Glücklich ist, wer vergisst.

Glücklich ist, wer vergisst / was nicht mehr zu ändern ist. (Die Fledermaus, 1974, die einzige Operette, die es in der Wiener Staatsoper geschafft hat).

Nebbich, was zu sehr Plattitüde wird, kann gar nicht mehr ernsthaft reflektiert werden. Der abwesende Gatte wird betrogen, weil er abwesend ist, nicht zu ändern. Vieles dazu kann persönlich, privat variiert werden, und auch ohne Betrug ist dieser Satz bedenkenswert, so wie Hannah Arendts Reflexion der Lüge Der „Kern der Wahrheit“ in der Lüge, der Kern der Wirklichkeit im Willen…(Arendt 2002)

Gilt das hier individuell ausgefaltete Bonmot auch für Politik, Gesellschaft? Nur wer vergessen will, darf sich erinnern. Hundertmal von mir variierter Leitsatz meines Freundes Aron Bodenheimer. Warum soll man vergessen wollen?

Mir geht es um die großen und kleineren Kriege und Gewaltsysteme, um Jemen, Syrien, Afghanistan, aber auch um Skripal und andere russische Verbrechen, um Assange und andere amerikanische Verbrechen…Auch die große Politik landet irgendwann bei den einzelnen Menschen und schafft dort Tod und Unglück. Arendt sagt mit Recht, in jeder Lüge ist ein Stück Wahrheit, aber eben nur ein Stück, und das Ganze ist unwahr. In allem Vergessen lauert ein Stück Wiederaufnahme des Verfahrens, und wenn es herauskommt, ist es die Wahrheit. Die Mechanismen des Wieder-Erinnerns sind im bürgerlichen Alltag meist das „schlechte Gewissen“ (immer ein Stück Wahrheit drin) oder Druck von Außen (Folter oder Sanktionen). Aber bleiben wir beim Gewissen: Polen, Ungarn und andere, haben sich ausgesprochen schäbig zu Geflüchteten aus Belarus verhalten, zumal wenn die aus Afghanistan oder Syrien gekommen waren. Jetzt machen sie es „wieder gut“, und wer wollte sie dafür tadeln? Aber nichts ist ungeschehen, das nicht aufgerufen und abgearbeitet ist. Es kommt wieder. Deutschland in Afghanistan und Deutschland mit den afghanischen Geretteten (wenn sie hier sind) und Deutschland mit den im Stich Gelassenen – das wird durch noch so heftiges Wohltätigkeitsgeschrei nicht vergessen. Dass die Politik es vergessen will, außer Frage. Und viele Opfer der deutschen, amerikanischen, russischen Afghanistanpolitik sind nicht zu ändern, also wieder zu beleben. Die sind nicht zu ändern, aber auch nicht zu vergessen.

Arendt, H. (2002). Denktagebuch. München, Piper

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