Wer freut sich nicht, dass Assad aus Syrien abgehauen ist, dass die Russen dort zurückgedrängt werden, dass die Gefängnisse geöffnet wurden, dass…?
Wer hat in den letzten Tagen nicht Assad als das kleinere Übel gegenüber den erobernden Terrorbrigaden bezeichnet?
Wer hat nicht die Faust in der Tasche geballt, als der Präsident im Wartestand neben dem französischen Präsidenten die Kathedrale mit eröffnete?
Auch die politischen Korrekturen, Kurs oder Moment, können kurzfristig nachdenklich stimmen, die Meinungen sind nur bis zu einem bestimmten Moment stabil, dann schwurbeln sie im Kopf herum, bis sich wieder eine Überzeugung herausbildet, für eine Weile.
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Im Marxismus gibt es Haupt- und Nebenwidersprüche. Im christlichen Glauben gibt es Todsünden und lässliche Sünden. Im Strafrecht gibt es Sicherungsverwahrung nach lebenslänglichem Urteil und Strafen auf Bewährung…so ist nicht nur die Politik und Gesellschaft, die Differenzen gehören dazu. ABER nicht so ohne weiteres, nirgends.
Anderswo ist es immer schlimmer als dort, wo man gerade nachdenkt oder handelt. Oder es ist weniger schlimm. Das ist nicht dialektisch, sondern bloß wirklich, fordert zum nachdenklichen Abstand vor jeder Reaktion auf, ist also ethisch oder moralisch eingebunden.
Was sagt es zu Österreich, da komme ich her, wenn der Islamismus dort besonders gedeiht? „Die deutsch-türkische Imamin und Aktivistin Seyran Ates sieht im politischen Islam das größte Problem für Europa. Besonders Österreich sei ein „Hotspot für Islamisten“, die sich in Parallelgesellschaften ungestört organisieren würden.
„Die Parallelgesellschaften, über die nicht gesprochen werden sollte – weil man es als Fremdenfeindlichkeit und Stigmatisierung bezeichnet –, sind inzwischen Gegengesellschaften geworden“, sagte Ates gestern in einem APA-Interview beim Mediengipfel in Lech„.
Das bedeutet nicht, dass es in Deutschland oder anderswo solche Hotspots nicht gibt, Aber in Österreich fällt es besonders auf, da sollte ein besonderer Anlass oder eine Reaktion auf Untaten die Nachricht bewegt haben.
Weil nichts schwarz-weiß ist, ist noch lange nicht alles relativ. Darum meine Eingangsbemerkungen, die könnte ich täglich machen und zu viel mehr Themen. Aber auch das ist wichtig, was einem „Ins Auge springt“. Ihr erinnert euch meiner Kommentare zum Terror der Aktualität. Über diese Wichtigkeit und ihre Anordnung in unserem Bewusstsein denke ich heute besonders nach, etwa über die Reihenfolge der Nachrichten: erst Assad, dann Notre Dame. Erst Notre Dame, dann die Besucher von Macron. Anderes wird nach hinten geschoben, oft erleichtert, dass man nicht über Sudan, oder afghanische Frauen, oder Gewalt in Haiti erfahren muss…Die Medienwissenschaften wissen dazu viel und genaues. Die Alltagswahrnehmung kann nicht auf die Theorie ihrer andauernden Praxis warten, auch das ist klar. Aber dazwischen sind so seltsame Erfahrungen mit der „Reaktion“. Plötzlich ist in Syrien, im Mittleren Osten, in der Türkei, in Israel … alles anders. Plötzlich und anders. Der Gegensatz zu beständig und gleichbleibend. Schon nach wenigen Stunden hat die Umdeutung der siegreichen „Milizen“ begonnen, in allen seriösen Medien. Kurz davor wurde Haiat Tahrir al-Scham (HTS) analysiert, die wichtigste von mehreren Rebellengruppen. Vgl. https://www.msn.com/de-de/nachrichten/welt/sturz-von-assad-das-ist-der-anf%C3%BChrer-der-islamistischen-k%C3%A4mpfer/vi-AA1vtqym?ocid=msedgntp&pc=U531&cvid=f8d9462bedef4e4bb8e560b9cc77d88a&ei=21 (AFP)
Man kann sich freuen und dennoch wissen, wo mögliches oder wirkliches Gift wartet oder schon wirkt. Das muss politisch und empathisch und rational bedacht werden, nicht intuitiv oder gar im Rahmen der eigenen festgefügten Überzeugungen. Die Wirklichkeit hat wieder einmal die Wahrheiten übertroffen, Notre Dame übersteht die Einweihung und ihr Erstbesucher, und vielleicht kommen in Syrien auch die Menschen zum Wort. Besserwissen werden für einen Augenblick von Besserdenkern ausgebremst.
Abwerten. Nicht zu lange.