Gegenwart ohne X mit Zukunft

Gegenwartsdiagnosen sind auch damit belastet, dass es nicht ganz einfach ist, zu sagen was JETZT ist. Das hat vor 120 Jahren die Philosophie erschüttert – über den Ersten Weltkrieg hinaus – und es erschüttert uns – sind wir schon im Dritten Weltkrieg? Und was ist jenseits desselben?

Meine Leser*innen wissen, dass ich kein Kulturpessimist bin. Ich bin auch kein politischer Optimist und glaube nicht ans rettende Ufer, weil ich überhaupt nicht glaube. Aber ebenso klar ist, dass wir uns nicht in fernöstlichen Gleich=Gültigkeit des immer wiederkehrenden Weltgeschehens befinden, aus dessen Schattseite wir wieder einmal auftauchen, wenn nicht wir, dann unsere Enkel oder so. „Die Enkel fechtens aus“, den Ruf kennen wir zur Genüge, ich sage dazu: wenn sie es noch erleben, oder deren Enkel das noch erleben, was es fortzusetzen gilt. Darum überhaupt dieser Blog: Zukunft MUSS nicht sein.

Es gibt eine gefühlte Gegenwart, in der vieles zerstört wird: die Demokratie und die Umwelt in Amerika, die Demokratie in Russland und China (wenn es sie je dort gegeben hat), die demokratischen Grundlagen all der europäischen Länder, die bislang gefestigt demokratisch waren und in denen jetzt Nazis mitregieren, zuletzt Österreich, davor die bekannte lange Liste. Und auf anderen Kontinenten sieht es nicht ungleich viel besser aus. Also doch ein Abstieg? Was ich seit Jahren, angelehnt an Pascal Bruckner, Fatigue de democracie, nenne, das ist der Status, den die Nazis am besten ausnutzen können.  Und dass es Nazis sind und wir eine Periode nazistischer und faschistischer Mitregierung eintreten, steht für mich außer Frage. Wie denn auch nicht? Gerade dass die Brandstifter durch Wahlen demokratisch legitimiert sind, und man ihnen die Rechte gewähren muss, die sie selbst bei Machtergreifung abschaffen oder verzerren wollen, ist das Risiko, das wir bei Einverständnis mit der Demokratie eingehen. Die Gefahr liegt in diesem Fall bei uns, dass wir den Brandstiftern gestattet haben, uns zu Biedermännern zu degradieren. Unter anderem dadurch, dass wir die Nazis normalisieren, indem wir sagen, sie seien aus demokratischen Wahlen hervorgegangen. Wir sagen das, aber wir meinen, wir hätten es nicht verhindern können, und das bestreite ich.

So, wie es dumm ist, Trump für dumm zu erklären – auch Wahnsinnige können klug sein und eine hohe partielle Intelligenz besitzen, so wie es falsch ist, die Gründe für Erdögans Tyrannei mit den Anlässen zu verwechseln, so wie es kurzsichtig ist, Fehler mit Spätfolgen des eigenen Lagers gegenüber der Kritik an den eingetretenen Ergebnisse (also Spätfolgen + falsche Politik von anderen Kräften) zu verdrängen oder zu leugnen (Russland, Ukraine, Syrien, Palästina etc.), so ist es falsch, das Ergebnis von Wahlen als demokratisch legitimiert und legal anzuerkennen, die Konstitution der unpolitischen Wahlpersonen aber einfach als illegitim oder verblendet oder dumm oder…zu bezeichnen, ohne UNS dabei im Spiel zu sehen.

Das gilt nicht nur für die politische Engführung innerhalb eines Nationalstaates und einer (?) nationalen Kultur oder Ethnie oder Religion oder Mehrheit, das gilt global und bis hinunter zu lokalen gesellschaftlichen Einheiten.

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Die menschliche Gattung MUSS nicht weiterbestehen. Sie KANN unter bestimmten, klaren aber engen Voraussetzungen für einen relativ kurzen Zeitraum, ein paar Jahrhunderte, vielleicht weniger, bei Atomkrieg noch weniger, bei guter Klimapolitik vielleicht länger. Sie SOLL jedenfalls nicht unter Maßgabe einer außermenschlichen außerweltlichen Norm.

Das KANN ist, philosophisch gesprochen, die Hoffnung; das WIRD ist die kalkulierte Wahrscheinlichkeitsrechnung, auf der Zuversicht beruht. Die Demokratie ist eine Praxis, die die Wahrscheinlichkeit erhöht und einige Hoffnungen einlöst, andere aber kaum berührt.

Gegenwart heißt – hochkomplex und schwierig – Versöhnung mit einer Wirklichkeit, an der wir nur teilweise schuldig sind, die wir nur teilweise gewollt haben, die wir nur teilweise kennen und wissen, deren Möglichkeiten und Potenziale wir nur teilweise absehen oder vorstellen können. Diese Form der Teilhabe ist ungewohnt, wir neigen zu ozeanischen Absolutheiten – daran sind wir schuld, daran nicht, das wissen wir, jenes nicht usw. Gegenwart heißt auch, dass wir uns damit abfinden müssen, die Zukunft des Überlebens unserer Kinder und Enkel nicht sehr weitreichend mitbestimmen zu können, jenseits der Enkel noch weniger, und bald dahinter gar nicht mehr. Wenn Tyrannen wie Trump den Prozess der Vernichtung beschleunigen, erweitert das die Legitimität des Widerstands, aber auch die Einsicht in die irreversiblen Eingriffe in das Überleben, und da ist natürlich der amerikanische Verrückte nicht besser als die Glyphosattyrannis oder die Arbeitsplatztrottel der Kohleverstromung. ZU EINFACH? Gerade nicht.  Die Beispiele wähle ich nicht willkürlich, weil sie zeigen, wo man sofort und wirkungsvoll etwas TUN KANN. Genauso wie man unsere Außengrenzen für Flüchtlinge öffnen, für Mitglieder der NRA (National Rifle Organization) oder des Ku Klux Clan oder des FSB etc. schließen KANN. Das sollen wir tun, und es nicht dem Mittelmaß (à Blogs davor) überlassen.

Ich wiederhole mich: DAS  sollen wir tun und nicht ein Apfelbäumchen pflanzen fürs ewige Leben als Abzeichen.

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Noch einmal zum Dritten Weltkrieg: Der Philosoph Hans Ebeling hat in einer, zugegeben sehr schwer les- und verstehbaren, aber grandios eindeutigen Weise, diesen Krieg so beschrieben, dass er „gar nicht zu geschehen braucht, um ganz ins Bewußtsein als Sebstbewußtsein der Gattung zu treten“ (Vernunft und Wiederstand, 1986, 54). Es geht letztlich um den „Holozid“; dass wir töten können, wissen wir, aber dass uns ein Parameter gegeben ist, einer „der eigentlichen Kapazität, dass nicht allein bestimmte und begrenzte Gegnerschaften für jede Seite tödlich enden können, sondern alle Existenz polemisch beendet wird“ (S. 57). Man muss kein (Existenz)philosoph sein, um zu verstehen, worum es da geht: Die à Time of Useful Consciousness, die ich schon mehrfach erwähnt habe, muss eingesetzt werden, damit dieser Holozid abgewendet, d.h. weit aufgeschoben werden kann. Deshalb brauchen wir die vita activa, die öffentliche und widerständige Politik, das Auflehnen gegen das Mittelmaß gelassenen Abwartens. Unsere Enkel werdens nicht weiter ausfechten können, als wir sie heute lassen.

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Ich schreibe das gegen die vergeblichen Bemühungen, auf ein Programm noch eines zu setzen, ein besseres, das nicht zugleich theoretische Praxis ist und praktische Politik. Demnächst wieder konkret.

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