Zwei Tage des Rückblicks, den ich teilen möchte. 1986 war ich nach Oldenburg gezogen, um an der dortigen Universität zu arbeiten. Ich hatte 12 Jahre in Osnabrück zurückgelassen, auch Beziehungen, Freundschaften. Was ich davor von Stadt und Universität wusste, hatte vielleicht Pläne, aber keine Vorausschau erlaubt. Die nächsten 12 Jahre sollten weitgehend bestimmt werden durch learning by doing und durch Anwendung von Wissen, das nicht unbedingt durch die verfestigte Ansicht über diese Universität – Carl von Ossietzky ! – und die Residenzstadt der Großherzöge vorstrukturiert war. Keine Angst: es folgt auch nicht eine noch so kurzgefasste Geschichte meiner Zeit als Präsident dieser Universität. Auch nicht meine Jahre danach, die ich hauptsächlich im Kosovo und Afghanistan zugebracht habe, bis ich auch formal Oldenburg mit Berlin und Potsdam eingetauscht habe. Ich will über die RÜCK-SICHT nachdenken und berichten. Zwar habe ich Freunde und Kollegen ab und an besucht, auch an Begräbnissen und Feiern teilgenommen, aber ich war zunehmend nicht mehr an einem Wohn- und Arbeitssitz, wo man nicht nachdenken musste, um sich auszukennen. Dann kam Corona, noch seltener besuchte ich Freunde und Kollegen und jetzt musste ich zielgenau zu einer Disputation, verbunden mit diesen nahen Besuchen, und ohne weitere Kür.
Erstens: ich hab mich nicht mehr genau ausgekannt. Nur annähernd. Buslinie, Straßennamen, Erkennungspunkte. Das ist geographisch nichts besonderes, manche Punkte haben sich dem Wiedererinnern gefügt. Nicht so wichtig.
Zweitens: Vor der Doktorprüfung war ich dem Lokal zum Mittagessen, in dem so um die 1500 Mahlzeiten eingenommen hatte, fast unverändertes Menu, teurer, aber nicht anders, und der Chef erkannte mich umgehend und ich ihn. Er setzte mich auf den Stammplatz.
Drittens: Noch immer Zeit. Also durchstreife ich die Gebäude und sie waren mir fremd, obwohl ich sie schon noch kannte, nicht so viel Neues. Fremd von den Bezeichnungen an den Türen, nicht die Namen, die ich alle nicht kannte, sondern die Funktionsbezeichnungen, die fachlichen Translokationen, und die Unsicherheit, wo ich denn Aus- und Übergänge finden würde. Fremd heißt hier konkret, es wurde nicht mit der Veränderung und Gleichgebliebenen gearbeitet, sondern mit dem anderen, das keine direkte Erinnerung hervorrief. Manche Flure und Bezeichnungen hätten auch in Marburg oder Potsdam sein können und riefen keine Assoziationen hervor, einige taten es schon, aber die wenigsten.
Binnen einer Stunde traf ich auf genau drei Menschen, die mich erkannten: einen früheren Studenten, von vor 30 Jahren, der jetzt promovierte; eine frühere Mitarbeiterin; einen Lehrbeauftragten, den ich beim besten Willen nicht einordnen konnte. Drei. Hunderte Studis zogen in bunten Gruppen an mir vorbei, strömten wie zu einem Jugendcamp, d.h. ich war nun wirklich alt geworden. Hat mir gefallen, so kann man eine Uni auch beschreiben, eine Uni, nicht meine Uni. Selbst während der Disputation erinnerte ich zwar, mit wem ich im gleichen Raum gesessen und geprüft hatte, aber auch hier keine Assoziation von Zugehörigkeit.
Was ich an dieser Uni bewirkt und verwirkt hatte, kann ich schon noch rekonstruieren, aber das Gedächtnis hat den Ort, die Zeiträume, die Anlässe, relativiert, weggerückt. Also normal. ABER da brachen dauernd Blitze in dieses Gefühl der Fremde, die nicht konkret sagten, was da war, aber dass da etwas war, war reaktiviert werden sollte. ein Ereignis, eine Begegnung, ein Ärgernis oder eine Erfreulichkeit. Retro sprach zu mir, das müsstest du doch noch vor dir haben. Ich hab es hinter mir.
Ich erzähle das, weil es mich doch an etwas erinnert, das mein damaliger Kollege Ulrich Teichler vor 40 Jahren als das Nicht-Eigentliche der Universität bezeichnet hat. Gestern ging mir weder Lehre noch Forschung noch Verwaltung durch den Kopf, sondern es wurde eine punktuelle Anamnese, Wiedererinnern, losgetreten, die mich zu einem Selbstgespräch, einem Verhör über das, was dieser Ort damals an meinem Leben gut oder ungut gemacht hatte, und nicht, was ich gut oder ungut angestellt hatte. Wie Tätowierungen auf der Lederhaut meiner Lebenserinnerungen wirkten Gebäude, Grünflächen, Formen, begleiteten mein Flanieren oder auch Stöbern.
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Das war kein Thema im Abendgespräch mit meinen Freunden gestern Abend und heute Morgen. Als ich für eine knappe Stunde bei einem freundlichen Brunch mit dem Präsidium versuchte, die Retrospektive zu objektivieren, war das nicht so schwierig, wenn man den positivistischen Teil der Rückerinnerung hernimmt: was habe ich damals getan, was gibt es davon noch heute. Aber die kritische Reflexion dessen, was die UNi mit mir und ich mit ihr gemacht habe, stellt sich da nicht einfach ein: denn es ist eine andere Uni.
Ich musste an Italo Calvinos Unsichtbare Städte denken.