initiiert und durchsetzt. Dazu kann man gegenüber den Diktatoren nicht immer ehrlich sein, die wissen das ohnedies, aber narzisstisch kommt es auf die Außenwirkung an.

Im Staub liegen kann einen schützen – oder man wird zertrampelt. Kein Witz bitte: ich sage nicht zertrumpelt. Dass wir, in Europa, von Rutte über von der Leyen bis Lenz keine bedeutenden PolitikerInnen an der Spitze haben, ist schlecht. Wenn wir uns gegen die Russen nicht wehren können und dabei nicht fest an die USA uns halten können…Karthago.

Ich bin kein absoluter Brecht-Fan. Aber eine Geschichte verfolgt mich seit Jahrzehnten:

Maßnahmen gegen die Gewalt Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich stehen – die Gewalt.“Was sagtest du?“ fragte ihn die Gewalt.“Ich sprach mich für die Gewalt aus“, antwortete Herr Keuner. Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muß länger leben als die Gewalt.“ Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte: In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand, daß ihm gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte; ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: „Wirst du mir dienen?“ Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: „Nein.“ (Microsoft Word – Documento4, 25.6.25)

Für die Wohnung haben wir viele Analogien, für das Schweigen ebenso, und für das Überleben der Diktaturen jeden guten Grund. Das ist doppeldeutig, ich weiß, war es immer. Einfach ist das nicht.