Orthodox und Unorthodox

UNORTHODOX ist ein vieldiskutierter Film. Einige Rezensionen sind überaus positiv, einige kritisch. Eine, von Alan Posener, habe ich mir herausgesucht, weil sie exemplarisch einige Probleme aufzeigt, die uns hier in Deutschland wirklich beschweren: wachsender Antisemitismus, der sich in vielen Punkten vom allgemeinen Rassismus unterscheidet, aber auch vom Antiislamismus; das Problem, Kunst anders zu reflektieren als Dokumentation oder Reportage; das Problem, mit jüdischen Themen exemplarisch anders umzugehen als mit anderen – sowohl was coming of age als auch ethnokulturelle Differenzen betrifft. Und dann Berlin…Vor vielen Jahren sagte Ignaz Bubis zu mir, anlässlich der Einführung Jüdischer Studien an der Universität Oldenburg: was sollen wir 100.000 eigentlich beanspruchen, es gibt 3 Millionen Türken (das war vor über 20 Jahren), wir sollten bescheiden sein, wenn wir etwas für uns fordern, aber wir sollten es für alle Menschen fordern.

Und Berlin…ist es die leichtlebige Metropole, die manche sehen wollen, oder ein neuer Schmelztiegel, der alles hat, was Multikultur braucht?

Und heute: nicht alle jüdischen Probleme, mehr als genug gibt es ja, lassen sich linear oder kausal mit und aus der Shoah erklären, religiös oder säkular.

Antisemitismus oder Ambiguität

Alan Posener hat seine Verdienste als konfliktfähiger Publizist, er ist keiner, der von den prekären Rändern aus ein Cliché bis zum Überdruss bedient. Sein Artikel in der WELT vom 3.4.2020 ist zu ambig, als dass man ihn mit einer Gegenrezension außer Kraft setzen könnte. Dennoch halte ich ihn für fatal. Mein Vorwurf: die Antisemitismus-Keule wird aus jüdischer Feder gerade nicht gegen die Antisemiten geschwungen, sondern gegen die teilweise noch lange nicht aufgearbeitete Geschichte  der Überlebenden der Shoa, inclusive „Survivors‘ Guilt“, teilweise gegen die seltsame Vermengung von Ritual und Folklore bei den Gruppen, die wir zu Recht Ultra-Orthodox nennen und bei manchen Orthodoxen. Es geht um den Film „Unorthodox“ bei Netflix, jiddisch, m.U.

OriginaltitelUnorthodox
ProduktionslandDeutschland
OriginalspracheJiddisch, Englisch, Deutsch
Jahr2020
Länge53–55 Minuten
Episoden4
GenreDrama
RegieMaria Schrader
IdeeDeborah Feldman
DrehbuchAnna Winger,
Alexa Karolinski
ProduktionAlexa Karolinski
MusikAntonio Gambale
KameraWolfgang Thaler
SchnittHansjörg Weißbrich,
Gesa Jäger
Erstveröffentlichung26. März 2020 auf Netflix

Posener fasst die Geschichte perfekt zusammen: „Es geht um die Selbstbefreiung einer jungen Jüdin aus ihrer ultraorthodoxen Community.“  Schon dazu müsste man sofort einige Informationen geben, um das wichtige Wort Selbstbefreiung zu verstehen:  Esther (Esty) ist 19, als das geschieht, und sie flieht nicht „aus ihrer Heimat New York in die multikulturelle Weltstadt Berlin“, sondern sie flieht aus der Satmarer Gemeinde in Williamsburg in New York – Noch hat New York, was Multikulturalität und Weltläufigkeit einen kleinen Vorsprung vor Berlin, aber sei’s drum. Und was die Satmarer betrifft, muss man schon ihre Besonderheit innerhalb der ultra-orthodoxen Communities (von Posener gut gesetzter Begriff) genauer kennen.

Auch wenn wikipedia nicht meine Grundlage ist, ist der Artikel wichtig, auch was die zahlenmäßige Übersicht über die Sekte betrifft und einen Hinweis des von Posener ausdrücklich gewürdigten Hannes Stein: https://de.wikipedia.org/wiki/Satmar (6.4.2020) und Hannes Stein: Die Parallelwelt der ultrafrommen Kinderschänder. Die Welt, 14. November 2014.

Natürlich sollte man die Quellen,  vor allem Deborah Feldmans originale autobiographische Bücher, v.a. Unorthodox. Eine autobiografische Erzählung. Secession Verlag für Literatur, Berlin 2016, ISBN 978-3-905951-79-0. kennen: hier wird nicht 1:1 gefilmt und verarbeitet. Auch kommentiere ich ausdrücklich nicht die ersten zehn Verweise beim Aufruf von „Satmar“ bei Google – überreichliche Literaturhinweise bis in die heutigen Tage  (bis auf eine Meldung: 26.03.2020 – Anhänger der Satmarer Sekte in New York verletzten Corona-Regeln – die Angst vor Antisemitismus wächst, von Daniel Killy: https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/ignoranten-und-suendenboecke/ (6.4.2020). Genug der Einleitung. Ich habe fünf Kritikpunkte an Alan Poseners Artikel anzubringen, und dann eine Betrachtung zum Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs.

  1. Die Eingangsmetapher – eine muslimische statt der jüdischen Parallelgesellschaft – ist eine missglückte Parodie, wenn Aisha aus Berlin nach New York flieht (nicht nach Williamsburg…), und zwar, weil die Rahmenbedingungen nicht übertragbar sind. Zu Recht verweist Posener darauf, dass bis jetzt die ultraorthodoxen jüdischen Gruppen in New York mehr Freiheitsraum gehabt haben als in Berlin,  aber die Verhältnisse zwischen den respektiven Umgebungen und verschiedenen muslimischen Gruppierungen (und deren Konflikte untereinander und mit der deutschen Umgebungskultur) sind weder religions-soziologisch noch migrationstheoretisch zu vergleichen. Sei’s drum…was er meint ist klar: dass wir mit der analogen Geschichte der  muslimischen Aisha anders umgehen würden als mit der jüdischen Esty) – aber ob dies „anders“ den Vorwurf des antimuslimischen Rassismus auf sich ziehen würde, bezweifle ich – außer bei bestimmten ideologischen Gruppen, die gerade nicht differenzieren: siehe mein Résumé.
  2. Eine tatsächlich irre Szene: die Berliner Freundesgruppe, grad einmal konstituiert, geht zum Wannsee schwimmen.  Esty geht fast voll bekleidet ins Wasser und entledigt sich dort ihres Sheitls, der Perücke (zur ersten Information: https://www.gra.ch/bildung/gra-glossar/begriffe/judentum/juedische-kopfbedeckungen-inkl-kippa-und-sheitl/ (6.4.2020).  Posener kritisiert, dass einer der jungen Männer aus der Gruppe Esty auf das gegenüber liegende Haus der Wannseekonferenz hinweist.  Ich interpretiere das so: er wollte der jungen Jüdin sein Wissen und seine Sensibilität beweisen,  aber nicht eine politische Aussage machen, wie sich junge Berliner gegenüber ihren jüdischen Gesprächspartnerinnen verhalten sollen. Mein Eindruck: Esty wusste nicht, worum es sich handelt. Und hätte der Junge nicht ins Wasser springen sollen?
  3. Posener behauptet, dass „es für jede Esty, die nach Berlin kommt, fünf Jüdinnen und Juden gibt, die aus Europa nach  Israel oder Amerika fliehen, weil sie sich hier bedroht fühlen“. Das ist mehr als Chuzpe. „nach Berlin“, aber „aus Europa“ sind zwei ganz verschiedene Sachen.  Die Einwanderungsbilanz nach Berlin ist eindeutig positiv. In einigen von mir betreuten Arbeiten und aus meinem Umfeld weiß ich mit Bestimmtheit, dass die Gründe, nach Berlin zu kommen sehr vielfältig und teilweise kontrovers sind (es gibt auch religiöse Begründungen, aber auch solche, dem religiösen Umfeld zu entkommen, und es gibt eine Attraktivität, die mit Religion nichts, aber mit dem kultivierten urbanen Raum viel zu tun hat) – und nur „Wir haben es so herrlich weit gebracht, dass nun die Juden vor ihresgleichen bei uns Schutz suchen“. Ja, Alan Posener, das gilt für etliche Muslime/innen auch, und ja, das ist ein anderes Deutschland als die bleiche Mutter. Das kennen die Jungen oft so wenig wie die Wannseevilla – Historisierung ist keine Erfindung der Antisemiten.
  4. Fördert denn der jüdische Miethai den Antisemitismus? Ist der Cousin mit Pistole und Bordell-Connections auch ein Verfestiger der Clichés? So ein Unsinn. Warum sollen wir jüdischen Menschen nicht genauso vielfältig und ausdifferenzieren wie Christen oder Muslime oder – die gibt’s auch – Menschen ohne Religion? Ich denke, Netanjahu, Shaked, Liebermann, Bennett u.a. befördern, wenn man hierzulande zur Kenntnis nimmt, was sie tun, den Antisemitismus weit mehr. Und wenn Clichés befestigt werden, dann muss man wohl ihre Grundlagen bloßlegen und dekonstruieren – meine beste These dazu ist:“ Der Antisemitismus macht Juden“ (Daxner 2007).
  5. Der wichtigste Punkt, sich mit Posener auseinanderzusetzen ist aber sein Hinweis auf die Said-Barenboim-Akademie. Zunächst: Barenboim ist nicht Said. Dann: auch ich habe starke Vorbehalte und Kritik gegenüber Said, aber der war nicht einfach nur Israel-Hasser, sondern ein fast prekärer, aber vielfältiger Wissenschaftler. Das aus dem Kontext genommene Said Zitat über die Religion des Islam, die den Mord an Juden erlaube, kann man auch so lesen, dass alle Religionen – die jüdische inbegriffen – extreme Auslegungen erfahren (haben), die genau dies erlauben, immer mit einem Deus lo vult versehen, Gott will es. Jedenfalls übersteigt das die Geschichte von Esty und ihre Umgebung um eine Dimension, die weder im Buch noch in der Serie so zu finden sind, dass z.B. die Beziehung zu Israel (und damit zur komplizierten Barenboim-Verbindung dahin) thematisch werden sollte. Wenn Posener das will, kann man das sicher machen, ich bin dabei, aber dann nicht mit der Geschichte von Esty verquirreln, noch etwa den jüdischen Miethai mit dem Ergebnis der Klavierstunden…(die spielen für Estys Emanzipation ja doch eine Rolle).

Coda: Als deutsch-österreichischer jüdischer Kosmopolit  habe ich mich mehr 50 Jahre lang mit dem Thema Antisemitismus persönlich, familiär und wissenschaftlich auseinandergesetzt, wobei letzteres oft mit den persönlichen Gefühlen und Assoziationen kollidiert.  Es geht mir dabei immer um beides – um Religionskritik und um die soziale Konstellation im Judentum nach der Shoah. Religionskritik setzt Achtung nicht außer Kraft, und die Rituale sind nicht Folklore. Auch nicht bei den Satmarern. Aber die haben z.B. weder halachisch noch säkular das Recht, sich über die Grundrechte von Frauen und Kindern hinwegzusetzen, und Moishes Nebensatz von den „Zwei Thoras“  verweist eben auf das Dilemma aller dogmatischen Religion. Dass sie in den USA, und auch anderswo sich zu einer verbreiteten chassidischen Sekte entwickeln konnten, hängt mit dem Phänomen zusammen, dass zentrifugale Kräfte pluraler Religionen immer auch, auch!, eine Drift zu den Extremen begünstigen.

Die Wiederbelebung der Satmarer nach dem Krieg und also nach der Shoah ist ein ganz schwerwiegendes Problem. Die Shoah als Strafe (eines) Gottes für den säkularen Lebenswandel davor ist kein neuer, aber ein blasphemischer Gedanke für die, die glauben, und ein kontrafaktisches Argument für die, die nicht glauben. Da aber die, die aus der Shoah gerettet wurden oder sich gerettet haben, nicht mit dem Maß zu messen sind, wie die jüdischen Überlebenden, die sozusagen neben der Shoah, unter wie schwierigen Bedingungen auch immer, überlebt haben, fällt hier ein Urteil über die ersten beiden Generationen Satmarer schwer. Aber wie ist es danach, jetzt? Dazu sollte man sich die Diskussion nach dem Abspann, u.a. mit Deborah Feldman und Anna Winger anschauen.

Der Film verstärkt weder den real existierenden Antisemitismus noch die spöttische Betrachtung der Satmarer von Außen. Er verweist darauf, dass die Grundrechte auch dort geschützt werden müssen, wo die Religionsfreiheit eigentlich schon zu Ende ist. Das ist ja bei uns auch der Fall. Nur kann Grundrechte nur in Anspruch nehmen, wer sich an sie selbst gebunden fühlt – Ultraorthodoxe aller Konfessionen, hört.

Zu Posener: ein Versuch, Wert durchdacht zu werden; auch Wert kritisiert zu werden.

Frohe Ostern, Chag sameach Pessach

  • Daxner, M. (2007). Der Antisemitismus macht Juden. Hamburg, merus.

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