Die Kommentare nach dem Brexit überschlagen sich. Mein hier immer wieder vorgebrachtes Lob des Feuilletons gerät ins Schlingern, und meine Verwunderung über die Schwäche der Politikseiten in den Medien fühlt sich bestätigt. Das Schwanken zwischen „Es muss etwas geschehen“ und „Kannst eh nix machen“ – sonst nur ein österreichischer Wahrspruch – ist zum Habitus geworden. Analyse braucht nicht nur Zeit, sondern auch Gedanken. Es hat den Anschein, als wäre eine gewisse Amnesie eingebrochen in die Denkmuster.
Und jetzt mische ich mich auch noch ein. Aus einer gewissen erzwungenen äußeren Gelassenheit, die daher rührt, dass ich mir ziemlich viel an den Reaktionen erklären kann, aber die Politik nicht so recht verstehen will im Rahmen der politisch korrekten Rationalität, der Vernünftigkeit, nach der alle rufen.
Ich nehme eine Antinomie heraus, eine von großer Tragweite. Alle anti-europäischen Ressentiments und lokalen Politiken richten sich gegen die Eliten, die kritischen Intellektuellen, das „Establishment“. Als Ausgangshypothese ein Stück weit tragfähig. Wer trägt diese Politiken? Das Volk, der Souverän, der nicht genügend von den Herrschenden (? Wer herrscht) beachtet, respektiert fühlt, wählt rechts. Die Eliten sind aber alles andere als links. Und schlimmer noch in den Augen des entrechteten Souveräns: sie beanspruchen nicht nur die Deutungshoheit, sie üben sich auch als Protektoren der Abgehängten; prekären. Dieses Muster ist plausibel, aber mehr auch nicht.
Ein Exkurs: das oft anrührende, sehr aufrichtige Buch von Didier Éribon „Rückkehr nach Reims“ (Suhrkamp 2016) nehme ich zur Hand, um ein Gefühl, ein Sentiment, wachsen zu sehen, das ich auch kenne, aber anders deute: „So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest zum Teil als eine Art politischer Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jednefalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten“. (S.124).
Sehr ausführlich beschreibt der schwule Wissenschaftler Éribon, der aus einer „echten“ Fabrikarbeiterfamilie stammt (*1953), wie der Verlust des Klassenbewusstseins diese Umorientierung bewirkt hatte. Da er aber ziemlich ausführlich und stimmig die Kommunisten als Sammlungsort dieses Bewusstseins kritisiert, ist der Schwenk nicht einfach mit Individualisierung oder dem Gefühl des Verrats zu erklären. Es muss eine Verbindungslinie zwischen den klassenkampf-Rhetoren der Kommunisten und dem anti-kommunistischen rassistischen Front National geben. Aber nicht, was milde Ausgleicher denken: es ist halt doch recht = links und umgekehrt; viel wahrscheinlicher ist, dass die Habitus der Organisation von Klasseninteressen (Arbeiter und nachfolgende Lohnabhängige) und von Herrschaftsanspruch (völkische Suprematie) verwandt sind. Für die Arbeiter ging es wirklich um Teilhabe und dem Aufstieg von der Einzimmerwohnung zur Vierzimmerwohnung und Urlaub; das kann mehr oder weniger demokratisch, partizipativ etc. geschehen sein, solange es ein einigendes Motiv gab. Solche Arbeiter gibt’s halt nicht mehr, und die „Lohnabhängigen“ fassen das Problem nur teilweise. Vor allem sind die Umverteilungskämpfe oft nicht „politisch“. Bei den „Rechten“ geht es um Anerkennung, Teil – untergeordneter Teil – einer alternativen, aber dann alternativlosen Herrschaft zu sein. Stichwort: Partei statt repräsentative Demokratie. Um das Volk hinter sich zu bringen, muss die völkische Bewegung nur echte Probleme in solche Themen einpacken, für die die bürgerlich-sozialdemokratische größte Koalition der Konsensdemokratie keine Lösungen (Probleme) oder keine diskursive Strategie hat (Ängste der Bürger, Stimmungsdemokratie, aber auch Lobby- und Korruption auf höchster statt durchschnittlicher Ebene).
Éribon habe ich zitiert, weil er noch etwas Heikles thematisiert: als Schwuler in schwierigerer Zeit hat er sich auf die Emanzipation der Minderheit wissenschaftlich konzentriert und dabei die Klassengeschichte, auch seine eigene, entpolitisiert. Nicht sein selbstkritischer Aspekt interessiert mich, sondern die implizite These, dass die neue Ungleichheitsdebatte die alten Klassenantagonismen nicht ersetzen kann, und dass es eine Entwurzelung der Nicht-Eliten gibt, die mit dem Schrumpfen des Mittelstands, dem Zentrum der bürgerlichen Klasse – Citoyen UND Bourgeois – sich an formale Kollektive, mit deren einzeln „Programmen“ sie nicht übereinstimmen mussten/müssen eher wenden als an die formal „zuständigen“ Parteien. Es gibt durchaus einige Kommentare, die das aufgreifen. Aber es wäre sinnvoll, diese Analysen zu verfeinern, und vor allem die Ungleichheitsdebatte viel stärker auf die Habitusdifferenzen als nur auf die wiederkehrende Kapitalismuskritik zu konzentrieren.
Wir, ich und meinesgleichen, haben nicht Éribons Klassenhintergrund, wir mussten die Distanz zum imaginären Proletariat nie überwinden, darum konnten wir uns von ihm ebenso imaginäre adoptieren lassen. An uns hat die neue Rechte auch weniger Interesse, sie adoptiert die allein gelassenen Überreste anderer Klassen. Übertragen wir Bourdieus Begriff des Deracinement, der Entwurzelung, differenziert auf heute, dann können wir vielleicht besser erklären, warum der Kampf gegen das Establishment ein so wirkungsvolles Motiv ist, sich einer Bewegung anzuschließen, die alle Türen abschließt.
Ich kann eine Figur gut nachvollziehen: wir haben 1968 uns der Arbeiterklasse angemutet, weil wir eine Vorstellung von ihr hatten, die schon den Keim einer Konsenspolitik (ob Ergebnis von Revolution oder irgendeiner Volksfront) in sich trug. Uns hat es wenig gekostet, uns im Feld der Deutungshoheit und der intellektuellen Eliten festzusetzen. Keine Selbstbezichtigung, weil eben dies ja auch viel verändert hat: Schulen, Strafrecht, Ökologie. Keine Zufriedenheit, weil nicht hingeschaut haben, wie diskriminiert Wurzelnde entwurzelt wurden.