Ein Besuch. Es ist kalt an der Schelde, aber schön.
DéDée d’Anvers – Antwerpen neu
Vorspiel:
Ich sitze mit meinem Alter Ego im ICE nach Brüssel. Nicht unerwartet, gibt der deutsche Zug zwischen Aachen und Brüssel in Louvain seinen Geist auf. Wir springen instinktgeleitet in einen lokalen Zug nach Antwerpen statt in den Ersatzzug nach Brüssel, fahren durch die belgische Flachlandschaft und einige Dörfer, und sind 30 Minuten früher dort als mit den Schnellzügen, obwohl wir „durch Menschen im Gleis“ aufgehalten wurden. Ankunft in Antwerpen um 14.00, es ist klirrend kalt, aber es regnet nicht.
Vorspiel 2:
Dèdée d’Anvers, die Schenke zum Vollmond. Dédée d’Anvers – Wikipedia Dieser Film mit den jungen Bernard Blier und Simone Signoret hat mich nachhaltig beeinflusst, geprägt möchte ich sagen – und auf der Fahrt nach Antwerpen kam mir der Film wieder ins Gedächtnis…und noch einmal in der Innenstadt in einer der Hurengassen. Und natürlich hat mich auch „vorbereitet“ das Buch Austerlitz meines Freundes W.G. Sebald, das ja in Antwerpen mit seinem gewaltigen Bahnhof beginnt. Da kommt man an, und die gewaltige Halle, mit Kolonialgeld gebaut, ist schon beeindruckend, auch wenn der heutige Bahnhof vier Stockwerke umfasst und die Einheitlichkeit des gewaltigen Baus zerlegt.
Endlich da.
Zugegeben, man fährt lange aus Berlin da hin, und so schön ist die Landschaft meist auch nicht. Aber die Stadt nimmt einen sofort gefangen, und es wird sich zeigen, warum sie mich sofort an Wien erinnert und erfreut. Wir gehen nach einer mageren Wegbeschreibung zu unserem Hotel: Citybox, Molenbergstraße, gleich jenseits der Ringstraße. Sehr einfach und ohne viel Personal, man kann alles mit Karte und Computer machen. Gute Zimmer, ohne Telefon und TV. Aber alles Sanitäre ist da und sauber. Das Frühstück wird von einer eigenen Truppe sehr freundlich und günstig zubereitet. Der Hinweis ist wichtig, weil die Preis im Touristenzentrum an der Kathedrale schon eher absurd sind, aber da muss man ja nicht essen oder gar wohnen.
Wir haben die nächsten Tage fast alles zu Fuß gemacht, was sich sehr lohnt, wenn man nicht von den Radfahrern überrollt wird, Achtung! Es gibt viele Straßenbahnen und kaum rechtwinkelige Verkehrswege, eben urban.
Am Weg ins Zentrum des Zentrums fällt schon auf, dass viele alte Häuser gemischt mit neueren und ganz neuen eben jene Urbanität ausmachen, die mir gefällt. Wir kommen an vielen kleinen Plätzen und kleinen Parks vorbei und sind schnell an der St. Jakobskirche. Die hat was Besonderes, außer der typischen Jesuitenfassade: Innen gar nicht so schöne Gotik, aber wo man die alte Apsis sieht, merkt man erst bei genauem Hinschauen, dass es ein Trompe-l’oeil ist, ein Vorhang, der die Renovierung verdeckt. Hier ist Rubens begraben, auch Bilder von ihm und prächtiges Geschnitz ist zu sehen, und überall die Jakobsmuschel für die Pilger nach Santiago de Compostela. Gleich weiter zur Schelde, wir gehen zum ersten Mal auf der Meir. Das ist eine Einkaufsstraße, die den Bahnhof mit der Altstadt verbindet, die Mode zeigt und alle Filialketten, die es bei uns auch gibt, plus die belgischen Bonbonnieren, die wirklich gut sind. Nach der herausragenden Mode muss und kann man suchen, auch in den Nebenstraßen, aber wir wollen ja erst einmal die Stadt sehen, also bis zur Schelde, die schon breit ist wie die Donau, neben der alten Burg (Touristenbüro und Stadtmuseum) ein Riesenrad, immerhin 70m, die Anlegestelle für die Schiffe, halb Ausflug-, halb normale Transporter in die Vorstädte, und etwas weiter der unzugängliche Fußgängertunnel, da wird gerade alles aufgehübscht, weil an der Uferstraße sehr teure Wohnungen mit Blick über den Fluss stehen – die alten Hafenhallen sind jetzt Parkplätze, es gibt auch hier noch ein paar schöne Gebäude. Wir gehen durch die Innenstadt, schauen uns die Öffnungszeiten an, der große Platz vor dem Rathaus ist schon beeindruckend, Der abgenadelte Weihnachtsbaum wird von einem Künstler zur bunten Skulptur, die Kathedrale von Häusern eingebaut, wie es sich gehört, und in vielen Nebengassen ist das mit einigem Abstand zum Zentralpunkt schon ganz erbaulich. In der Jesusstraße essen wir Hawaiisch, weil wir nichts afrikanisches gefunden haben, und von den vielen Italienern uns abgewandt haben. Die Bowls waren schmackhaftes Gemisch aus allem.
Eiskalt, aber.
Am nächsten Morgen wolkenlos. Wir gehen lange durch bürgerliche Viertel nach Süden, über den Markt, zum königlichen Kunst-Museum KMSKA, das grade erst eröffnet hat. Wieder ein Vergleich mit Wien, nicht so groß wie das Kunsthistorische, aber ähnliche Ausstellungsräume, natürlich wieder viel Rubens, dazu andere Maler der ersten (Breughel) und zweiten Reihe, keine Rembrandts, und mit guten Einfällen – nicht nur für Kinder werden Gestalten, Tiere, aus besonders markanten Bildern im Raum nachgebaut, am schönsten das Kamel, und zwischen den Gemälden der Renaissance und des Barock sind bewusst Margrittes und ein paar andere Moderne eingesetzt. Das lohnt, ermüdet in seiner Reichhaltigkeit, und ist ein anziehendes Museum. Die Sonderausstellung ist ein Gegenpol: ein amerikanischer Fotograph hat alle Orte von Weltausstellungen seit 1850 aufgesucht, wie schaut das heute aus…und dazu liegen Stadtpläne aus und man kann sich vorstellen, wie welche Gesellschaft mit ihrer Kulturgeschichte umgeht. Auch das ist Globalität. Und eine Ensor-Ausstellung zeigt, wie der im fortgeschrittenen Zustand alte Bilder verfremdet nachgemalt hat. Nach einiger Zeit wird es hungrig: geht nicht ins Museumscafé, das ist astronomisch teuer und karg. Vor dem Museum wäre eine Frittenbude gewesen. Man lernt nie aus. Wir wandern an die Schelde und zurück zum Zentrum, ein wenig wie am Donaukanal. Wir steigen ins falsche Touristenboot und fahren flussaufwärts, nicht wirklich lang, an Fabriken entlang, riesige Windräder werden da montiert, weiter draußen wohnen dann die Vorstädter. Ein Zwischenfall: die Strömung ist so stark, dass die Schiffsallzweckbesatzerin, die Einzige, mit einer Axt ein Tau zerhauen muss, weil es beim Zwischen-Anlegen nicht geklappt hat…. Wieder zurück steigen wir ins Riesenrad. Jetzt guter Blick auf Altstadt und die Umgebung, auch da ist es noch kalt. Wir wärmen uns in einer essenlosen Kneipe billigst auf. Dann suchen wir das Rubenshaus auf, das ist aber bis 2027 gesperrt und wird renoviert. Die Meir hinaus, als Gegenpunkt zum Museum Kuchen im Unterschichtkaufhaus, auch ganz gut, und dann länglich in die Bahnhofsnähe und von dort ins Chinesenviertel. Unvorstellbar vollbesetzte Restaurants, erst im letzten in der Reihe bekommen wir einen Platz, es lohnt. Vor der Rückkehr in die Kälter schauen wir noch Fussball und Billard, sehr britisch im TV.
Noch am nächsten Tag wirkt das Museum, wirken die Rubenskoordinaten nach. Wir gehen wieder zum Anleger und fahren flussabwärts. An vielen Raffinerien vorbei, aber wir sehen kein einziges Hochseeschiff, nur ein paar Flusskähne. Das enttäuscht uns. Später, auf der Karte, sehen wir, dass der zweitgrößte Hafen Europas hinter zwei Inseln und Schleusen erst beginnt, da kommt die Flusslinie gar nicht hin. Macht nichts, als einzige Passagiere sind wir privilegiert im kalten Nebel. Dann aber! Erst die Kathedrale von Innen. Das Eintrittsgeld lohnt, und es wird eine stundenlange Tour. Besonders, neben der Architektur, die Rubensbilder, v.a. die Kreuzaufstellung und -abnahme – und besonders die Holzschnitzereien in den Chorgestühlen und die Kanzel. Beichtstühle en masse, mit beziehungsreichen Skulpturen, ob man sich die Sünden aussuchen darf. Ein moderner goldener Kreuzträger kontrastiert das Programm.
Wir wandern westwärts zum MAS. Dieses Museum muss nicht einfach beschrieben werden, es ist ein Erlebnis, innen wie außen. Montag geschlossen, sonst 10 bis 17 Uhr. @masantwerpen . Es gibt da eine lokale Dauerausstellung, die einen Einblicke in die Kulturgeschichte und ihre Verarbeitung ermöglicht. Vieles dreht sich um den Mommedag, Karneval, sehr lustig. Auch viele Bilder, die die Produktionsbedingungen vor den Toren der Stadt zeigen. Jetzt, wo die Wälle weg sind und der Straßenring stattdessen befahren wird, merkt man erst, wie klein die Innenstadt geblieben ist und wie riesig die fast-Millionenstadt heute ist. Dazu kommt eine auch für Kinder großartige ethnologische und mit Sagen und Geschichten angereicherte Ausstellung (u.a. die Geschichte der Elsa von Brabant), eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte incl. Kulinarische Anregungen.
Ein Paar Tage zuvor hatte ich die Serie über Maximilian I von Habsburg und Marie von Burgund gesehen: Burgund ist ein Schlüssel zur geschichtlichen Erkenntnis. Und noch drei Stockwerke drüber, die einen weiteren Halbtag gebraucht hätten. Architektonisch lohnt das Gebäude auch, also: einen Tag dafür reservieren. Wir schwanken erfreut zurück ins Zentrum, an allen eher harmlosen Nuttenstraßen vorbei, und weniger harmlos wäre, sähen wir Antwerpen als europäische Kokainhauptstadt – sehen wir aber nicht. Erneute Einkehr bei Hawaii…aber davor, endlich, belgische Fritten, die sind wirklich gut.
Am Tag unserer Abfahrt gehen wir sehr früh noch einmal den Bahnhof inspizieren: da hat man in das klassische Gebäude vier Stockwerke hinauf- und hinuntergebaut, es geht – nicht schön, aber praktisch. Wenige Geschäfte. Es ist ein kombinierter Kopf- und Tunneldurchfahrtsbahnhof geworden, so hätte man es in Stuttgart auch machen können. Daneben der Zoo, schöner Eingang, die Kamelskulpturen vermehren sich. Wir gehen entlang der endlosen Viadukthalle an den noch geschlossenen Diamantengeschäften weiter, immer mehr ultraorthodoxe kommen uns in langen Mänteln, mit Pejes und großen Hüten entgegen, offenbar auf dem Weg zum Gebet oder um ihre kleinen Kinder in die Kita zu bringen. Wir fragen einen nach der portugiesischen Synagoge, kennt er nicht, aber eine kleine Schul gibt’s. Nicht so spannend wie die Bäckerei, wo ich neben drei Frommen Golatschen kaufe und nicht genug bekommen hätte. Zurück im Diamantenviertel, ist jetzt fast alles offen, aber nicht wirklich antörnend. Man muss aufpassen, dass man in jüdische/Juden-Viertel nicht seine Vorurteile mitnimmt, aber auch nicht blind ist. Das Wahlverhalten der jüdischen Bevölkerung hier ist nicht erhebend.
Wir wärmen uns in einem billigen, gut ausgerüsteten Café auf, neben der Oper: die ist umgeben von Spielsalons, Busbahnhof, in einem eher runtergekommenem Viertel – für eine Vorstellung gestern hätten wir 100 Euro zahlen müssen…Zeitungen, Proviant, pünktliche Abfahrt. Nach Amsterdam, außerhalb der Städte ist die dichte Besiedlung nicht so attraktiv, je dichter, desto ordentlicher. Nach Deutschland kommt Belgien, die Niederlande haben schon doppelt so viele Einwohner pro km². Das merkt man.
Wir sind noch immer voll von Antwerpen und dankbar.