Krieg in und um Europa?

Viele meiner Leser*innen wissen, dass ich weder kriegshysterisch noch kulturpessimistisch bin. Finis terrae meint mehr als nur eine Gefahr für unsere menschliche Zivilisation auf der wohl einzigartig bewohnbaren Erde.

Europa ist nicht mehr das Zentrum der politischen Zivilisationen (das Zentrum der Kulturen war es schon lange nicht mehr). Ursachen und Anlässe der Ersten und Zweiten Weltkriegs haben eines erschrekcend gezeigt: wie drastisch der Tanz auf dem Vulkan vor Kriegsausbruch jeweils die Diskurse bestimmt hatte, und doch kam dann alles ganz schnell und unaufhaltsam. Nichts Rettendes nahte sich, der Spaß verging den Klassikzitierern.

Die Planungen für  den Vietnamkrieg hatten Europa schon ausgeblendet, die europäischen Kriege der Sowjetunion und der Russen sind nach 1945 immer ganz bedrohlich nahe gerückt, die Entkolonisierung in weiten Teilen der Erde hat Europa immer stark betroffen, mit einem seltsam nachhinkenden Bewusstsein.

In vielen Blogs habe ich die Vorkriegszeit versucht zu beschreiben. Nun sollte ich mit der Partei, der ich angehöre, eine Reise nach Brüssel zu den EU Institutionen machen, bin beruflich verhindert, und hatte mich darauf vorbereitet. Die Vorbereitung habe ich meinen Parteifreunden und -freundinnen zur Verfügung gestellt, und ohne explizite Parteibezüge hier abgedruckt.

Ich kann auch davor warnen, hier kassandrisches oder schwarzmalerisches zu vermuten. Wer meint ich hätte nicht genug drastige „Belege“ für meine Kriegsangst, soll mir sagen, wo es Gründe zur Zuversicht gibt. Trump & Kim? Salvini? Seehofer? Putin oder die WM? sucht und sagt an.

Noch etwas: ich habe, getreu einem Themenstrang dieses Blogs, einen Brief an Frau Kanzlerin Merkel vorbereitet, worin ich sie um Rücknahme ihres Abschiebungsvotums für Afghan*innen bitten wollte. Ich stelle das zurück, weil die Auseinandersetzung um deutsches oder europäisches Recht sehr viel wichtiger ist.

Europa vor dem Krieg oder schon im Krieg?

Der Kampf um Worte und Begriffe begleitet seit jeher alle Politik, und wo er die Grenze des Privaten überschreitet, ist dieser Kampf politisch. Wenn die kalkulierte Verletzung von Regeln des Diskurses selbst Politik wird – was keineswegs nur bei den populistischen Parteien oder Agitatoren der Fall ist – dann sollten wir uns der Beziehung dieser Diskurse zum sich abzeichnenden Geschehen genauer ansehen.

  • Wir sind zu langsam (mit der Klimapolitik – die Folgen von 2 Grad + werden wir und unsere Kinder noch erleben, mit der Abrüstung – die Atomuhr steht zur Zeit auf 2 Min vor 12, wir waren schon bei 17 Minuten)
  • Wir polarisieren den Widerspruch zwischen Expertise und „Volkswillen“. Alle Parteien in fast allen Ländern berufen sich auf den Volkswillen, wenn Entscheidungen unpopulär sind oder auf Widerstand stoßen. Auch das europäische Volk muss sich erst weiter als solches konstituieren, bevor sein Wille ein durchschlagendes Argument ist. Das ist, zugegeben, ein wirklich schwieriges verfassungspolitisches Argument, das aber die Trennung von Ethnos und Demos auf politischer Ebene auch bewerkstelligen lässt.
  • Wir verschwenden bzw. ignorieren Wissen. Es ist ein Missverständnis, den Menschenverstand von Versammlungen und unvorbereiteter Deliberation als „Basisanspruch“ dem Expertenwissen entgegenzustellen. Das „Mitredenkönnen“ erfordert viel kulturelles und soziales Kapital, und Abkürzungen führen – auch bei Grünen und anderen Demokraten – zu negativen Ausfällen gegen das Establishment und die Eliten.
  • Europa ist so positiv besetzt, dass man meint, auf seine Konturen und Eigenschaften verzichten zu können. Das ist Kern einer Diskussion, die weit in die linke und aufgeklärte Begriffsgeschichte, aber auch in die Politik der europäischen Einigungen des 20. Jahrhunderts hineinragt. Die wichtigsten Elemente, auch in der Heimatdiskussion, sind die Konstitution politischer Räume immer in der Zukunft (vergangene Vorbilder gibt’s nicht, nur Erinnerungen, von wegen christliches Abendland); die territoriale politische Bestimmung konstituiert immer ein „Außen“ mit, z.B. was die Türkei, Ukraine, den Maghreb angeht, oder auch Israel als europäisches Land).
  • Daran zeigen sich auch die eigenen ideologischen Schranken. Auch in den besten Programmen gibt es „Subtexte“, die Vorlieben und Abneigungen der programmatischen Avantgarde beinhalten, nur halt nicht gut sichtbar und oft subtil. Diese Form der Selbsthinterfragung hat wenig zu tun mit der schematischen „Selbstkritik“ linker Engstirner oder Unterlegener bei Abstimmungen. Wie sollte es diese Ressentiments, Vorurteile, Fehlurteile etc. nicht geben? Man muss hier keinen Jahrmarkt der Entblößung machen, aber schließlich geht es hier um Krieg und Frieden. Wenn ich unten über die Lüge schreibe, dann heißt das nicht, dass wir uns selbst über unsere inneren Motive und Ansichten auch belügen müssen. (Ein europäisches Beispiel: weiße, ökonomisch dynamische Migrant*innen werden v.a. von den expliziten Migrationsfeinden gar nichts in Kalkül ihrer fremdenfeindlichen Politik genommen, sondern dort regiert immer nur der Dreiklang Armut, Religion, Hautfarbe. Das ist aber nicht einfach neokolonial oder biologisch-rassistisch (die gibt’s auch), sondern zeigt eine tiefsitzende Unkultur der sozialen Einseitigkeit und des fehlenden sozialen und kulturellen Kapitals (s.o.).
  • Wir sind zu tolerant gegenüber (Verlust)ängsten. Wo es keine Ursachen für Ängste gibt, kann man klärend eingreifen, bestenfalls therapeutisch, aber man soll nicht verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt. Ängste werden von denen instrumentalisiert, die an die Ordnung der Deliberation und der Diskurse die Axt anlegen wollen.
  • Wir = Ich und meine Leser*innen. In diesem Fall meine grünen Parteifreund*innen, die ich gerne nach Brüssel zu einer Informationstagung begleitet hätte, bin aber verhindert; und meine Blog-Leser*innen. Wir Europäerinnen und Europäer. Das Hauptargument wäre, einem Weltbürgertum eine weltbürgerliche Kultur zuzuordnen, deren Prinzipien und Tugenden sich aus dem republikanischen Verständnis ergeben.

Um den eigenen Prinzipien treu zu bleiben, schreibe ich über den Rahmen einer Diskussion von Krieg und Frieden. Es geht dabei natürlich um mehr als die zivile Krisenprävention, bei der wir viele gute Expertise besitzen und ausnutzen sollen, es geht um kollektive Verhaltensänderungen – sozusagen die Verallgemeinerung der Mülltrennung und friedensschaffenden Projekte, ohne sich des Privaten völlig zu entledigen), und es geht um den Mut, auch fehlerbehaftete oder fehlerfreundliche Experimente in den Sand zu setzen. (Die Rechten, die Populisten und andere tun das dauernd, und das wird ihnen am wenigsten angelastet….).

Seit sich der Streit im Welthandel zu spitzt, ist beispielsweise der Klimadiskurs in den Hintergrund gerückt. Der Widerstand gegen das eklatante Hinauszögern der formal vereinbarten Politikziele ist weniger sichtbar, weniger artikuliert, seit die Auseinandersetzung um die US amerikanische Politik den politischen Diskurs dominiert. Ebenso hat die Diskussion über das Verhalten von Flüchtlingen und Asylbewerber*innen die Diskussion über Fluchtursachen verdrängt.

Das sind zwei Beispiele von vielen. Mit dem ersten ist auch erklärbar, weshalb die gewalttätige Fusion von Bayer (Deutschland) und Monsanto (USA) letztlich so geräuschlos vor sich ging, und aus dem zweiten Beispiel kann man sehen, wie dünn die Tünche der Menschlichkeit über dem formalen Gesetzesrahmen liegt.

In dieser Situation hat die Kanzlerin in einem langen Zwiegespräch am 10.6. einen ganz wichtigen Satz zweimal betont; sie sprach vom Vorrang der europäischen vor der nationalen Gesetzgebung in der Frage der Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen. Ich halte diesen Satz für ebenso richtig wie folgenreich für eine Politik, die ja nicht nur die Bevölkerung, sondern deutlich auch die politischen Parteien spaltet. Wir müssen kein nationales Recht haben, wo es nicht eine Avantgarde für die anderen Europäer ist. (Wenn im konkreten Fall restriktives Asylrecht europaweit droht (siehe ProAsyl), dann kann der nationale Widerstand Politik mit und gegen die andern Europäer machen, nicht umgekehrt.

Europa muss sich nicht „neu erfinden“; auch so eine gefährliche Floskel. Die Konflikttheorie zeigt, dass aus jedem regulierten Konflikt neue Konflikte hervorgehen, und dass die Beständigkeit der immer wieder stattfindenden Regulierung eine Bedingung von und für Frieden ist. Nicht nur für Frieden: denn ebenso wichtig ist die immer wieder ausgehandelte und legitimierte Schaffung und Anerkennung von Regeln, die durch Institutionen vertreten und garantiert werden.

Die Gefahr gewaltsamer Erosion von Gesellschaftssystemen, die Gefahr von Krieg, wächst, mit dem Verfall von institutioneller Autorität und der vereinbarten Sanktionen. Die derzeitige globale Situation der Politik ist gekennzeichnet durch

  • Den Abbau institutioneller, formaler Regeln zugunsten personalisierter Herrschaftssysteme. Dies gilt auch für einzelne Länder der EU, (Ungarn, Polen, u.a. machen das deutlich). Außerhalb der EU sind die drei „Großen“ USA, Russland und China Beispiele für diesen Befund, und viele „Kleinere“ folgen.
  • Dieser Ersatz von Institutionen durch Personen ist auch nicht neu. Die unterschiedlichen Führerprinzipien sind rechts wie links immer wieder aufgelegt worden, und sie sind erfolgreich, wenn in der Bevölkerung drei Komponenten zusammenkommen:
  • Eine Fatigue de democracie (Demokratiemüdigkeit, Begriff von Pascal Bruckner), die meint, demokratische Verfahren würden die politik-ermächtigten Bürger nicht mehr erreichen, weil deren Anliegen aus vielen Gründen nicht mehr im Fokus der tatsächlich Herrschenden lägen;
  • Das Fehlen des Volkes, von dem das Recht ausgeht. Es gibt eine Bevölkerung, die es zunehmend verabsäumt, sich als Volk republikanisch zu konstituieren, um legitim in der öffentlichen Verhandlung die Regeln ständig zu überarbeiten und durchzusetzen;
  • Die Errichtung zunehmend gleich=gültiger individueller Ansprüche auf politische Geltung: d.h. jedes Anliegen, wirkungsvoll vorgebracht, ist gleichberechtigt.

Wenn jetzt ein Führer oder eine Führungsclique auftritt, die diese drei Komponenten für sich als Alternative nutzt, muss sie gar nicht populistisch auftreten. Populismus ist ein Modus, dessen Kritik oft auch populistisch ist (z.B. in vielen Teilen der Linkspartei gegen die rechten Populisten).

Von hier aus kann man eine ganz gute analytische und kritische Gegenwartsdiagnose beginnen.

Ich möchte aber zwei Aspekte herausgreifen und in eine andere Richtung argumentieren

 

 

KRIEG           < —————-   >        EUROPA

 

In der globalisierten Welt und der mit ihr verbundenen globalen Innenpolitik ist es müßig zu fragen, wo Kriege ihren Ausgangspunkt finden. Aber wenn die drei genannten Elemente weltweit in unterschiedlichem Maße und unvorhergesehen sich entwickeln, gar expandieren, dann ist das hochgefährlich.

(An dieser Stelle Kritik an vielen Politik- und Militärwissenschaftler*innen: sie konstruieren immer mehr Modelle, wie und warum es zu gegenwärtigen Situationen gekommen ist, versäumen aber politische Antworten auf politisch gestellte Fragen. Umgekehrt erfolgen politische Entscheidungen trotz scheinbarer Beratungsoffenheit weitgehend empirisch und systematisch unfundiert – Trumps offen angemeldeter „Intuitionismus“ (eigentlich: „my original instinct“) ist dafür nur ein Extrembeispiel). (siehe Jörg Probst „original instinct“, Marburg 2017))

Ich behaupte, dass wir uns an der Schwelle zu einem Krieg befinden und dass Europa dabei eine für sich, also auch für uns, prekäre Situation zu überwinden hat.

Es gibt viele Gründe, große Kriege nicht mehr in den Mustern der Kriegsgeschichtsschreibung bis Vietnam zu beschreiben. Es sind auch nicht die „neuen“, asymmetrischen Kriege, die den Unterschied machen. Die Felder der Auseinandersetzung sind nur in den seltensten Fällen (Ukraine, Krim, südchinesisches Meer) Territorien. Es geht um

  • Indirekten Einfluss auf die Normen und Regeln von Gesellschaften, die man in zunehmende Abhängigkeit bekommen will, wenn man kann.
  • Die Abkürzung geregelter Verfahren zur Kriegsvermeidung und Krisenprävention durch unmittelbare Ausübung von Herrschaft.
  • Die Dekonstruktion der Lüge als politisches Machtmittel. Die Lüge wird ersetzt durch die alternativen Fakten und den Bruch jeglicher Vereinbarung, die ja auch, unter anderem, auf Unwahrheiten beruht.

Dieser Aspekt mag erstaunen. Aber seit Hannah Arendt ist es in der Politik deutlich, wie sehr Lüge zur Ausübung von Kommunikation und Macht gehört. Ein gutes Beispiel ist die Lüge von „gemeinsamen Werten“, die uns. Z.B. mit den USA verbindet, die „Westen“ eint, oder aber die uns seit langem den nicht-westlichen, z.B. russischen Werten nahebringt. Zählt diese Werte einmal auf -es sind nicht nur nicht viele, meistens sind es gar keine Werte, sondern Tugendkataloge. Das ist nicht trivial, wenn die NATO auch als Wertegemeinschaft dargestellt wird und nicht nur ein Militärbündnis ist. Am deutlichsten wird dies bei uns, wenn wir den „christlichen“ Volksparteien erlauben, gegen den unterstellten Wertekanon ihrer Religionen und damit gegen Menschenwürde und Schutzverpflichtungen zu handeln. Söders Kreuz ist nur die Spitze der Lüge in diesem Kontext.

Was ich damit sagen will ist, dass wir – und zwar differenziert „alle“ – mit der dauernden Lüge im politischen Diskurs politisch arbeiten müssen.

Mit Krieg hat das viel zu tun: wie schnell ist die Solidarität des Proletariats in Europa 1914 zerfallen….zugunsten eines Nationalismus, bei dem die unteren Klassen nichts zu gewinnen hatten. Nach dem Krieg gab es wieder mehr republikanische Werte.

  • Die Hoffnung vieler, keineswegs nur Machthaber, dass durch erzwungene Gewalt, totale/totalitäre Kontrolle, funktionale Ungleichheit eine „Reinigung“ geschieht (völkisch, wie bei der AfD; durch Brot und Spiele anstatt lebenslanger Grundsicherung in populistischen Systemen (das ist z.B. der Vorsprung von Putin in der Bevölkerung: minimierte Kritik); durch „illiberale Demokratie“ wie bei Orban (mit dem Extrem als Perspektive „Ich liebe den Großen Bruder“ (aus 1984) wie in China). Das Säuberungsmotiv steht häufig vor Revolutionen und nicht erst nach der Machtergreifung.

Europa ist anfällig für all das, weil wir noch nicht die Vereinigten Staaten von Europa sind, die EU also nicht ein Akteur im Spiel sein kann. Die Versäumnisse von und nach Maastricht sind erheblich, die Hoffnung auf Subsidiarität im nationalen Rahmen ist de facto unaufgeklärtes Versäumnis, aus den Folgen des Zweiten Weltkriegs nachhaltige Konsequenzen zu ziehen.

Dass bei den gescheiterten Verfassungsreferenden in den Niederlanden und Frankreich nicht politisch nachgesetzt wurde, war ein Fehler. Dass die europäische Verfassungspotenziale nicht bei der Aufnahme der postsowjetischen Neumitglieder EU verbindlich durchgesetzt wurden, war ein noch größerer Fehler. In den neuen alten Nationalismen wachsen die potenziellen Unterstützer für die möglichen Kriegsparteien.

Nation (alismus) und der Vorrang von Religionsfreiheit vor den Menschen- und Bürgerrechten sind zwei Trigger, die die Hemmschwelle für den Einsatz von Gewalt in der Gesellschaft und damit für den Staat senken. Zum  ersten ist viel gesagt, und wahrscheinlich können wir im Friedenslager hier schnell Einigkeit erwarten. Supranationale Bündnisse mit hinreichend abgesicherten Verträgen und Sanktionen sind ja noch möglich. Aber dazu muss z.B. auch gehören, dass sich Deutschland nicht einfach über den Sitz im Sicherheitsrat freut, sondern dass die Reform der VN und das Ende der Fünf-Veto Blockade eine Bedingung für die aktive Mitarbeit in den zentralen Gremien würde, einschließlich einer starken VN-Armee ohne die Rekrutierungskompromisse für dringende Blauhelmmissionen.

Bei der Religionsfreiheit sehe ich noch eine große Kriegsgefahr. Glaubensfreiheit gehört unveräußerlich zur Menschenwürde. Aber nicht dazu gehört die Rechtfertigung von Krieg und Diskriminierung im Namen eines Glaubens durch eine Institution, deren Regeln dem Grundrechtskatalog nicht folgt. Im Namen von Christus zu morden und zu diskriminieren ist ebenso wenig geschützt wie in Allahs Namen. (Wenn ihr fragt, wo denn heute offen im Namen von Christus gemordet wird, dann kann ich ebenso viele konkrete Beispiele aus allen Systemen wie die augenfälligeren im Namen Allahs). Vergesst nicht, fast alle Kriege waren eher für Gott und Vaterland als für den Führer und das Vaterland, die allerdings furchtbar auch.

Nun werdet ihr fragen, wo denn die Kriegsgefahr sei. Da ich kein Kulturpessimist bin und kein Katastrophenprediger, gehe ich ganz behutsam vor:

  • Flucht vor Klimaveränderungen und indirekt hoffnungsloser Armut wird die Abwehrpolitik Europas (Festung ist absurd, „sichere Länder“ sind fast schlimmer als neokolonial Politik, weil ihre Stabilität von uns nicht gewährleistet werden kann); wir sind hier im Modus der à Time of Useful Consciousness[1]. D.h. dass wir politisch und militärisch nicht viel Spielraum haben flexibel zu reagieren;
  • Für Europa ist es nicht einfach eine Asyl-, Flüchtlings- und Integrationsfrage, sondern ein Globalisierungsauftrag. Also nicht Fluchtursachen (allein) bekämpfen, sondern Lebensumstände nachhaltig verbessern, was weniger Gewalt, aber mehr Verzicht von uns fordert.
  • Wenn der Krieg in MENA, der zur Zeit in einer Latenzphase ist (Iran-Saudi Arabien, Syrien, Kurden) weiter realisiert wird, müsste Europa nicht eingreifen, um doch einbezogen zu werden (Unsere Waffenproduktion, unsere Bündnisverpflichtungen (NATO-Türkei) sind schon dabei. Der Widerstand im Inneren dagegen kann nicht nur verbal bleiben; jeder Politikwechsel muss aber in Kauf nehmen, dass wir uns auch der Gewalt aussetzen. Ich befürworte keine massive Aufrüstung,  aber es muss klar sein, dass eine Emanzipation von der NATO Politik auch militärische Potenzial betrifft und wir schon auch Schutzverantwortung z.B. gegenüber dem Baltikum oder der Ukraine haben.
  • Wenn der Krieg in Südostasien oder Zentralasien eskaliert stellen sich ähnliche Fragen. Ich habe seit Jahren das Beispiel Afghanistan pars pro toto analysiert und mitgeteilt. Es gibt aber keine europäische Zentralasienpolitik, und dir müsste es geben um nicht nur auf die Seidenstraße, sondern auch mit unserer Haftung für den Konflikt zu reagieren (Iran-Abkommen, Afghanistan Intervention…).
  • Ich halte den Einsatz taktischer Atomwaffen seitens der großen Akteure und seitens kleiner Besitzersolcher Waffen für sehr wahrscheinlich; ihr Gebrauch wird dadurch plausibel, weil es nur mehr wenig Widerstand aus Erinnerung an die großen Bomben und Tests im Nachkrieg besteht und die Folgen jedes einzelnen Einsatzes unterschätzt werden (weil – siehe Oben – die Rüstungskontrollverträge ja gar nicht mehr bei den großen Akteuren bindend sind).
  • Die Zivilgesellschaft kann sich eine Konfrontation mit dem Staat und den großen Institutionen noch so wenig vorstellen, dass sie kein Hindernis für die kriegsfähige Autokratie ist.

Europa muss sich der Konfliktregulierung im eigenen Bereich widmen und sich nicht durch das Außen ständig definieren lassen (das geschieht außenpolitisch sowieso, ich spreche aber von der globalen Innenpolitik, und da gibt es uns Europäer noch…). Zu dieser Regulierung gehören auch Institutionen, die in der Lage sind, Sanktionen wirkungsvoll zu definieren und durchzusetzen.

  • Viele deutsche Europapolitiker*innen wissen um dieses mühsame und unvermeidliche Geschäft. Um der Falle des Ersatzes von Institutionen zu entgehen, sollten sie die Bevölkerung
  • Über die bedrohlichen Potenziale und die Kriegsgefahr informieren und aufklären (keine Hysterie, aber deutlich machen, was wer im Falle eines Krieges zu verlieren hätte).
  • Alternativen und Modifikationen der bestehenden Bündnisverpflichtungen im militärischen und wirtschaftlichen Bereich bedenken (das heißt nicht gleich raus aus der NATO, aber doch Fokus auf einer europäischen Verteidigung)
  • Adäquate Vertretung Europas in allen multinationalen und multilateralen Organisationen (da sind wir, können aber mehr, z.B. in der Judikatur)
  • Was das Klima betrifft, Aufbau einer politischen Ökonomie Europas, die nicht auf eine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie hofft, sondern eine politische Ökonomie der Ökologie zum Maßstab europäischen Handelns macht.

Zu all dem gibt es eine Vielzahl von Texten, Vorschlägen und teilweise sehr sinnvollen Programmdiskussionen. Warum denn gleich vom Krieg reden, wenn doch Feuilleton, politische Analysen und das Kabarett so viel genauer und besser als früher die Situation verständlich machen? Das hatte man nach  Sarajevo 1914 auch gesagt, und erst recht nach der Münchner Konferenz 1938. Der Krieg wird wahrscheinlicher, wenn unsere Demokratie schwächer wird, nicht, wenn unsere Sicherheit die Freiheiten weiter einschränkt. Weil wir dann immer weniger wissen, was wir wozu verteidigen sollen. Gut essen kann man auch in der Illiberalen Demokratie Orbans, wenn und weil gerade nicht auch noch Flüchtlinge am Tisch sitzen.

Ich wäre froh, wenn ich irrte. Aber den Gegeneinwand, dass wir ja gewappnet seien gegen Krieg und Aggression, lasse ich so lange nicht gelten, als die Instrumente und Praktiken friedlicher Entwicklung nicht auf der Basis eines legitimen Machtanspruchs eingefordert werden. Diese Liste im öffentlichen Raum zu programmieren, kann Europa vor allen andern großen Akteuren auszeichnen. Sie beinhaltet auch genügend Abwehrmechanismen um nicht faule Kompromisse zu befördern.

[1] Begriff aus der Fliegersprache, politische Metapher in der Klimadiskussion weit verbreitet.

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