Nachtgedanken

In der Schaubühne gibt man den Professor Bernhardi von Schnitzler, vorzüglich gespielt und inszeniert. Das Stück ist von 1913 und erschreckend aktuell, mit drei vier Wortveränderungen ist es von ganz heute. Allein das Programmheft macht deutlich, wie wichtig die 10er Jahres des 20. Jahrhunderts waren, und ich fürchte, die 10er Jahre des 21. sind es auch, noch mehr. Zensur und Problembewusstsein im Vorfeld des Großen Krieges – zu Recht bezeichnet Schnitzler dieses Drama als Komödie. Man muss lachen, wenn man die Institutionen einschließlich ihrer Gegner erodieren sieht. (Wer Zeit hat, soll vor allem das Gespräch von Regisseur Ostermeier mit Heinz Bude dazu lesen).

Den Horizont der Möglichkeit des Gelingens haben Freud wie Schnitzlder in den Knochen – und den gibt es nicht mehr. Weil vor ihren Augen eine Möglichkeit des Gelingens zerfällt. Und das ist für das Bürgertum natürlich charakteristisch: Sie wollen und können sich weder der faschistischen noch der kommunistischen Variante anschließen.

(Heinz Bude: …aus dem Programmheft S. 35).

Wo ist die „Mitte“?, das ist die Quizfrage der unernsten Politik.

Wer das Stück nicht kennt, hat von der Kurzrezension wenig, aber neben der Aufforderungen zu lesen und zu schauen kann man schon eine Konsequenz ziehen: nicht was grässlich aussieht, ist das Schlimmste, sondern was zu einem irren Lachen reizt, legt die Wahrnehmungsorgane offen und macht sie für einen Augenblick bereit,die Wahrheit zu schauen – die wird dir nimmermehr erfreulich sein, sagt Schiller, und recht hat er: wenn man sich ihr naht durch Schuld. Und unsere Schuld ist, die Verhältnisse zu ertragen, nicht aus Opportunismus, sondern aus mangelndem Leistungswillen zur Veränderung.

Revolution? Verweigerung? Empörung? Hinnahme? Die Ratgeberliteratur auch in der Politik ist unübersehbar und unerträglich. (Keiner von uns, auch ich nicht, ist gefeit davor, selbst in den Beraterduktus zu verfallen). Sich dagegen zu wehren, heisst, das zu verändern, was sich noch nicht als versteinerte Grundlage der Herrschaft den Spielräumen verweigert, in denen Macht noch zu verteilen und auszuüben: der Sinn aller Politik ist die Freiheit (H.A.), und die Freiheit hat etwas mit dem Élan vital, mit der Leistung zu überleben zu tun, eine Leistung, die wir bestenfalls zwei Generationen im Voraus denken können. Also können wir nicht nur Gut udn Böse unterscheiden, sondern auch, was wichtig und was unwichtig ist.

Das ist die Einsicht aus Verzweiflung, die mich immer wieder neu ansetzen lässt. Viele Leser*innen dieses Blogs folgen mir mittlerweile darin, dass ich gerad,e weil es so wenige Auswege gibt, diese ganz anders nutzen möchte als in Allem alles „politisch“ zu sehen und zu denken, man könne überall anfangen.

Ein böses Beispiel nach dem andern: wenns um die Stickoxydreduzierung geht, sind mir die geschlechtergerechten Aufschriften auf Toiletten gleichgültig. Wenn es um die Zensur aus politischer Korrektheit geht, sind mir die Argumente unreifer linker Studentenvertretungen egal (Hinweis __> Recherchieren, was sich an der sog. Alice-Salomon-Hochschule mit der Entfernung eines Gedichts von Eugen Gomringer getan hat). Wenn es um die Türkei geht, gibt es keine eindeutige Lösung eines Problems, das nie offen ausdiksutiert und wahrgenommen wird (dazu schreiben und denken alle, aber kaum jemand kann mit der Ambiguität umgehen, dass und wie man mit Diktaturen umgehen sollte…), und plötzlich wird aus meinen moralischen Spaziergängen blutiger Ernst, blutig, weil Erdögan die deutschen Geisel ja bis zum Verbluten einsperrt, um damit die Auslieferung seiner Gegner aus Deutschland zu erpressen. So, und jetzt darf sich jede(r) von uns in die Lage versetzen, als Außenminister oder Kanzlerin zu agieren. Was tun? Und herauszufinden, was die Beispiele mit einander zu tun haben.

In jedem Beispiel ist immer die ganze Welt enhalten, und trotzdem hängt NICHT alles mit allem zusammen; und trotzdem muss ich in jedem Fall die Reichweite, die Konsequenzen für die Welt abschätzen, bevor ich meine Kraft erschöpfe, das Problem angemessen komplex zu lösen. Im Diesfall muss es zur Anwendung staatlicher Gewalt gegen die Autokonzerne kommen, des Strafrechts und der Inkaufnahme große Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt dieser Industrie. Das heisst auch, das Gewaltmonopol darf vor der Arbeitsplatzargumentation und Exportindustrie so wenig Halt machen wie vor der völkisch-blöden Verweigerung von Geschwindigkeitsregulierung und dem Umstieg auf die Bahn. Das hat Folgen für die gesamte Wirtschaft, vielleicht sogar langfristig gute, aber diese Gewalt muss sein.

Da wird ein Gedicht von Eugen Gomringer, einem der guten Dichter der letzten Jahrzehnte, von einer Hochschulwand entfernt,weil ein ASTA mutmasst,es könnte als geschlechterdiskriminierend empfunden werden. Für ganz Eilige: https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Gomringer . In allen Medien wird darüber berichtet. Für mich ist nicht entscheidend, dass das Gedicht Avenidas bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Reaktionen auslöst, dass man zwar keinen Kontext zur Frauenfeindlichkeit erkennen, aber wie üer konstruieren kann, sondern, dass plötzlich die sogenannte Meinung, die Empfindung verallgemeinernd politisiert wird. Aus einem Gespräch mit dem Rektor:

Teilen Sie die Ansicht des Asta, dass dieses Gedicht „wie eine Farce“ wirke und daran erinnere, „dass objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können“?

Nein, aber wir nehmen diese Rückmeldung von Studierenden sehr ernst, insbesondere dann, wenn sich Personen diskriminiert fühlen.

(http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/asta-der-alice-salomon-hochschule-will-ein-gedicht-von-der-fassade-entfernen-lassen-15172671.html)

Wenn ich mich diskriminiert „fühle“, habe ich das Recht, gleichberechtigt in die Politik einzugreifen. Wenn ich diskriminiert „bin“, lässt sich das empirisch und im Kontext bestimmen. Was aber da eine Psyche fühlt, projiziert die objektive Diskriminierung von Frauen – die ich genauso bekämpfe wie viele ander auch – in einen Gemütszustand, der alles un jedes, das einem unangenehm aufstößt zur res publica machen darf. Das ist das gegenteil von Politik und schadet natürlich den Frauen. Dass es dem ASTA nichts nütze, erfordert jetzt schon der Stellungnahme.

So, und warum gleich die Türkei oder Nordkorea in den Kontext stellen: weil das ja jetzt geschieht. Was Korea betrifft, ist die amerikanische Logik „Überwachen und Strafen“, da will ich diesmal nicht ran. Was die Türkei betrifft, ist es schwieriger: 50% alle erwachsenen Türken sind gegen Erdögan. Die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Türken sind für den fernen Diktator, a) weil sie nicht in der Türkei leben, und b) weil ihnen Deutschland nicht genug Anreize zur zivilen Integration in die Offene Gesellschaft bietet. Wir sind daran beteiligt, aber nicht „schuld“. Es gibt hier keine eindeutige Lösung des Problems, also muss es ambig gelöst werden. z.B. Wirtschaftssanktionen, NATO Suspendierungen, Aussetzen von Assoziierungsprämien usw. ABER nicht mit dem Abbruch der EU Integration drohen. Wie kommen 50% der Türken, die vernünftigere Mehrheit, dazu, in einer osmanischen Despotie zu verkommen? Wie kommen wir dazu, die Achse der Diktatoren, von Putin bis Duterte, mutwillig zu verstärken? Wenn wir nicht einmal eine Reisewarnung für knausrige Touristen wagen, wie wollen wir dann Politik machen?

Wir sollen die Gülen-Anhänger ausliefern. Gülen verhält sich zu Erdögan wie Trotzki zu Stalin. Wenn trotzki an die Macht gekommen wäre, wer weiß, ob er schlimmer oder besser regiert hätte. Ist er aber nicht. Stellen Sie sich einen blödsinnigen Spruch vor: WIR SIND ALLE GÜLEN. So aber sieht Erdögan uns, und wie bei den Moskauer Prozessen ist der Vorwurf des Gülenismus ein Ideologicum und nichts Reales, selbst wenn es millionenfache Anhänger des Gülen in USA und bei uns und in der Türkei gäbe. Auch hier finden Verwechslungen von Tatsachen mit virtuellen Realitäten, nicht unbedingt Fake-News, aber Unwirklichkeiten statt. Erdögan in der Komödie bis zum bitteren Ende?

Vorschlag: aus diesen drei Beispielen und der Vorrede keine Konsequenz ziehen als einmal konsequent die Kontexte auszuarbeiten, herauszuarbeiten, sich gescheit machen, d.h. sich kritisch auch gegenüber den eigenen Reflexen machen. Sorry, das war ein Rat. Ich breche ab….

 

 

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