Meuchel. Lüge. Zufall

Ich gieße Öl ins Feuer. Ja, angesichts des Mordes an einem Jungen am Frankfurter Bahnhof muss man „besonnen“ reagieren. Die wüsten Tiraden der Nazis von der AfD, Frau Weidel an der Spitze, instrumentalisieren diesen Vorfall, um von ihrer Gewaltsaat abzulenken. Seehofer reagiert besonnen, zugleich wurden heute wieder 45 Afghanen abgeschoben in ein Land, das täglich unsicherer wird – die Innenpolitik lenkt von den globalen Tötungspotenzialen schlechter Sicherheits-Politik ab. Die Tatsache, dass der Täter von Frankfurt – er ist ein Täter – nach vorbildlicher Integration ein Fall für die Psychiatrie war und ist, hat die Debatte um die Schuldfähigkeit von psychopathologisch affizierten Menschen wieder in Gang gesetzt. (Dazu lesenswert: Johannes Käppner in der SZ: Interview mit Dr. Freisleder, Psychiater: „Die große Mehrheit der Gewalttäter ist schuldfähig“ (31.7.2019, 4). Die Diskussion  ist richtig (und, werte Blog-LeserInnen, ich sage ja auch, dass Trump schuldfähig ist…), und sie wird wieder ausgenutzt werden – nicht nur von den Rechten, auch von den Hetzern in der Strafjustiz, deren einziges Motiv „Verschärfung“ ist (Glaubt einer von diesen Leuten wirklich, mit mehr Videokameras, Polizeischülern und Zäunen auch nur ein Verbrechen dieser Art verhindern zu können?).

Zurück von Seehofer. Janusköpfig ist der alternde Deportationsminister geworden. Endlich darf er seine menschliche Seite zeigen, während 45 Menschen in ein potenziell lebensbedrohliches Weiterleben deportiert werden.

Ich gieße Öl ins Feuer, dadurch, dass ich mich für keine Rache- oder Vergeltungsaktion ausspreche, dass ich den Gewaltpredigern allerdings auch das Recht auf Verbreitung ihrer Botschaften abspreche. Um es klar zu sagen, nicht nur der AfD.

Seehofer hat zutreffend angemerkt, dass die Bevölkerung in der Sicherheitslage angespannt sei. Die Kriminalität gehe zurück, aber die Bevölkerung fürchtet sich. Sollen sie sich fürchten, handeln dürfen sie dennoch nicht, als lebten sie im rechtsfreien Raum. Zum brennbaren Öl gehört der Begriff „Pöbel“. Wenn ich sage, soll der Pöbel doch so viel Angst haben wie er sich abgehängt fühlt, ist das nicht die feine Art. In einem Rundfunkbericht vom Wahlkampf in Cottbus habe ich Interviews gehört, die einem den Magen umdrehen.  Kein Unterschied zum Trumpschen Wahlkampf.

Aber nicht nur der Pöbel ist untrennbar an die Lüge gekettet, in gewissem Sinn sind wir das auch. Es geht nicht um die Fakenews allein. Bleiben wir bei der obigen Überlegung über die Schuldfähigkeit des Pathologischen: so einfach wird das sogenannte Böse nicht sozialisiert (Der Nazi und Nobelpreisträger Konrad Lorenz hat sich daran mit Massenauflage versucht, und das Böser ist das Instrument aller Jenseitsreligionen, aber wir können es ja auch einmal mit der Vernunft versuchen). Schuld wird aus einem kulturellen und sozialen Zusammenhang so konstruiert, dass bestimmte Werte und Verhaltensregeln die Bevölkerung schützen, sie nicht zum Pöbel werden lassen. Pöbel definiere ich zunächst sanft: das sind die Leute, die mit den Brandstiftern kooperieren, weil sie ihnen die Feuerlöschabsicht glauben. Und weil sie denken, wenn sie denken, dass die Situation ihnen schon die richtige Reaktion diktiert. Und wir: wir belügen und andere immer dort, wo wir fordern, wovon wir wissen, dass es nicht zur Gänze umsetzbar ist. „Zur Gänze“, das ist wichtig. Wir fordern „offene Grenzen“, und wissen, dass im derzeitigen nationalen Kontext Grenzen immer nur weiter oder enger geöffnet sein können und es uns nicht so sehr betrifft. Wir fordern Sicherheit für alle, schließlich hat der Staat das Gewaltmonopol, und wissen doch, dass es sie nicht geben kann außer im Gewahrsam von allen Menschen (die Sicherheitsorgane sperren sich selber ein, damit wir vor ihnen sicher sind); wir fordern  soviel, was sich nach dem halb-irren Spruch „Jeder nach seinen Bedürfnissen“ in „Alle nach ihren Bedürfnissen“ umtexten lässt (darin ist übrigens nicht nur die AfD stark).

Meine Gedanken sind nicht einfach empathisch bei den in letzter Zeit aus politischen Gründen auch bei uns Getöteten, nicht einfach bei den Mordopfern aus sexuellen und monetären Motiven. Empathisch hieße, ich setze mich an ihre Stelle. Das hieße auch, dass ich mir vorstelle, zufällig würde es auch mich treffen. Bei politischen Morden ist da oft kaum Zufall im Spiel, bei anderen Taten häufiger. Aber wir müssen klar sehen, dass wir uns nicht leicht in die Situation der Mordopfer versetzen können. Was wir aber können, ist das Umfeld dieser Taten, die „Triggers“, die Anreize, die Ent-Gesellschaftlichungen (Entsolidarisierung), die Macht des Jetzt über die Folgen…genauer bedenken, bevor wir urteilen.

*

Das Öl, von dem ich spreche, ist leicht entzündlich. Es kann auch Schmerzen der Ohnmacht, der Unfähigkeit zu handeln, lindern. Wir sollten überlegen, was es bedeutete, wenn wir alle Urteile über die schrecklichen einzelnen Ereignisse und Taten so durchdenken, dass sie politisch fassbar werden. Und dann handeln.

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