In finsteren Zeiten gehen wir gerne ins Kino oder zum Festival oder – in den Zirkus. In irgendeiner Weise müssen wir uns vom Druck ernster und wichtiger – das ist nicht dasselbe – Handlungen und Ereignisse kurzfristig befreien, weil wir darin auch die Freiheit sehen, die wir erstreben. Natürlich ist sie es nicht, aber sie bringt uns ihr näher.
(Wenn sich in den Schützengräben die Soldaten gegenseitig sich am nächsten Tag wieder abschlachten, ist das eine Variante der illusionären Befreiung).
Zirkus. Passt heute mehrfach in die Diskussion. Für mich, als Kind an der Schwelle zur Adoleszenz der Ort, wegzukommen. Die Nomaden mit ihren Verheißungen, mit den Mädchen, die bei der Vorstellung in Badeanzug mit einem Nummernstern den nächsten Programmpunkt anzeigten und am Nachmittag zwischen den Wohnwagen sichtbar einem anderen Lebensrhythmus folgten als ich. Von daher ein lang wirkendes Schönheitsideal. Sie zogen weiter und würden in einem Jahr oder etwas früher wiederkommen, jeweils der größere Zirkus („Staatszirkus“ Rebernigg, oder kleinere), immer wieder die Hoffnung auf das Fort-von-hier bringend und mit sich nehmend.
Mein Bruder Georg hatte vor mehr als 15 Jahren begonnen, ein Zirkusfestival in Salzburg als veriatble Gegenveranstaltung zu den Salzburger Festspielen aufzubauen, als „Winterfest“ von November bis Januar zieht dieses Ereignis jährlich über 30.000 Menschen an, – wie sagt man: eine Institution. Von weither kommen die Artistinnen und Clowns, berühmte Namen dabei wie Victoria Chaplin, Tiger Lillies, Trottola, Seven Fingers …schaut selbst nach www.winterfest.at
Als mein Bruder 2014 plötzlich verstarb, hatte das Winterfest überlebt, es ist anders geworden, ohne seinen spiritus rector, aber meine Schwägerin hat eine Entwicklung daraus abgezweigt und hinzugefügt: eine Zirkusschule. (Alles für Österreich einzigartig und einmalig, und gut und wichtig; aber mir geht’s hier um etwas anderes: der Zirkus verheißt eine Freiheit, an deren Zugang, anderen Befreiung man selbst teilnehmen muss, um sie zu erahnen).
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Die Zigeuner[1] kommen – gehen wieder fort; die Jongleure und Jahrmarktartisten kommen und ziehen den Schaustellern nach; seit der Antike und immer wieder, und sie hinterlassen nicht nur üble Nachrede, gebrochene Herzen und eine seltsame Mischung aus Sehnsucht (mit ihnen wegziehen) und Widerstand (besser, wir bleiben). Die Romantik der Unsteten, die dann doch nie wirklich zuhause sind, ist dünnschalig und verdeckt, was sich eigentlich von selbst anbietet: Ungleichheit, Ortlosigkeit, eine andere Form von Heimat als die der Heimeligen, und wer weiß, nach welchen Orten sich der Zirkus sehnt, wenn er, nach schlechtem Besuch, sein Zelt packen muss?
Voll beschäftigt mit meiner Arbeit über die afghanische Diaspora, über Flüchtlinge und ihre Peiniger und über Heimkehrer aus den letzten Interventionen, nutzte ich einen Besuch im CTC Salzburg, um eine Zirkusschule in Aktion zu sehen.
Nun brummt das Centrum[2] und ist rund um die Uhr belegt: mit Kindern, Profis und allem, was sich dazwischen bewegt. Aktuelles erfährt man hier. https://circusschule.jimdo.com/kontakt/ . Natürlich ist das auch Werbung, aber mir geht’s um etwas anderes:
Menschen müssen nicht immer der scheinbar selbstverständlichen Verbindung folgen: ein Körper an einem Ort. Anders als Kriegsflüchtlinge oder Armutsmigranten suchen die Artisten immer aufs Neue ein Publikum, und wissen, dass man nicht auf Dauer an einem Ort bleiben kann, wenn man nicht hofft, dass Besucher auf Dauer da zusammenströmen, wo man durch die Luft fliegt, auf dem Seil herumläuft oder über sein eigenes Lachen stolpert. Die Normalität der Ortlosigkeit hat viel mit der Freiheit der Migranten zu tun, von der der Philosoph Villem Flusser schreibt: man lässt ja nicht nur etwas hinter sich – Heimat oder Folter oder Hunger – man erwirbt ja auch etwas neues, – – vielleicht Heimat, vielleicht neue Gefahr und Beschränkung. Und das kann bedeuten, dass man bleiben will, oder weiterziehen muss, wenn man kann.
Zirkus ist ein Sinnbild eben dieser Ambiguität. Die Freiheit der Künstler, also auch der Zirkusmenschen, ist nicht einfach ein routiniertes Kommen und Gehen, je enger sie an einem Ort mit dem Gastgeber, dem Veranstalter, dem Publikum kommunizieren, desto schwieriger der Abschied, aber auch die Hoffnung, etwas mitzunehmen, was die Vorstellung am neuen Ort noch lebendiger macht: die Erinnerung ist immer präsent. Die Ortlosigkeit ist immer dabei, selbst im „Winterquartier“ bei Einigen, und was dauerhaft ist, das Training, die ständige Bereitschaft zur Kunst, kommt an jedem Ort anders und neu an.
Und so stehe ich in der Trainingshalle und sehe, dass und wie hier Menschen üben, wiederholen, ihre Muskeln und Sehnen strecken und zugleich in ihren Gesichtern die Figuren spiegeln lassen, die dann oben am Trapez oder zwischen zwei Stangen uns fesseln bis zur Atemlosigkeit. Immer schöner als Sport, auch wenn manches so ähnlich daherkommt. Damit will ich niemanden kränken.
Zum Zirkus gehört das Abheben vom Boden des Gewohnten, so wie dieser Boden die Nationalflagge der Sportler ist. Artisten haben keine Flagge, sie kommen woher, gewiss, und ziehen wohin, gewiss, aber die Beziehung ihrer Entfernung von „Heimat“ zwingt uns geradezu, sie selbst zu sehen, ohne den Kontext von Heimatland und Ort. Es ist nicht wichtig, woher sie kommen und wohin sie gehen. Aber alle Erfahrung ihrer Herkunft ist in ihren Bewegungen und ihrem Ausdruck eingeschrieben, und all ihr Erfolg kann sich nur auf uns übertragen, wenn wir davon abstrahieren, ob es sich um französische, russische oder kanadische Künstler handelt: wir müssen den Körper und die Bewegung eines Menschen oder einer Gruppe im besten Sinn des Wortes würdigen. Und dazu ihre Erfahrung miterfahren. (Und so lernen wir die fremden, fernen Heimaten kennen, deren politische Geschichte wir ohne den syrischen, behinderten, sprachlosen Artisten vielleicht nie so hautnah begriffen).
Es gibt eine Erotik des Gelingens: wenn ein Artist einmal daneben springt, versucht er es aufs Neue, solange, bis es gelingt, auch in der Vorstellung und nicht nur im Training. Wir werden Zeugen dieser Selbstverwirklichung, die uns, im übertragenen Sinn, mehr menschlich macht als die Hoffnung auf den Sieg des einen oder andern Sportlers im Wettkampf. Beim Zirkus fiebern wir mit um die Freiheit des Körpers in seiner menschlichen Bewegung.
So stand ich im Trainingszelt und hab mir vorgestellt, wie die, die da üben, in den nächsten Tagen und Wochen auftreten, oder einfach sich verwirklichen, ohne jemals die Öffentlichkeit zu suchen.
[1] Bitte keine Belehrung: Roma, Ashkali, Sinti, fahrende Völker – da kenn ich mich ein wenig aus. Henri Sicluna, der Beauftragte des Europarats, hat mir einmal den Rat gegeben, weiter beim Zigeuner zu bleiben, wenn man nicht ganz sicher ist, zu welcher Abteilung der Fahrenden einer oder eine Gruppe gehört.
[2] Die Gründungsprobleme gehören auch dazu: so etwas geschieht nie im luftleeren Raum: Die Kontroversen um die Gründung kann man hier nachlesen: https://www.sn.at/wiki/Cirkus-TrainingsCentrum_Salzburg. Ich selbst betreibe mit anderen den Verein der Freunde des zeitgenössischen Circus e.V., damit sich Menschen auch für diese gleichberechtigte Kunstform interessieren. Informationen dazu gibt’s bei mir, aber keine Webseite: da reicht das CTC.