Orthodox. Peinlich.

 

Vor Jahren gab es eine heftige Debatte auf einem Grünen Parteitag, bei der gestritten wurde, ob man nun der Beschneidung für jüdische Knaben aus Gründen der Religionsfreiheit zustimmen oder sie aus Gründen der Unversehrtheit und des freien Willens von Kindern und Erwachsenen ablehnen sollte. Es war eine ernsthafte Debatte, ich war zu Wort gemeldet, wurde aber nicht „gezogen“, wie das  demokratischen Rednerlisten oft der Fall ist.

Nun kocht die Debatte wieder hoch, nachdem die Bundesregierung damals für religiöses Beschneiden den Tatbestand der Körperverletzung straffrei stellte. Das gilt dann nicht nur für jüdische, sondern auch für muslimische Jungen. Selbstverständlich kann keine Religion weibliche Genitalverstümmelung als Freiheitsrecht in Anspruch nehmen. Die Debatte über Gleichheit der Geschlechter ist hier eine bösartige Falle.

Orthodoxe Vertreter*innen beider Religionen beharren darauf, dass die Beschneidung etwas mit der unbedingten Doxa der jeweiligen Religion zu tun hat und für einen „richtigen“ Juden/Muslim sein müsse.

Ich komme auf die Beschneidung zurück. Zunächst aber: was dürfen uns Orthodoxe jeglicher Denomination sagen, was haben sie im Rechtsstaat zu sagen und was darf man ihnen nicht durchgehen lassen? Und: warum ist das auch persönlich, und überschreitet die Schwelle vom Öffentlichen ins Private und umgekehrt in – für mich jedenfalls – unerträglicher Weise.

*

Vor einigen Jahren hatte ich mit einer sehr guten Freundin einen folgenreichen Streit: ich mokierte mich über ein Buch eines Bekannten, der in Imitation jüdischer Geschiten ein kitschiges Bild eines letzthin mit der Welt versöhnten orthodoxen Juden zeichnete. Meine Kontrahentin berief sich auf sein, des Schreibers, Recht auf Meinungs- und Kunstfreiheit, und sah in meiner (milden, wahrlich!) Kritik einen Angriff in der Art, wie ihn Antisemiten gegenüber den damals noch häufigeren alten mitteleuropäischen Juden in ihrer Tracht übten. Das letztere meinte sie ein wenig zu ernst, als dass ich es auf sich beruhen lassen wollte, allerdings haben wir beide darüber nicht mehr geredet.

Kurz nach diesem Streit stand ich an der Straßenbahn in Wien – es war Abends – da fragte michein höflicher älterer Herr: Sind Sie ein Rabbi? Verblüfft fragte ich zurück: warum? Weil Sie so ausschauen.

Dunkler Hut, dunkler Mantel, damals noch dunkler Bart. Wir unterhielten uns belanglos, aber freundlich. Nein, ich bin keiner, und viele meiner rabbinischen Freunde und Bekannten sind bartlos und hutlos und überhaupt…

(Ich weiß nicht, wie oft es vorkommt, aber von einigen Fällen weiß ich es: bei einer ersten sexuellen Begegnung fragt die Frau: Bist du Jude? Immerhin, eine spannende Nuance in der sich anbahnenden Beziehung).

Wie hängt das alles zusammen, wenn man an die derzeitigen Umstände der Welt, vor allem Europas im weiteren Sinn, also inclusive des Mittelmeers schaut? Rechtsradikale und Naziregierungsbeteiligung in vielen Ländern, nicht nur in Österreich und Mitteleuropa; bis Norwegen regieren diese Menschen mit. Eine rechtsradikale Regierung im demokratischen Israel, das nun, wie Österreich und viele andere Länder eine ganz passable demokratische Republik ist – und ebenfalls ein säkularer Rechtsstaat. Und überall, also nicht nur in diesen Ländern, wachsender Antisemitismus; das lässt sich belegen und ist nicht wiederkehrende Leier, der neue Antisemitismus habe nur den alten abgelöst (was falsch ist). Antisemitismus ist Antisemitismus.

Da schaut man natürlich genauer hin, was in den jüdischen Gemeinden (Community UND Congregation, also gesellschaftlich und religiös) sich dazu abspielt, und wie die Öffentlichkeit sich verhält, wie die Medien reagieren, und wie der Diskurs zum Judentum sich entwickelt.

In Israel nun, erlaubt die Regierung seit langem, dass sich die ULTRA-orthodoxen Kräfte zu Lasten der orthodoxen, konservativen, liberalen Religiösen und der Säkularen ausbreiten, v.a. durch Vermehrung und ungehindertes echt auf Agitation und Beeinflussung der Regierung (Man sitzt ja mit am Tisch). ULTRA heißt: sektiererisch dogmatisch, den Anspruch auf alleinvertretende Interpretation der heiligen Texte und vor allem: die Lebensführung aller anderen wird als Anathema abgelehnt oder direkt physisch und verbal angegriffen. Alles im Namen eines „Gottes“, der sich nicht wehren kann – und noch nie gewehrt hat. Diese ULTRAS tun sich durch Untätigkeit der Männer und schwere Arbeitsbelastung von Frauen, aber vor allem durch deren Degradierung zu Gebärmaschinen hervor, weshalb der Anteil der ULTRAS an der Bevölkerung wächst. Nun haben diese ULTRAS eine eigene Website geschrieben, man ist ja modern, in der Frauen und bestimmte Bilder nicht vorkommen, dafür die Dogmatik der Sekte. Das Internet hilft hier nachprüfbare Information, vor allem auch über den Widerstand gegen die ULTRAS in Israel selbst zu erlangen, und zu sehen, worin der Protest besteht. Da geht es nicht nur um Meinungsfreiheit, sondern auch um das Verlangen, die Ultras sollen Wehrdienst leisten und nicht nur vom Schnorr leben.

JEDE Religion, zumal die monotheistischen Spielarten, hat ihre Orthodoxien. Die christliche kennen wir auch, sie ist bei uns nicht so zahlreich: aber was radikkal sich von OPUS DEI bis zum ENGELWERK absetzt, ist schon schlimm; und was der ISLAM bietet, vom IS zu den Salafisten und vielen Muslimbrüdern, ist auch nicht besser, im Gegenteil. Die Dialektik von Orthodoxie und allen Spielarten von Refoortmation ist der ewige Kampf zwischen der Religion und der säkularen Gesellschaft, auch ihrer Entwicklung.

Das Grundübel der Missinterpretation von Religionsfreiheit ist, dass sie nicht zwischen Glauben und Religion unterscheidet. Glaube ist unverfügbar, noch unter der Folter. Religion aber war und ist ein gesellschaftliches Ordnungssystem, das sich über andere zu erheben meint – Familie, Staat, Militär, die Verhaltencodes der Zivilisation – indem sie sich auf ein Transzendentes – „Gott“ beruft“, und der ist ja wirklich unverfügbar, also können die Religionsführer jede Art von Herrschaft aus der Interpretation des göttlichen Willens ziehen. Wenn sie die Macht dazu haben. Aber: siehe Bittner im nächsten Absatz. Da sei das Grundgesetz vor. So weit so schlecht. Man muss  der Religion strenge Zügel anlegen.

Womit ich wieder bei der Beschneidung bin. Anlass ist eine Kontroverse, bei der ein muslimischer Vater gegen den Willen der Mutter den gemeinsamen Sohn hat beschneiden lassen. Die Sache liegt zu Recht beim Gericht. Jochen Bittner hat einen gut recherchierten Artikel dazu geschrieben: „Beschneidung überdenken!“ (ZEIT 12, 13.3.2018, S.9 – zu Recht unter Poliitik und nicht im Feuilleton). Sein Schlusssatz ist wichtig und Richtig: Vor den Gesetzen der Logik muss sich religiöse Praxis nicht rechtfertigen. Vor dem Grundgesetz schon“.

Es geht dabei um drei Sachverhalte: um die nachweisliche und unbestreitbare Körperverletzung – der Zweck, das religiöse Ritual – macht sie nicht weniger verletzend; um die möglichen physischen und psychischen Folgen für das gesamte Leben des Kindes (erschreckend viele Folgen, die oft lebenslange physische und psychische Deformationen und Beziehungsprobleme nach sich ziehen); und das Selbstbestimmungsrecht des späteren Erwachsenen, der ja eine Beschneidung nicht rückgängig machen kann. Das ist nicht bei Bittner hinlänglich zusammengefasst, sondern vielfach kommentiert. Mir geht es um etwas anderes , zusätzlich und bedrückend:

Die orthodoxen Eltern können sich nur als „gute=richtige“ Muslime/Juden fühlen, wenn ihr Kind beschnitten ist. Das ist ein so ungeheuer schwachsinniger und blasphemischer Anspruch der Verfügung über einen anderen Menschen, dass er schon deshalb ausgeklinkt werden muss aus der Religionsfreiheit; wenn er das Ergebnis von Glauben, also Textinterpretation (was anderes ist Glaube ja meist nicht) ist, dann ist die Glaubensgemeinschaft etwas primitiv, aber so sei sie. Wenn aber die lebenslange Verstümmelung (weibliche Genitalien, Vorhaut) als Teil der Rechtgläubigkeit ausgegeben wird, entsteht eine Gegengesellschaft, die der solidarische, kollektive Rechtsstaat nicht dulden kann. Die kritische Antwort auf Bittner übrigens, in der ZEIT 13 und intensiv im Netz, sagt nur eines: Beschneidung hat mit dem Glaubenssubstrat des Judentums (und in später Nachfolge des Islams) nichts oder nur sehr wenig zu tun, abgesehen davon, dass sie IMMER umstritten war, auch bei religiösen Menschen und im heutigen Israel natürlich auch.

Deshalb bin ich gegen jede Orthodoxie (übrigens unterscheiden sich Religionsgemeinschaft hier kaum von autoritären politischen Bewegungen und Parteien). Wenn es die Orthodoxen so wollen, setz ich eine Kippa auf an bestimmten Orten oder bei bestimmten Gelegenheiten. Der Unterschied zur Körperverletzung ist hier evident. Man muss nicht auf allen Ebenen streiten.

Das peinliche an der Sache ist: die Unterwerfung der Glaubensfreiheit unter die Freiheit zur Ausübung praktisch jeder religiösen Praxis ist nicht das Ergebnis der Aufklärung, der Erklärung der Menschenrechte, sondern ihre Nivellierung. Keine Religionsgemeinschaft hat das Recht, in die Herrschaftsgefüge der demokratischen Republik einzugreifen.

Wer meint, den Körper eines Menschen verletzen zu müssen, um Gott – einem Gott – gefällig zu sein, hat eine sehr geringe Meinung von diesem.  Mit dem Argument ärgere ich die Orthodoxen; die Ultras aller Konfessionen aber muss man nicht ärgern, sondern mit dem Strafrecht verfolgen.

 

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