Keine Wut hochkommen lassen, keine Trauer oder Ohnmacht. Schimpfen fällt jetzt so leicht wie die Aggression gegen die, die bisher entgegen allen Einsichten und Signalen, nichts oder das Falsche gemacht haben; da ist viel Autoaggression dabei, und Selbstkritik nur auf der Ebene, wo es Institutionen trifft, also die Personen nicht direkt angreift.
Ich hatte mit dem Brexit gerechnet, seit langem. Dass er so vergleichsweise knapp gekommen ist, hat mich dann doch überrascht. Bei den Reaktionen gestern (24.6.) hat mich einiges gewundert. Viele Politiker erklärten beflissen, sie respektierten das Ergebnis. Da begann ich zornig zu werden. Wenn man gesagt hätte: wir akzeptieren, dass die Mehrheit so abgestimmt hat, dann ist das eine von jedem Wunschdenken entkleidete Kenntnisnahme. Aber Respekt…? Wen denn, was denn respektieren?
Eine klare Verhöhnung von Demokratie, über etwas abstimmen zu lassen, was so gar nicht geht. Einen Premier respektieren, der ohne Not eine Volksentscheidung aus Wahltaktik inszeniert hat und in seiner Erbärmlichkeit noch eine gute Nachrede sucht, wir sollten respektieren, dass er auf der „richtigen“ Seite gewesen sei? Eine grobe Verletzung der Gewaltenteilung respektieren? Dummheit und Verführbarkeit respektieren? Den Protest der Überreste von Arbeiterklasse – frustrierte Labour-Wähler, Kleinbürger – respektieren, weil sie gegen die Empfehlungen der Wirtschaft gestimmt haben, habituell, nicht reflektiert als Bestandteil von dem, was heute Klassenauseinandersetzung sein könnte? Respekt vor der Illusion, den Kadaver eines Empire durch ein winziges Mehr an Souveränität zu beleben – Zombie-England, noch mehr Pudel der USA, noch weniger politisch und kulturell ansprechbar? In diesem Respekt würde sich auch die Entschuldigung für unseren Beitrag zu diesem Referendum abbilden. Aber zu dieser Revision der Griechenland-Politik, der ökonomischen Schlagseite, der Unfähigkeit die Grenzenlosigkeit zu verteidigen, unsere regierungsamtlich abgesegnete Angst vor dem Terrorismus zu Lasten unserer Freiheiten, all das soll nicht zählen? Respekt füe Jugend, die Städte, die in Europa noch eine Hoffnung sehen und deshalb ja auch an der EU etwas ändern können. Aber keinen Respekt vor einem Ergebnis, das keines ist, schon gar kein demokratisches.
Nein, kein Respekt. Schon heulen die Rechtsradikalen und Nationalisten. Kaczinsky wettert gegen ein föderales Europa, er, in dessen Land kein neuer Stein ohne den Regionalfonds der EU gesetzt wird. Putin labt sich an einer selbstinduzierten Verwirrung. Gabriel kann Englisch („Damn“), wie sein Twitter belegt… Ich muss an mich halten, um nicht in ein Gegenschimpfen einzustimmen.
Analysieren wird weiter notwendig sein, aber es wurde ja schon lange vor dem 23.6. damit begonnen. Wenn wir eine so genannte Wertegemeinschaft sind, dann hat das etwas mit Europa zu tun, aber nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt mit der EU. Europa, das meint einen gesellschaftlichen Verbund, der irgendwann ein Bundesstaat, eine europäische Republik (Ulrike Guerot) werden kann, aber jedenfalls kein Staatenbund allein, ohne diese Perspektive. Vergemeinschaftete Werte, internalisierte Werte, sind nur gesellschaftsbindend, wenn sie die Kommunikation, das Aushandeln, die republikanische Option über jedem Nationalismus, ernst nehmen.
Merkel hat richtig daran erinnert, dass Europa ein Friedensprojekt war und ist, sofern die EU diesem Projekt seine politische Gestalt gibt. Frieden ist das Produkt von ständiger, nimmer ruhender Konfliktregulierung, nicht von Nichtangriffspakten und Toleranz der Mächtigen gegenüber den weniger Mächtigen. Die EU ist im besten Fall das Ergebnis einer dürren, aber nicht dürftigen politisch-ökonomischen Einsicht: Konfliktregulierung ohne wirtschaftliche Regulierung kann nicht funktionieren. Frieden kann sich nicht in Kulturfestivals und Freundschaftsbekundungen vor Fahnenstangen erschöpfen. Er muss damit beginnen, immer wieder dynamisiert, dass die Konflikte benannt und verstanden werden – und es ist immer Keim der Gewalt darin, dass man Angst respektiert, die selbst den Konflikt schürt.
Kleiner Einschub: Oft werden Werte mit Tugenden verwechselt. Ein Beispiel – Transparenz in allen öffentlichen Agenden ist ein Wert; Solidarität ist eine Tugend, die ohne die politischen Rahmenbedingungen jenseits der Individualität nicht praktizierbar ist. (Ich weiß, werte Ethik-Kolleg*innen, das ist kein philosophisch haltbares Beispiel, es entstammt der Praxis-Betrachtung eines Kommentators). Ja, wir sollen tugendhaft im politischen Feld und jenseits der Privatheit handeln, aber Werte…?
Zurück zum Brexit: Souveränität des Nationalstaats ist jedenfalls kein Wert mehr. Die Bauernfänger Farage, von Storch, Orban und wie sie alle heißen, bemühen einen Popanz, von dem es nur eine unscharfe Erinnerung im kollektiven Bewusstsein gibt, und eine idealisierte Version im kulturellen Gedächtnis. Wann je im letzten Jahrhundert der Nationalstaat supra-nationale Vereinbarung, Teilung von Souveränität dauerhaft übertroffen? (Vielleicht die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit, vielleicht kurze Zeit die Briten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs…ich muss keine Vollständigkeit herbeireden). Souveränität hat für die Exkommunisten im neuen, östlichen Teil der EU einen hohen symbolischen Wert, weil es das Gegenteil der Unterwerfung unter den Stalinismus der Sowjetunion andeutet. Dass diese gleiche Souveränität heute eine scharfe Waffe in der Hand von Nazis, Rassisten und Ethnophoben ist, fällt den identitären und völkischen Nationalisten – auch in westlichen EU-Ländern, vielleicht auf, aber sie denken gar darüber nach, dass vielleicht in der Nation mittlerweile die politische Koordinate Rechts-links gar nicht mehr zählt. Sie erfinden das Volk, um völkisch sein zu dürfen. Das aber sind gar nicht die vielen, die sich gegen ihre Repräsentanten auflehnen, frei sein wollen von der regulierten Freiheit, die ihnen die Zukunft verbaut und weitere Hoffnung nimmt, während die Börsen von Zuversicht regiert werden.
Wir aber sollten beginnen, unseren Kosmopolitismus ernst zu nehmen.
Wer ist der Souverän der Weltbürgerschaft? Hier entsteht eine Antinomie. Denn unter dem Imperativ von wirklicher Gleichheit, zumindest vor den Grundgesetzen, sind sie alle Souverän, auch die, die sich kontrafaktisch gegen eben diese Gesetze auflehnen. Die muss man ernst nehmen, nicht ihre Ängste und Befindlichkeiten. Wie geht das? Das ist uns, den Eliten, abhandengekommen. Um es deutlich zu machen, wir haben unsere Mitgliedschaft im Establishment so wenig gewählt wie unsere Zugehörigkeit zu den Eliten, die die Deutungshoheit – mitsamt ihrer Kritik – gepachtet haben; wer hat uns da hin gestellt? Da herrschen keine übermächtigen Gesetze, die uns dahin zwingen, aber im Zweifel nutzen wir guten Gewissens den Freiraum und begründen ihn mit der Möglichkeit zur Kritik der Verhältnisse, an deren anderem Ende der Souverän sich ebenso aufhält, aber den Begriff – die Souveränität, Selbstbestimmung und andere Phantasmen – auf ein Programm reduziert: wie heute Morgen ein ausnahmsweiser, sehr kluger Kommentator sagt: die sind so hoffnungslos unten, dass es ihnen scheinbar nicht schlimmer kommen kann, dann suchen sie Befreiung von der Einsicht in diesen Zustand…Da setzen sich natürlich die Spoiler drauf.
Weltbürgertum erfordert aber jene Gleichheit, die nur im ganz Kleinen oder in der gewalttätigsten Diktatur vorherrschen kann. Für diese Gleichheit taugen die gängigen Staatsmodelle nicht.
Dazu kann ich keine kurzen Anmerkungen schreiben. Aber was den Respekt und die Akzeptanz betrifft: die meisten EU Politiker weit oben üben sich in beschleunigender Akzeptanz, als würden die anstehenden Verhandlungen den Schmerz lindern; noch fühlen sie sich nicht zum Handeln gezwungen. Respekt hingegen sollten wir denen entgegenbringen, die sich in England auflehnen, die die große Petition schreiben und ihre Nicht-Unterwerfung unter eine Mehrheitsmeinung oder –stimmung praktizieren. Im Augenblick scheint es mir auf das „Ganz Kleine“ anzukommen, auf das Denken um handeln zu können.
Und keine Angst: die Engländer kommen zurück.