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Mein hundertster Blog. Dankbar bin ich euch liebe Leser*innen, Ihnen, werte Leser*innen, für die Treue über genau zwei Jahre. Allmählich komme ich monatlich regelmäßig in die 300er Sphäre von Clicks, nach wie vor bin ich nicht in den Netzwerken aktiv und den Link mit LinkedIn schalte ich hier auch nicht.  Fast ein Salon.

Ich habe diesen Blog unter dem Rahmen von FINIS TERRAE  begonnen, der Verzweiflung, vor dem Ende der Welt aufschreiben zu müssen, was doch nicht in die Transzendenz eingeht wie Luthers  Apfelbäumchen (ich nenn es immer Abfallbäumchen, im Kontext). In letzter Zeit rücken die aktuellen Bedrohungen näher, sie drücken von allen Seiten auf die Möglichkeit, Politik zu machen. Dabei ist die klimafeindliche Verlierer GroKo noch das geringste Übel, fahrt euch doch selber an die Wand, möchte man gut republikanisch rufen, damit die Menschen endlich ihre Sache in die Hand nehmen. Das größere Übel sind die Nazis, die jetzt in Österreich mitregieren werden. Sagt mir gestern einer im DLF, die FPÖ sei ja viel moderater als die AfD…auch so ein Problem. Aber Vorsicht. Die Aufzählung der aktuellen Bedrohungen zeigt nur an, wie gut man informiert ist. Sie sagt nur nicht, ob und wie man sich eine Meinung bildet und wie daraus eine Praxis folgt, für das eigene Leben und eine gesellschaftliche Konsequenz dazu.

Also gut. Ich schreibe meine Blogs, um deutlich zu machen, dass es nicht ausreicht, privat zu meinen oder zu wissen, was ist, wenn daraus nur folgt, dass ich mehr weiß als andere oder politisch dies mehr unterstütze als jenes. Dafür bedarf es keines Blogs. Ich will Sie und euch über zwei Umwege, zwei Ereignisse, dahin führen, wo ich letzthin aufgehört habe.

*

Vor drei Tagen war ich in Oldenburg, an meiner alten Uni, eingeladen, an einem Podiumsgespräch mit Simon Brückner teilzunehmen, Simon ist der jüngste Sohn von Peter Brückner, mit Barbara Sichtermann, er hat 2014 einen Film über seinen Vater gedreht, den er kaum kannte, er war vier als der starb. Peter Brückner wurde 1922 geboren und starb 1982. In meinem Flur hängt sein Bild neben dem von Erich Fried. Peter habe ich 1969 kennen gelernt, wir waren später befreundet, ganz spät in seinem Leben auch politisch verbunden, und ich halte ihn für wichtiger in meiner wissenschaftlichen und moralischen Laufbahn als viele andere, auch nicht übertreiben: er war da nicht allein. Der Film hat mich über Erwartung berührt, ein guter Film, der den Vater weder zu groß, noch zu schlecht macht. Eine Biographie halt. Mein Vater war genauso alt, nur starb er dreißig Jahre nach Peter. Das ist der Rahmen. Meine letzte Lehrveranstaltung in Osnabrück war zu Brückners Werk, nicht nur zu einzelnen Texten.  Einige der früheren Studenten erinnern sich noch dran. Was an diesem Werk so fasziniert ist nicht einfach seine Klugheit, Stringenz, Konsequenz. Sondern die Probleme, die aufkommen, wenn da einer Wissenschaft und Aufrichtigkeit im gesellschaftlichen Kontext verbindet. Wenn der Widerstand gegen die Gewalt des Staates nicht vermischt wird mit der Ablehnung gegen die, gegen jede Gewalttätigkeit; wenn die staatliche Ordnung abgelehnt, unterlaufen werden muss, wenn sie die Falschen schützt, und die Freiheit einengt. Wenn man sich nicht einfach auf die linke Seite schlagen kann, nur weil die rechte Seite unrecht hat. Weil man sich als Bürger versteht, aber dem bürgerlichen Widerstand das Recht bestimmter Handlungen abspricht, weil er nicht im Namen der Entrechteten sprechen soll. All das während der RAF und danach hoch aktuell, Mescalero, Berufsverbot, Ulrike Meinhof (Brückner: das Buch über Gewalt), die gemeinsamen Seminare, das Totengedenken in Hannover (etwas unheimlich), die Diskussion über eine Übersetzung seiner wichtigsten Bücher, unterbunden. Das Buch über die Bundesrepublik wird auch von rechten Intellektuellengelesen, wird glaubhaft kolportiert: das wundert nicht, denn die echten sind nicht dümmer als wir und suchen Argumente, wo es nur geht.

Mit meinem Blog hat dieser Exkurs etwas Wichtiges zu tun: das Hineintragen des Öffentlichen ins Private, ins Persönliche, um dort mehr als Haltungen, nämlich Praktiken zu konfigurieren. Brückner hat mit seinen Texten, Aufrufen, Verhaltensweisen eine Art politischer Intellektualität repräsentiert, die wirklich das Wort…zur materiellen Gewalt hat werden lassen, bevor es die Massen ergriffen hat. (Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, der Kontext lohnt) Zugespitzt ist jedes Dogma für ihn Gewalttätigkeit, und Gegengewalt nicht symmetrisch zur Gewalt, die über uns gestülpt wird. Was eben nicht heißt, dass sie schon dadurch legitimiert wird: das war seine Position zur RAF. Wenden wir das heute auf die Politik der Abschiebung im Flüchtlingskontext an, wenden wir es bei der Zähigkeit an, mit dem Klima den so genannten Arbeitsplätzen geopfert wird…Gewalt ist nie eine.

Wenn wir die obige Sorgenliste mit Wut beantworteten, mit einem Rundumschlag darüber, was alles nicht akzeptabel – Die rote-Linien-Inflation – machen wir uns nur lächerlich. Von Brückner lernen, heißt die Einsetzung der Kritik in die theoretische Praxis lernen, und da unbeirrbar das Messer der kritischen Vernunft, den Verstand, einzusetzen, nicht ein Programm.

Derart gestärkt habe ich Oldenburg verlassen.

Bei der Verleihung des diesjährigen Hannah-Arendt-Preises am 1. Dezember 2017 an Etienne Balibar ging es auch, und für mich, vor allem um Europa. Neben vielen anderen, besseren und schlechteren Argumenten, auch im anschließenden Seminar, fiel mir eine Tendenz auf, die ich sofort verstand: wenn bestimmte politische Verhältnisse geschaffen werden sollen, etwa der Ausgleich von Ungleichheiten, die Ausweitung von Freiheiten, die stärkere Kohärenz, dann muss zweierlei geschehen: ein europäisches „Volk“ muss sich aus den europäischen „Völkern“ konstituieren, damit von ihm alles Recht ausgehe. Das wird demokratisch nicht gehen, weil es den Kräften die Türen öffnet, die beides nicht wollen, das europäische Volk und die Demokratie. Es wird also Zeit, wieder an die Republik als Voraussetzung für die Demokratie zu erinnern, die sich dann entwickeln kann (und nicht umgekehrt). Und zweites, müssen wir über den Konstitutionsprozess selbst nachdenken, der ja nicht notwendig in den Formen der Nationalstaaten sich vollziehen muss, die halt gerade, im Absterben zwar, sich gewalt-tätig zu stabilisieren scheinen. Diesen zweiten Umweg muss ich weiter beschreiten, weil mir die Gewaltverhältnisse, das staatliche Monopol und die Gegengewalten, in diesem Kontext ungeklärt und politisch erörterungsbedürftig erscheinen.

Von dieser fast philosophischen Plattform heruntersteigend frage ich nach den Gewalten, die legitim das Manipulieren von Automotoren, das Nachgeben der Politik gegen jeder Art von Lobby (Pharma, Rüstung, Auto, Netzwerke usw.)  verhindern könnten. Zustimmung im Sinne demokratischer Entscheidungsverfahren werden wir zu all dem wahrscheinlich nicht und nie bekommen, und Ablehnung würde demokratisch genug wirkliche Reformen verhindern.

Wie also wird die res publica zur persönlichen Sache derer, die den Übergang in nicht aufhebbare Selbstzerstörung aufhalten, umkehren wollen? Ich behaupte, es geht. Aber es geht nicht ohne Verzicht und ohne gewaltsame Einschränkung der Lebensführung, auf die ein Recht zu haben viele beharren und sich dabei auf die Demokratie berufen.

Wir müssen bitteren Wirklichkeiten ins Auge schauen, die nicht zugleich Wahrheiten sind. Der sexistische, rassistische Umwelt- und Bürgerrechtsverbrecher Donald Trump würde aller Wahrscheinlichkeit wieder gewählt werden, und wenn er rechtswidrige Erlasse ausgibt, folgen ihm viele – nicht alle – Gerichte und Abgeordnete. Der Kriegstreiber und Interventionsdiktator Putin kann Teile seiner Bevölkerung mit einer Ideologie des Großen Russland und mithilfe einer korrupten orthodoxen Kirche nach wie vor an sich binden. Der Diktator Erdögan hat offenbar eine Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken hinter sich, auch wenn die noch einen deutschen Zweitpass besitzen. Noch mehr? Duterte, Kaczinsky, Orban, … n+1. Es gibt Unterschiede in der Ausprägung und Wirkmächtigkeit von Opposition, aber es ist eindeutig, dass in keinem der genannten Länder Demokratie ein fraglos geteiltes Grundprinzip von gestaltbarem Gemeinwesen ist. Und in Deutschland und Österreich sieht es gefährlich aus, wenn die AfD mit der Taktik der Nationalsozialisten vor 1933 sich ein Doppelgesicht gibt – parlamentarische Beschwichtiger und rassistische Gewalttäter auf Abruf; wenn die FPÖ sich auf eine farbentragende Schlägertruppe stützt, deren Ähnlichkeit mit SA Anführern überdeutlich wird: eine Partei, die mit fremdenfeindlicher Hetze längst einen großen Teil der Bevölkerung – nicht die Mehrheit – hinter sich gebracht hat.

Nun gibt es überall Opposition und Widerstand, in den USA mehr und öffentlicher als in Russland, in Deutschland und Österreich mehr als in Ungarn, in Polen mehr als auf den Philippinen. Aber ein zweistelliger Prozentsatz in der Bevölkerung reicht aus, um die Konstitution eines Volkes aus der Verfassung heraus zu behindern oder zu sabotieren.

Da sind wir nahe an Brückners Beobachtungen, dass illegitime Handlungen von staatlichen Gewalten bestimmten partikulären Interessen dienen, die sich dann als Volkswille tarnen. Erfolgreicher als wir gerne wahrhaben möchten.

Nun kommt eine gefährliche Überlegung, gefährlich wegen der Notwendigkeit, sehr genau und kritisch zu reflektieren, ob da in mir nicht eine Gegenutopie durchgeht, die endlich handeln möchte, um den Spuk zu beenden. Aufschlag: in Demokratien, wie den USA oder auch Israel, kann man lernen, wie autoritäre, illegitime und oft verfassungswidrige Akte, wenn sie gesetzt sind, im nachhinein gesetzlich oder juristisch sanktioniert werden und eine darauf folgende Legitimation durch Gerichte und Parlamente erfahren. Ich nehme bewusst zwei Länder, die ich sehr mag und die mir in vieler Hinsicht Vorbild sind oder wenigstens waren. In Israel wird ein Buch für die Leselisten von Schulen verboten, „Wir sehen uns am Meer“ von Dorit Rabinyan; dass es zu solchen Übergriffen kommt, wäre für jeden, der die Geschichte und Bedeutung des Landes kennt, undenkbar – ich werde jetzt schief angeschaut: eine Zensur, eine Kleinigkeit, und noch dazu hat das Verbot ja einen Skandal ausgelöst. Demokratie, Meinungsfreiheit!?…Die  Verbrechen des POTUS sind natürlich viel größer, gravierender, gefährlicher. Aber mir geht es jetzt nicht um globale Politik, sondern um das Problem, dass Demokratie schwach gegenüber ihren gleichgültigen Subjekten macht, wenn sie nicht eingebettet ist in den Eigentumsanspruch und die Mittäterschaft an der eigenen Gesellschaft. Und diese Ansprüche sind im Schwinden, manche reden ja schon der Postdemokratie.

Was wäre, wenn wir aus Auflehnung und zivilem Ungehorsam teilweise spiegelbildlich handelten, um uns zu schützen und zugleich der Demokratie in der Republik auf die Sprünge zu helfen? Was wäre, wenn das Schaffen von Demokratie nicht in jener Form geschähe, die wir als passable Grundlage weiterer gesellschaftlicher Dynamik uns vorstellen, wovon fast alle Parteiprogramme träumen und die an Feiertagen als verwirklicht herbeigelogen wird?

Als Einreiseverbot kann man alle Amerikaner fernhalten, die der NRA (National Rifle Association) oder dem Ku Klux Clan angehören. Das geht mit der Schutzbehauptung unserer Bevölkerung ganz einfach.

Das Fahrverbot für Dieselautos in Innenstädten kann man natürlich erlassen, wenn die verfassungsrechtliche Grundlage unserer Unversehrtheit höheren Stellenwert hat als die Wirtschaftskommunikation in Ballungsräumen.

Der Braunkohlestillstand kann binnen Jahresfrist verordnet werden, wenn man nur die sozialen Nebenerscheinungen finanziell abfedert (siehe meinen letzten Blog).

Waffenexporte kann man sofort stoppen und die Waffenproduktion auf die eigenen Sicherheitskräfte, oder im Rahmen der NATO und der EU Verteidigung beschränken.

Familiennachzug für Asylberechtigte und geduldete Flüchtlinge ist zahlenmäßig und vor allem im Aufwand ein geringeres Problem als die jetzige Regelung, die unmenschlicher ist als in vielen anderen Ländern. Und dazu aufwändiger und bürokratischer.

Dazu gehören auch Akte des zivilen Ungehorsams, die hier nicht im Detail beschrieben werden. Aber in diesem Widerstand kann und soll sich Gegengewalt ohne Gewalttätigkeit, aber unter Inkaufnahme von Widerstand seitens der Gewaltträger manifestieren. Versicherung dagegen gibt es keine, aber Schutz durch Solidarität.

HALT, schreit Ihr da auf. Der Katalog könnte unbegrenzt lange werden, und alles durch die Exekutive eingeleitet…? Wo bleibt denn da die Demokratie? Die Frage ist berechtigt. Die Ermächtigung der Handlungsträger zu Entscheidungen gegen Stimmung und Partikularinteressen geht in der repräsentativen Demokratie nur – ich würde gerne sagen „natürlich nur“, sags aber nicht, weil es nicht natürlich ist – wenn mit solchen Maßnahmen übergeordnete Ziele befördert werden, die ansonsten nicht, oder zu spät, oder verwässert erreicht würden (Klima, Hunger, Lebensrettung von Flüchtlingen, Menschenrechte in der Türkei etc. sind wichtiger als das Vertrauen einer Bevölkerung, die von all dem nichts oder zuwenig weiss – oder, und da ist die politische Widerstandandsansage: – nichts wissen will. Sie ist eben noch nicht im Prozess ihrer Konstituierung als Volk, von dem alles Rechts ausgeht. Kann alles Unrecht vom Volk ausgehen? „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ – schrecklicher Satz der deutschen Vergangenheit, neu auflebend aus der Asche bei Höcke, Gauland und Strache).

Der Notstand ist exekutiv. Und da sind wir an der gefährlichen Stelle, die ich angekündigt habe:  auch die Maßnahmen, die Vernunft und Umwelt diktieren, müssten natürlich – diesmal stimmt das Wort an der Stelle – legitimiert werden. (Nur: wie verhindert man, dass sie abgelehnt werden? Kampflos räumen die Partikularinteressen und die Verzichtsrealität nicht ihre Felder).

Also müssen wir sehr viel politischer werden. Den öffentlichen Raum in unsere persönlichen Handlungen hinein ausdehnen, wenn das sich gesellschaftlich vermitteln lässt; und unsere privaten Grundrechte in diesem Raum ebenso vehement verteidigen. Was wir beides nicht tun. Das sind Kennzeichen eines defizienten Republikanismus. Die Konsequenzen daraus träfen sich wohl mit vielen der zuerst abgetanen Programmen von Parteien und der Zivilgesellschaft, aber sie sollten mehr mit uns zu tun haben und nicht nur ozeanisch mit der Gesellschaft und der Welt.

Rudi Dutschkes wunderbarer Versprecher anlässlich der Feuerbachthese gilt: „…es kömmt aber darauf an, sich zu verändern“. (10.5.1968, ein paar Wochen nach dem Attentat). Gretchen Dutschke und andere bezeichnen dies als „bemerkenswerten Fehler“. Ich denke, das Unbewusste hat hier das Wort ergriffen, dieser Satz kann zur Politik werden. So wie Brückner auch meinte, es sei „die Pflicht des Gelehrten auch als Bürger tätig zu sein“. Nichts anderes meint unser Verhalten im Notstand.

NACHWORT

ich freue mich trotzdem über meinen Blog und meine Leser*innen. Diesen Text hatte ich begonnen zu schreiben, bevor die Brückner-Veranstaltung am 30.12.2017 in Oldenburg mir einen zusätzlichen Aufschwung gegeben hat, festzuhalten, was mich in diesen trüben Tagen umtreibt. Bei der Vorbereitung bin ich auf einen Vortrag gestoßen, den ich im Mai 1982 gehalten hatte, und den ich in eine Zitatensammlung und einen Auszug aus den Gerichtstexten zu Peter Brückners disziplinarischer Verurteilung 1980 eingebettet hatte. Dabei musste ich mich natürlich an mich selbst erinnern, vor 35 Jahren, also genau ein halbes Leben zurück. Die Lektüre und die Diskussion mit Simon Brückner waren unversehens zu einer Selbstermutigung geworden. (Der Text ist längst vergriffen, war damals von der GEW aufgelegt worden, die Brückner auch in seinem Prozess unterstützt hatte: Bezirksverband Lüneburg, Arbeitsheft 10, 1982). Aber es ist auch die Erinnerung an das Gelungene, das die Gegenwart erträglicher macht.

 

 

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