Der 9. November ist vorbei. Ich empfinde eine gewisse Erleichterung, und, im Anschluss an meinen letzten Blog zum Thema, auch ein Bedürfnis, mit dieser Ambiguität des Datums weiter zu leben. Das hat mich lange verfolgt.1996 habe ich in einem Schulbuch einen Essay beigetragen: Schicksalstage in der Geschichte werden gemacht: (Daxner 1996). Ein Leitmotiv übertrage ich: die übersetzte Gedichtzeile des Mordechaj Gebirtig (1977-1942):“..Und ihr steht und schaut zu mit verschränkten Händen“. Gestern und vorgestern waren die Medien voll von Berichten über Veranstaltungen, über Aufrufe, Erinnerungen, glückselige Momente, gute Reden (Kanzlerin, Marianne Birthler,, Steinmeyer etc.) und allen Arten von Erinnerungskultur….30 Jahre zu 1989. (für mich wirklich erschreckend, wie nahe 1968 („Wir“) zu 1945 war, und 1938-1968 sind auch 30 Jahre.
Für mich war 1968 oder Willi Brandt das Ende der Nachkriegszeit, nicht1989. Das Glück des Mauerfalls sollte nicht lange anhalten, vor allem weil es nicht übertragbar war auf die, die kein Glück empfanden, wenn sie die Gesichter derer sahen, die sich an diesem Abend in die Arme fielen. Nicht nur in der DDR hatten vieler Menschen (ob Mehrheit oder nicht) verlernt, Befreiung als Schritt in die Freiheit zu begreifen, das war auch im Westen so (ob Mehrheit oder nicht). Für alle, die den Systemwechsel als solchen hinnahmen, von einer Sicherheit in die nächste, oder von einer Form abgegebener Selbstständigkeit in die andere, war das Glück von kurzer Dauer. Ich rede von an den Anderen (Mehrheit oder nicht? Wahrscheinlich bis heute eine Mehrheit im Osten und im Westen). Ich spreche vom Glück des „Gut Gelungenen“. (Ein zentraler Begriff des großen Utopie-Philosophen seit dem Geist der Utopie 1918). Da haben Menschen einmal gemacht, was sie glücklich macht. Hätte „man“ ihnen nur dieses Glückgebracht, wäre es anders gekommen. Aber ganz ohne die Anderen ging es auch nicht, deshalb hat sich viel von diesem Glück übertragen, auf diese Anderen. Nicht nur uns, auch Menschen in anderen Ländern, die an der Vorbereitung und den Umständen mitgewirkt hatten…
Man konnte also nicht mit verschränkten Händen zuschauen, weder 1938 noch 1989; nicht beim unfassbaren Unglück, noch beim fasslichen Glück. Der schrecklich tiefe Satz von Goethe doch, „verweile doch, du bist so schön…“ gilt eben nicht für das Schöne, sondern nur für das Schreckliche, das immer zu lange dauert. Immer. Dass die Freiheit nicht automatisch aus der Befreiung folgt, ist so deutlich und wahrscheinlich wie kaum anderes, aber das macht die Befreiung nichts schal oder gar wertlos. Das war gestern ein Bestandteil einer Erinnerungskultur, die man in Erinnerung an den 30. Geburtstag durchaus so bewahren kann, 2019 ist wenisgtens für uns besser als vor 1989. Die Weltbürger bedenken das Umfeld des Deutschlands von heute, und dann stehen wir weiterhin eher auf gutem, wenn auch nicht gesichertem Terrain. Für Bloch ist die Heimat vollendete Demokratie, nicht stammesgeschichtliche Reduktion, wie bei den neuen alten Nazis und Identitären.
Aber dann gab es ein anderes Gestern. Der eigene Standort ist ja sich selbst gegenüber blind: ich schaue auf die Welt und sehe mich nicht gleich darin. Rund um uns, und wahrscheinlich mehr in uns als uns lieb ist,, kommt die Bedrohung. Freiheit gegen Sicherheit eintauschen – das fängt nicht bei der NATO an, sondern bei Seehofer und seinen Schreibtischtätern), das Einfamilienhaus nicht gegen Solidarität eintauschen, schon gar nicht die Lebensumstände gegen das Ungesicherte. Wer an das Rettende glaubt, das bei höchster Gefahr erscheint, soll sich das Ersticken seiner Enkel im Klimawandel vorstellen (der wird ja längst tot sein, wenn das geschieht), und wissen, dass es kein Rettendes aus sich heraus gibt. Wer meint, den Frieden zu bewahren, in dem Heckler&Koch, Krauss-Maffei und andere Tötungsfabriken den jeweiligen Verbündeten aufrüsten, wird seine eigenen Bomben auf den Kopf bekommen (AKK spielt nicht mit dem Feuer, sie ist eine Funzel). Andererseits ist das nicht notwendig pazifistisch, sondern nur darauf ausgerichtet, seine eigene Freiheit an die von anderen zu binden, nicht an deren Unfreiheit. Dazu braucht man Politik. Ich fühle mich tatsächlich bedroht, nicht um meines Lebens willen, sondern um dessen begrenzte Aussichten und den Vorstellungen, was dann hier folgt, für Kinder, Enkel, Urenkel: immer wieder der Augenblick, der aus seinem „Dunkel“ (Bloch) ausbricht und bei der geöffneten Mauer so etwas wie Zukunft verspürt, wo sie noch nicht eingetreten ist. Das war auch das Bewusstsein all derer, die vor dem Mauerfall demonstriert hatten, die in den sozialistischen Nachbarländern sich aufgewärmt hatten für den Ernstfall, die Gefahren kommen sehen konnten, und mit der Bedrohung so etwas wie ein zweites Leben im ersten führen mussten. Dreh den Satz von Hölderlin um: wo man das Rettende anstrebt, wächst die Gefahr auch… zeitgemäße Risikoabschätzung ist zu wenig.
Wenn wir Politik machen, um Finis terrae abzuwenden (Klima+Weltkrieg), so machen wir doch auch Politik in dem Umfeld, in dem zwar die Gefahren wachsen, aber konkret sind; obwohl es um die ganze Welt geht, geht es doch auch um den Rahmen, der unser Leben zusammenhält, um das hier: Now here, nicht nowhere.
Und dann höre ich, wenn die Menschen berichten von den Tagen, Wochen und Jahren vor dem 9. November.
Mein Vater war unmittelbar danach durch etliche Länder zum Schwarzen Meer geflohen, um von Costanza Palästina zu erreichen, um erstmal im Gefängnis der Engländer zu landen. Und bald daruf mit ihnen gegen Hitler zu kämpfen. Das war nach dem 9. November.
Heute sehen viele zurück auf den 9. November und analysieren, was wer alles falsch gemacht hatte, danach. Richtig meistens, manchmal blödsinnig falsch. Aber die meisten haben ihr eigens und das Gesicht vieler anderer vor sich, den endlosen Augenblick zu bewahren. Die neuen Zeitzeugen haben schon 30 Jahre hinter sich, diesen Augenblick wachzuhalten, wohl wissend, dass auch er Vergangenheit wird, wie der 9. November 1938, wie der 9. November 1918 (der nur 20 Jahre brauchte, um zu vergehen; eigentlich nur 15…). Aber die Vergangenheit dieses letzten Augenblicks 1989 sollte nicht genauso vergehen, sondern auch eine andere Geschichte repräsentieren, verkörpern, und heute sind wir noch nah genug daran, das Gut Gelungene weiter leben zu lassen (Pathos) bzw. die Ärgernisse der Vergangenheit in einem anderen Museum aufzubewahren als das Lachen des durchbrechenden Augenblicks (Ironie).
Die Gefahren wachsen zur Zeit, schnell und unkontrolliert. Das wird uns noch zu schaffen machen, deshalb wäre es falsch, sich resigniert auch noch schwächen und Rettung zu erwarten, wo sie noch nicht gerüstet ist.
Daxner, M. (1996). Schicksalstage in der Geschichte werden gemacht – Der 9. November. Geschichtsbuch Oberstufe. H. Günther-Arndt. Berlin, Cornelsen: 354-357.