Wien weint anders…

Nicht zufällig bin ich gerade in Wien, zwei Projekte führen mich für eine Woche her, und ich leide darunter, dass mir kaum Zeit bleibt, die Menschen auch nur anzurufen, die mich mit dieser Stadt noch, wieder, seit damals verbinden; nicht erst neuerdings. Kein Gejammer allerdings, ein paar Besuche sind möglich, und ein langer Weg von Freunden zu meinem Domizil beim Freund und Forschungspartner. Anders als bei der letzten Parisreise sehe ich in Wien fast alles von Außen, und die Erinnerung muss dichtes Gewebe von Vergessen und Verschieben durchbrechen, um dann wie gegenwärtig zu erscheinen. Straßennamen, unzählige, drücken mir die Hand und erinnern mich daran, was hier, oder auf dem Weg oder von jemandem an dieser oder jener Ecke sich ereignet hatte oder gerade nicht, wenn es doch erhofft war…nichts davon heute. Schnee liegt, wenig Schnee, es ist kalt, nicht sehr kalt, der Himmel ist klar, die Restaurants und Cafés sind geschlossen, nur die take aways und Dönerbuden und Weihnachtshütten sind offen, womit man eine ethnische Vielfalt in Augenschein nehmen kann, die sonst nur in bestimmten Gebieten anzutreffen ist, jetzt anscheinend eine Mehrheit: bei einem Flüchtlingsfeind als neuem Bundeskanzler und einem Dollfuss-Wiederbeleber als neuem Innenminister und dem CoVid-Genesenen Anführer der Nazipartei als Anführer großer Demonstrationen…von all dem bekommt man in der großen Stadt nichts mit, wenn man nur von der Senke des 6. Bezirks am Wienfluss durch den leicht ansteigenden 5. Bezirk (Margareten) zum Gürtel hochgeht, und von dort steiler ansteigend den Schüsselrand der Großstadt bergauf nach Hause läuft: Längst sind die bürgerlichen Mietshäuser durch die Gemeindewohnungen und Genossenschaftsblöcke ersetzt, früher war der 10. Bezirk wirklich rot, heute schweigen wir darüber, und die vielen Ausländer sind daran nicht schuld, dass sich das alte, das rechte Österreich im linken, im besseren Wien ausbreitet wie eine neue Variante politischer Infektion. Wie gesagt, in dieser einen Stunde 6-5-10 habe ich von Politik wenig mitbekommen, kaum Sprays und Plakate, aber mehr Einzelhandelsgeschäfte auf diesen drei Kilometern als in ganzen deutschen Großstädten, und mehr Einblicke in das, was „urban“ heissen kann, im Alltag als in Berlin (Außerdem wird eine neue U-Bahn gebaut, heute….). Ich muss also bei den Abendnachrichten die Politik nachholen, kommentieren mag ich sie so wenig wie die deutsche, in langsamen Wellen bricht sie sich am Sandstrand der schnellen Vergänglichkeit; wenn mich nicht nur dauernd die Mails aus Deutschland für die afghanischen Flüchtlinge erreichten, wo immer ich gehe. Es sind die Fliegen der Tragödie, wenn ihr wisst, was ich meine.

Das müsste ich nicht im Blog berichten, wenn nicht die Wirklichkeit die Nostalgie des Wieners erodieren ließe (ich bin ja einer der wenigen Wiener, die wirklich hier geboren wurden; schon die Umstände dieses Zufalls binden mich an diese Stadt). Also mache ich heute früh einen PCR Test, weil ich morgen einen Krankenbesuch im Haus der Barmherzigkeit machen will: Man registriert sich (mehr Umsicht und Datenschutz, nichts für Analphabeten, schade), folgt der Gebrauchsanweisung, vom Gurgeln ins Röhrchen, von da ins größere Gläschen, verschließen, codieren, abgeben, und sechs Stunden später sind alle Befunde im Mail, wehe dem, der kein Handy hat, da wird es zwar auch möglich, aber komplizierter. O schönes negativ, aber ab morgen wird „gelockert“…

Natürlich frage ich nach den alten Bekannten, die am Anfang meines beruflichen Werdegangs standen, der mich ja aus der Uni Wien herausgelöst hatte, bevor andere noch sich entscheiden konnten für oder gegen Wissenschaft oder Lehramt. Die mich damals dirigierten, sind alle um die 85 oder gar älter, und die gleichaltrig Gedachten sind zehn Jahre jünger als ich und bereiten sich auf die Pension vor. Viele der Wohnviertel, Caféhäuser, Treffpunkte verbinde ich nicht mit diesen Menschen, sondern umgekehrt: plastisch treten Orte und Ereignisse vor mein Gedächtnis, und die Personen, die einen so verschwunden wie die andren, nur wenig Schwankungen in den Emotionen, keine Zeit für den Realismus der Vergangenheit, eher für die Abstraktion. Nur vergessen sich die meisten Namen nicht so massiv wie die jüngst abgelegten…auf diese Weise rekonstruiert sich Wien anders als andere Städte, die ich/=man dann doch erinnern muss. die wichtigen oder beiläufigen Menschen formen den fliegenden Teppich, auf dem man sitzt oder durch die Gassen läuft und weiss, man wird nicht mehr erleben, dass sie endgültig der Zeit zum Opfer fallen. Wenn Freunde mir heute erzählen, was sie in letzter Zeit gehört oder in der Oper genossen haben, was die Theater natürlich nicht mehr so hergeben wie früher, dann werde ich nicht nostalgisch, sondern fühle mich eher jünger als die so viel Jüngeren. Getraut Jesserer ist gestorben, verbrannt in ihrer Wohnung, Ernie Mangold lebt noch, ein paar ganz Gute sind jetzt in Berlin, aber das ist schon alles: hier wird gespielt und gesungen.

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Von meinem Krankenbesuch mag ich nicht erzählen, und dieser Widerwille unterscheidet mich von vielen österreichischen Schriftstellern, die solche Gelegenheiten zum Ausbreiten ihrer Philosophie benutzten. Nur so viel, auf dem Weg zum und vom Krankenhaus kann man eingehend studieren, wie in einem Mischgebiet auf der einen Straßenseite noch die kleinbürgerliche Ärmlichkeit hinter ganz schönen Fassaden der Gründerzeit verbergen, während gegenüber die Gemeindebauten der Nachkriegszeit glatt und stereotyp die Wiener Variante der wirtschaftlichen Stabilisierung zeigen, nicht annähernd so schön wie die Bauten der Zwanziger Jahre, aber „sozial“ hatte damals schon seinen verständlichen Sinn und macht Wien heute zur Ausnahme in der postmodernen Wohnungsnot. Ich wandere auch an Sozialeinrichtungen vorbei, die gibts in Deutschland auf), aber hier sind sie offen, erkennbar, oft schäbig, aber frequentiert, wie die Wärmestube.

In der Straßenbahn nach Hause bin ich für einige Zeit der einzige Wiener deutscher Muttersprache, umso bemerkenswerter die Wiener Familien balkanischer und türkischer Herkunft in einer Normalität, die ich in Berlin vermisse. Das ist keine Idealisierung, weil zu dieser Normalität die austrofaschistische Neigung der „Anderen“ gehört, die contra Rationen zu zehntausenden gegen die Coronamaßnahmen demonstrieren, gewaltbereit die Saat aufgehen lassen, die durch Jahre hindurch im schwarzbraunen Populismus angelegt wurde. Jetzt, ja jetzt, ist man dagegen, sieht aber keinen Zusammenhang wischen der Flüchtlingspolitik, der Nähe der Innenpolitik zum deutschen Seehofer, einer immer schon dagewesenen Ethnophobie im kleinsten sozialen Maßstab neben der oben zurecht gelobten Normalität. Bei meinen deutschen Freunden, engsten und diskutierenden ferneren, stößt das „Österreich ist anders“ von mir auf eine seltsame Abwehr, als ob die scheinbar gleiche Sprache Deutschösterreich wahrscheinlicher machte als ein Riss zwischen zwei Kulturen. In Gedanken mache ich eine Stadtführung…

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Eines unserer Projekte führt mich in ein Kreativzentrum, wo Versammlungen, Workshops und Projektunterstützung zusammenkommen. Das wird nicht öffentlich gefördert….bietet aber trotzdem eine synergetische Zusammenarbeit…so steht im Hof des Gebäudes, einer ehemaligen Schule, ein Modellholzhaus für ökologische Demonstration…Wir besprechen und bearbeiten unser Startup-Projekt (nicht wir sind ein Startup, sondern versuchen, solche mit etablierteren Unternehmen zusammen in eine neue Form von geteilter Ausbildung zu organisieren (in Ö heißen die Lehrlinge noch nicht Auszubildende, sondern Lehrlinge…). geht man aus dem Gebäude raus, erkennt man schnell die „Dialektik“ des 3. Bezirks, der hat eine feinere Seite, Botschaften rund ums Belvedere, Konzertsäle, oberes Bürgertum, und Richtung Osten alte Industrie, jetzt überbaut durch Bürohochhäuser; seltsamerweise denke ich an ähnliche Konglomerate in Queens, es passt zusammen, was nicht zusammenpasst und -gehört.

Die Abendnachrichten ernüchtern. Corona, Omikron, Skifahren, Rechtslastigkeit und Augenreiben der Kultur…immerhin fordert eine konservative Zeitung Gegendemonstrationen der Geimpften und eine Eröffnung der Dollfuss-Debatte. Gar nicht schlecht, Geschichte aus den Subtexten zu holen.

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Macht es Sinn, die Unterschiede zwischen den beiden Gesellschaften aufzuspüren, zu analysieren, und auszuwerten? Sicherlich, weil man beiden Differenzen verpflichtet ist, nicht nur als Doppelstaatsbürger, sondern auch wegen der durchaus umbalancierten Bezugsschaukel: nicht ich allein „pendle im Bewusstsein“ zwischen Wien und Berlin…im Alltag sind das Trivialitäten. Was ist wo „besser?“. In Wien die Öffis, die Bundesbahn, die Wohnbaustruktur,…aber um etwa die Wohnungspolitik der Hauptstadt zu erklären, bedarf es vieler geschichtlicher, ethnischer Rückblicke, bis weit ins späte 19. Jahrhundert zurück. Und dann wird es sofort politisch, weil man sich schon des staatlichen Vorzugs der Donausmonarchie vor dem deutschen Reich nach 1871 bewusst sein muss, um zu erklären, was wo jeweils wie geworden ist und was eben nicht.

Unser Entwicklungsprojekt „Wohnen im Alter“ nimmt mit dem Abschlussbericht an die auftraggebende Landesregierung von Niederösterreich konkrete Formen an (dann erst kommen die wirklichen Mühen der Ebene, Ergebnisse „Vor Ort“ umzusetzen. Und was das „Alter“ mit den Zeitläuften, vom Klimawandel bis hin zur rasanten Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zu tun hat, fasziniert mich – auch wegen der Unterschiede zu Deutschland.

Aber erst einmal unterbreche ich diese Arbeit, fahre zu meinem Verlag, überquere die Hohe Brücke an der Wipplinger Straße, die ich als Kind schon kannte, weil es dort die Lotterie-Agentur gab mit dem Rauchfangkehrer als Symbol der Glücksbereicherung durch die Klassenlotterie. Später wurde der Wortwitz der Linken mit dem „Klassenlos“ daraus.

Und wieder fahre ich durch die Stadt und lerne mit jedem Blick auf ihre Geschichte auch ein Stück meiner Geschichte. Beruhige mich, dass ich nicht berühmt bin; wäre ich es, würde Wien erst nach meinem Tod etwas für mich tun.

(Übrigens muss ich ja übermorgen nach Salzburg, weil ich dort gemeldet bin und neue Papiere rauche. Zu Salzburg fällt mir diese Geschichte nicht ein, ob eine andere sich mit mir so verbindet ist wahrscheinlich…).

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Zu den Unterschieden zählen auch Gestalt und Vermittlung der Abendnachrichten im Fernsehen. Hier geht es nicht um besser oder schlechter. Aber weil Österreich nicht so wichtig ist wie Deutschland, erfährt man hier mehr von der Welt – und von lokalen Ereignissen.

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