Sozio-Demokratie / Instabil
Vorwort
Ich lese regelmäßig mein Berufsblatt „Soziologie“, und meist geht die Diskussion an mir vorüber, aus vielen Gründen. Aber die HerausgeberInnen bemühen sich zunehmend erfolgreich, unsere Wissenschaft mit der Gesellschaft in eine verständliche und kritikfähige Verbindung zu bekommen, und dabei auch die Leerstellen innerhalb der Soziologie zu verzeichnen. Dazu muss ich nicht mehr aktiv in der Uni sein, die Überlegungen helfen schon, bisweilen.
Eine junge Kollegin, Professorin an der Universität der Bundeswehr München (Prof. Dr. Jenni Brichzin (Vertretung) — Institut) schreibt einen langen und komplizierten Aufsatz in der Soziologie: „Die Demokratie der Soziologie – Versuch über eine empfindliche Leerstelle der Disziplin“ (4/2025, 413-447). Sie versucht, das Nachhinken unserer Disziplin in Sachen Demokratie zu erklären und der Kritik auch eine Neubearbeitung folgen zu lassen. Schwierig zu lesen, aber umfassend und m.E. gut so. Warum ich aber damit hier anfange, in meinen Blogs: Brichzin analysiert sehr genau Tocqueville in ihrem Abschnitt „Massendemokratie am Start: Die sozialen Bedingungen der demokratischen Revolution in den USA“ (429-432). Zum Ende des Kapitels und zu Beginn des nächsten fasziniert mich die Genauigkeit, mit der die Volatilität der Demokratie in ihrem „Ensemblecharakter“ beschrieben wird. Ich zitiere jetzt ausführlich, weil hier ein scharfer Blick in eine Gegenwart getan wird, in der demokratische Systeme in kürzester Zeit umgeformt werden, nicht nur die USA, die Türkei, Israel oder Ungarn – im Kern kann das auch bei uns in Bayern oder Sachsen-Anhalt geschehen, darauf kommt es mir aber jetzt nicht an. Unter Bezug auf Tocqueville schreibt Brichzin:
„Und selten wird so deutlich wie hier, dass genau die Mechanismen, die Demokratie doch eigentlich begründen sollen, die gegenteilige Wirkung entfaltenkönnen, ist erst einmal das Zusammenspiel des Ensembles gestört oder ins Ungleichgewicht geraten. Auch die „demokratische“ Ordnung ihrer Zeit kann folglich ins Autoritäre kippen. Als größte Gefahr identifiziert Tocqueville dabei bekanntermaßen die „Tyrannei der Mehrheit“ (T 289). Der unbedingte Glaube der US-Amerikaner:innen an das Mehrheitsprinzip statte die politische Mehrheit mit einer „Allmacht“ aus (T 290), die den „Keim der Tyrannei“ bilde (T 291). Eine spezielle Form der sozialen Schließung ist die Folge, eine Schließung nach Maßgabe der Mehrheit…“ (Brichzin 432, T=Tocqueville). Das kann man natürlich sofort mit Varianten anwenden, nicht nur auf die USA, Israel, die Türkei, Ungarn etc., und auf viele Stimmen in der Demokratie, die nicht von einem Ensemble komplexer Verbindungen ausgehen, sondern von einer, v.a. durch Wahlen bestimmten Form. Mehrheit allein reicht nicht, und nicht nur Brichzin, auch ich denke, dass die Struktur einer Gesellschaft offen gehalten werden muss, immer, und nicht geschlossen werden darf.
Der Artikel insgesamt bleibt interessant, aber ich will mich darauf konzentrieren, wie demokratische Gesellschaften in dieser Zeit eher schnell in autoritäre oder diktatorische und strukturell in faschistische sich wandeln lassen.
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Für mich ist es wichtig zu hinterfragen, zu diskutieren, zu beobachten, was zur Demokratie „noch alles“ gehört, und der Leitfaden des Artikels bringt einem die nötige knappe Systematik bei. So, und jetzt weg von der Soziologie, ich bin ja längst kein aktiver Hochschullehrer mehr, und zur beobachteten Politik.
Dass neben anderen Trump und Netanjahu Demokratie erfolgreich zerstört haben, wird globale Folgen haben. Die USA, als dritte Nukleardiktatur mit einer nicht nur spontanen, ungebildeten, unkritischen Demokratiefeindlichkeit, hat vor allem auf die Menschen negative Auswirkungen, die ja von den USA in der NATO und im westlichen Welthandel sich abhängig wissen. Nicht gerade kolonial, aber kapitalabhängig. Also wir. Und in Israel zerstört Netanjahu endgültig den Zionismus in all seinen Varianten, er und seine Faschisten zerstören die soziale Aufbaustruktur und so viel JÜDISCHES, dass nur mehr die JUDEN bleiben, aber die jüdische Ethik und Kultur zerstört wird, wohl auch die innovative Wirtschaft, wenn er der trumpoide Herrscher bleibt. Also wir jüdischen Menschen müssen eine zukünftige Geschichtsrevision uns antun.
Mit der Auffassung bin ich nicht allein. Ich kann auch die Hamas initial kritisieren, obwohl sie ja von Netanjahu gefördert worden war, aber sie ist ihm entglitten und eine Macht der Barbarei geworden, so wie Netanjahu mit seinem Blick auf eine iranische Monarchie auch nicht gerade demokratisch denkt und agitiert.
Ich lese Oz, Grossmann, Illouz, Neyer, Shalev und viele andere, und ich lese sie anders die Historien der Palästinenser, Araber und Muslime. In diesem „Anders“ steckt mehr Potential an Kritik, an mehreren Seiten – es sind ja nicht nur zwei – als man vermuten kann: wenn man das Ende des bisherigen Jüdischseins in Israel ernst nimmt und das künftige fürchtet – jüdisch wird man weiterhin weltweit sein müssen und können.