Liest man die Kommentare zum österreichischen Wahlergebnis vom letzten Sonntag, hat man das Gefühl, der Blick von Presse, Politik und Stammtisch kennt Austria nicht, oder bestenfalls touristisch oder analog zu Ungarn und anderen Ärgermachern in der EU. Die faschistische FPÖ vor der konservativen ÖVP und der blassroten SPÖ. Weit hinten die etwas gestärkten NEOS und die arg abgestürzten Grünen, jeweils unter 10%.
Ich hatte schon mehrmals, auch vor dieser Wahl, das Problem aufgezeigt, dass die FPÖ zwei (ZWEI) Faschismen in sich vereint, dass die ÖVP einen Ast mit historischen Faschismen verlängert und dass die SPÖ längst nicht mehr der soziale Antrieb der Republik ist. Die beiden Kleinen (Grüne und NEOS) konkurrieren, haben keine faschistoide Berührung und auch keine sozialistische.
Um Österreich zu verstehen, muss man die Geschichte des Ständestaates und des ersten Faschismus („Austro-F“) vor der Machtübernahme durch die Nazis 1938 genauer studieren, auch die Unterschiede innerhalb der faschistischen Ablehnung von Demokratie durch die beiden Parteien. Es gibt dazu hinreichend und differenziert gute und kritische Literatur, aber es gibt auch eine Art abgeschliffener Geschichtsbetrachtung in der Bevölkerung, die diese Geschichte ihrer tragischen, perversen und absurden Erscheinungsformen entkernt. Auch das ist seit 1945 immer wieder Gegenstand von Literatur, Philosophie, Geschichte, Kunst und gescheiten Diskursen.
Die FPÖ ist faschistisch, verbindet in sich aber die widersprüchlichen Austrofaschismen mit dem deutschen Faschismus, der ab 1933 ins Nazitum überging, und eben extrem „deutsch“ war – und in Teilen geblieben ist. (Man kann in der Analyse der AfD hier auch die Quellen auseinanderhalten).
Die ÖVP ist aus dem Austrofaschismus hervorgegangen, .es gibt durchaus ständestaatliche Strukturen, aber es gibt auch ganz andere, nicht F-fortsetzende Strukturen und Aspekte, was einerseits eine reale Flexibilität, aber nicht unbedingt konstante Glaubwürdigkeit erzeugt.
Die SPÖ, meine Zielpartei in der Kreiskyzeit trotz interner Kontroversen, ist weit von ihrer überragenden, leider auf Wien und die größeren Städte konzentrierten Politik entfernt.
Nun ist aber die Retrospektive zu den verschiedenen Faschismen in Österreich auch deshalb notwendig, weil man sonst viele der Konstellationen nicht versteht. Ein wichtiger Faktor ist zudem die sehr ungleichmäßige Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit, die von Deutschland unterscheidbare Politik des Umgangs mit dem Judentum und die gesamt Migrations- und Asylkrise. Da hat es die Bundesrepublik mit ganz anderen Grenzproblemen nötig, die Differenzen zu Österreich genauer zu erkennen (ich rede jetzt einmal nicht von Baiern). Österreich: Nehammer hat mit Recht Kurz als Kanzler abgelöst, aber für sich ist er genau an der Schnittstelle zwischen einem Pragmatiker und dem austrofaschistischen Erbe zugeneigten Konservativen…ein ihm vorteilhafter Spagat mit gefährlichen Optionen, etwa einer Koalition mit der FPÖ ohne Kickl.
Nein, Österreich ist nicht Ungarn, nicht die Slowakei, nicht die Niederlande mit ihren Faschismen in der Vertikale der Macht, und auch nicht Kroatien und Dänemark. Von allen etwas, und doch anders. Aus vielen Gründen sind Vergleiche, v.a. regionale, mit Italien wichtig, weil dort der herrschende Faschismus die EU schon stark beeinflusst und die typische Trennung von Innenpolitik und Außenpolitik geradezu EUantizipierend prägt. Und man muss schon genau hinsehen und sich vorstellen, wie nach 1918 da ein ganz anderes Land mehrere Identitäten vereint hat, die jedenfalls nicht mit der gängigen deutschen Ostwest Ansicht übereinstimmen. Heute, jetzt. Lest einmal nach, zB. Institut für den Donauraum und Mitteleuropa, IDM, jetzt 9/24, Oder die Nachkriegsgeschichte, z.B. aus der Sicht des Osteuropahistoriker Wolfgang Müller von der Universität Wien, oder mit Hinblick auf die US-Beziehungen zu Österreich (dazu braucht man Reinhold Wagnleitner). Nochmals: ausnahmsweise keine zitierfähigen Literaturangaben, die liegen bei Nachfrage bereit).
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Der Unsinn, dem Volk aufs Maul schauen zu wollen, um die eigene Demokratie zu stärken, lassen wir einmal beiseite. Dann bleiben der eklatante Stadt-Land Bruch, vor allem zwischen dem herrlich vielfarbigen roten Wien (nicht mehr so vielfarbig, nicht mehr so rot, aber….) und einigen der größeren Städte, und dem „Land“. Das sich doch in vieler Hinsicht in Dörfern und kleinen Städten von Deutschland unterscheidet, da muss man schon ethnologisch, historisch, kulturell, manchmal auch religiös genauer analysieren und – leider noch immer, den Umgang der Regionen mit den jeweiligen Faschismen bzw. dem Sozialismus in der Vorkriegszeit und nach dem WKII sich erklären, um zu verstehen, warum manchmal die FPÖ, manchmal die ÖVP relative Mehrheiten errungen hat.
Ich lasse jetzt einmal meine Ansichten und Hoffnungen auf mögliche Koalitionen außen vor. Aber ich rate, empfehle herzlich, ein wenig österreichische Geschichte nicht als Wurmfortsatz der deutschen Geschichte zu studieren. Auf Nachfragen biete ich gerne Literatur und Wissenschaft zur Lektüre, aber nicht vorab. Denn manchmal weiß ich selbst nicht, wer was wie kontrovers frägt.
Ein letztes: der Bundespräsident, Alexander van der Bellen, ist ein unerschütterlicher Repräsentant eines demokratischen, zivilen, republikanischen Österreich. Er kann mit seinen Entscheidungen die Demokratie nachhaltig stützen und schützen.
Die geschichtliche Analyse ist richtig. Jedoch ist es zweifelhaft, dass der Großteil der Wählerschaft die Wahlstimmen nach geschichtlichen Aspekten abgibt. Ein Beispiel: Ein nicht unerheblicher Anteil von Stimmen für die FPÖ stammt von Menschen, die sich heute noch über den versuchten Impfzwang ärgern. Ist von der Wählerschaft wenig reflektiert, aber deswegen nichts Faschistisches. Ein Abstimmen nach Emotionen.
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Ja, danke – das ist eine mögliche Differenzierung. Aber das Ausnützen genau und gerade der Emotionen hat auch historische Vorbilder…
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