Dass man verzweifeln kann, ist noch kein großer Schaden. Aber Verzweiflung ist ebensowenig eine politische Kategorie wie Dankbarkeit, Freundschaft, Ablehnung. Die ethnische, religiöse, historische „Nichtübersetzbarkeit“ von Standpunkten ist ein Schutzschild, um Konflikte auf der Ebene von Missverständnis oder Feindbilderklärungen scheinbar zu entschärfen, in Wahrheit aber weiterzutragen. Ressentiments, wie Huntingtons „Kampf der Kulturen“, sind keine überwundene Rechtfertigung schlechter Politik. Wenn ich jetzt etwas an der Politik, d.h. an der „Situation“ verzweifle, heißt das nur, dass ich (noch) nicht zusammenbekomme, was wie große, bedrohliche Problemtrümmer um mich herumfliegt.
Unter der Oberfläche eines dissoziierenden politischen Systems, der EU, erkenne ich eine unerwartete Bewegung: einigen der Scharfmacher innerhalb dieses Systems scheint der Druck zuzusetzen, dass sie „zu weit“ gegangen seien (Seehofer mit seinem „Unrechtsstaat“), und sie keilen jetzt an anderen Fronten, wie der Sozialpolitik. Andere suchen ihr Heil in der Zuspitzung der Krise, wie Österreich und die Westbalkanländer. Das alles bringt die Fronten durcheinander, die sich ja auch unter dem Satz „Diese EU brauchen wir nicht“ zusammenfassen lassen. Eine andere EU bedeutet nicht automatisch ein anderes Europa, und ein anderes Europa ist nicht gleich ein besseres. Das wenigstens sollten wir als Ausgangsbasis ernst nehmen.
Die Ultrakonservativen haben sich immer schon des Abendlandes bemächtigt, und dann Europa darunter subsumiert. Das ist historisch weitgehend falsch montiert, aber der Alltagsverstand will es so. Nation Europa (1951 bis 2009) ist der programmatische Titel einer vielbeachteten rechtsextremen Zeitschrift gewesen.Jörg Haider, gegen den es wenigstens noch EU Sanktionen gab – (zu Recht umstrittene Reaktion auf die damalige FPÖ) – hat bei Alain der Benoist gelernt, war gegen den Islam aber für einen frühen EU-Betritt der Türkei und hat sich das Präfix Neo- vor der faschistischen Zuordnung verdient; auch den intellektuell aktiven Andreas Mölzer sollte man sich zu Gemüt führen, um die Variabilität des europäischen Diskurses bei den Nationalen zu erkunden. Ich nehme zwei Österreicher, weil der Kurs dieses Landes zwischen den verschiedenen Varianten dieses Diskurses auch heute (Flüchtlinge), aber schon früh tiefer in die abendländische Orchestrierung von anachronistischen, populistischen und opportunistischen Politiken geradezu „transparent“ ist. Europa…Auch die Paneuropa-Union des Richard Coudenhove-Kalergie kommt aus Österreich, allerdings ganz im Gegenteil zur reaktionären Politik eine durchaus ernsthafte Vision nach 1945.
Das Abendland ist kein Ermächtigungsbegriff, sondern einer der Bemächtigung: es bemächtigt sich, je nach Deutung, im Nachhinein der anti-aufklärerischen, der mythischen Überlegenheitsvorstellung einer Kultur, die schwierig zu dekonstruieren ist, aber eines ganz gewiss nie war: völkisch-christlich. Aber wichtiger erscheint mir, dass diesen abendländischen Bildern meist ein Bedürfnis nach einer Zugehörigkeit zu einem größeren, von „der Geschichte“ legitimierten Zusammenhang eignet, der über die eigene lokale oder politische Bedeutungsarmut oder einen Verlust (das“Reich“ ist nicht mehr…) hinweghelfen soll. Die nationale Spielart kommt schnell einer pauschalen, aufgeklärten (und oft verklärten) Positionierung als Okzident oder „Westen“ in Konflikt, und „Europa“ ist da keine einigende und versöhnende Brücke.
Dieser zweite Schritt beginnt mit der Verzweiflung. Er soll ein wenig so enden: wenn man an Finistèrre, Land’s End, steht, gibt es keinen Zweifel – das eine hat jetzt ein Ende. Ob jenseits des Wassers ein anderes festes Land zu finden sei, weiss man nicht sogleich. Es gibt für ganz viele der grausigen Ereignisse der letzten Jahre und Tage eine Fülle von Erklärungen und Analysen, das wenigstens ist geschehen, und gut so. Aber was da steht, ist ein wenig der Rückblick des Engels der Geschichte, nur sind wir nicht dieser Angelus Novus.
Die Anerkennung der Ambiguitäten unserer Situation geben uns noch keine Ansätze zur Lösung der Probleme und zur Regelung der Konflikte, sondern eher die Vermutung und Befürchtung, dass es lange so bleiben wird, dass die Jahrzehnte der Hoffnung nach 1989 nun wieder vorbei sind. Aber wir können mit dieser Anerkennung dennoch beginnen, weil sie uns zeigt, wie diese ambigen Verhältnisse uns mehr als eine Wahrheit eröffnen, um die Tragweite unserer Probleme endlich auch zu verstehen.Dann können die Erklärungen – und viele sind gut, schärfer und besser als seit langem – zu Praxis werden, zum Handeln nicht angesichts einer Niederlage oder eines Versagens, sondern des Umsonst.
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Was für Konsequenzen müssen wir daraus ziehen, dass in den Kellern des Westens weiterhin gefoltert wird und jeder ernsthafte Whistleblower unter lautem Jubel der Zuschauer ins Gefängnis geht (wenn man ihn nicht beseitigt)? Ich rede von unseren Gesellschaften, nicht von denen, die auf Folter und Gewalt sich gründen. Wir reden davon, dass wir natürlich Freunde nicht aus der Kritik ausnehmen, aber wir tun es nicht.
Die Debatte um Erdögan ist ein Vorspiel einer Auseinandersetzung, die uns nicht erspart bleibt: uns zu durchleuchten, wenn uns die richtige und scharfe Analyse unserer Gegner und Gefährder keinen Schritt weiter bringt. Keine billige Selbstkritik, bitte. Ambiguität heisst, dass es gilt, mehr als eine Wahrheit auszuhalten und zu bewältigen – Versuch des Türkeivertrags und Ankündigung des Regimewechsels in diesem Land. Das Gleiche gilt im Verhältnis zu Ungarn, wo der Faschist Orban das Parlament ausgeschaltet hat. Ungarn ist noch Mitglied der EU, aber auch hier muss Regimewechsel ein erklärtes Ziel sein. Das sind Beispiele einer Ausrichtung von Politik, die aber nicht so abgehoben sein sollte, dass man sie verfolgt, während die Leute gröhlen „Recht hat er doch!“. Vorschnell niemals vom Pöbel sprechen, auch wenn er sich so gibt: wie haben ihn so werden lassen, weil uns unsere Stabilität wichtiger ist (ach ja, manche könnten jetzt sagen, sprich aus, dass der Markt, die guten Geschäfte wichtiger waren, aber so einfach ist es nicht. Nicht alles, was die Bürger nicht verstehen, ist schon deshalb neoliberal). Unser engster Freund, der Folterstaat USA mit seinem Rassismus und seiner Folter und seiner Ungleichheit lässt seine Freundschaft uns in jeder kritischen Stunde spüren, und dann befassen wir uns lieber mit denen, die noch fürchterlicher sind, und sehen uns selbst nicht.
Nein, ich fange jetzt keine Litanei und keine Klage an. Aber dieser komplizierte Vorgang der gesellschaftlichen Selbstverortung ist ja deshalb so geschwächt, weil wir diesen Ort nicht mehr im öffentlichen Raum verhandeln, aus fatigue de democracy oder einer Faulheit, die die Unterwürfigkeit unter das jeweilige normative System geboren hat. In andern Worten, wer man selbst gesellschaftlich ist, ist noch nicht durch den Status ausgemacht, den man in dieser Gesellschaft hat, sondern durch die Distanz und Nähe zum Ort, von dem aus man sich in ihr sieht. Diesen Raum an der Abrisskante des festen Bodens unter unseren Füßen zu gewinnen oder wieder zu gewinnen, lohnt.