Es ist ja nicht zum Aushalten, die Tsunamiwellen der Katastrophen geben ja kaum Luft zum Atmen. Dabei vermischt sich Furchtbares, Lächerliches und Alltägliches zu einem stumpfen Brei, der genau das bewirkt, was die Verbrecher aller Spielarten nur wollen: dass wir endlich aufhören, die Situation ernst zu nehmen. Wer am Abgrund regiert, möchte die Angstlust bis zum letzten Atemzug auskosten, denn danach kommt gar nichts mehr…
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Aber wenn auch ob’n schon alles kracht,
Herunt’ is was, was mir noch Hoffnung macht.
Wenn auch ’s meiste verkehrt wird, bald drent und bald drüb’n,
Ihre Güte ist stets unverändert geblieb´n; Ihr seid angesprochen, das Publikum
Drum sag’ i, aus sein’ Gleis’ wird erst dann alles flieg’n,
Wenn Sie Ihre Nachsicht und Huld uns entzieh’n.
Da wurd’ ein’ erst recht angst und bang,
denn dann stund’ d’Welt g’wiß nicht mehr lang.
Refrain (viele Strophen davor: Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang, lang, lang, lang, lang, lang).
(Johann Nestroy, Lumpazivagabundus, 1833)
Nun beschreibe ich ja selbst und mit Absicht die letzten Dinge, Finis terrae, weil sie so sind. Aber ich frage auch, ob man im Schützengraben Witze erzählen durfte, ob man sich in Auschwitz verlieben konnte, ob man – anstatt Luthersche Apfelbäumchen zu pflanzen – mit dem gut zu leben versteht, was da ist, schon deshalb, weil es im Nichts danach ja ohnedies keine Erinnerung an das gibt, was man hätte erhalten müssen.
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Auf diese Gedanken bin ich gekommen, nicht erst heute, bei der Anordnung der täglichen Nachrichten. Wir sind das Publikum, und vor uns spielen sie, als ob es einen Vorhang geben könnte, und dann geht das gute Leben weiter. Wir können uns schnell darauf einigen, dass der Verzicht auf Kritik, Widerstand und Selbstbewusstsein die abschüssige Bahn nur steiler macht. Den Stein des Sysiphos beim Runterrollen zu bremsen, ist nicht sinnlos. Die Kohlkraftwerke abzustellen, eine CO2 Steuer zu erheben, Fahrverbote zu erlassen, … das ganze Parteiprogramm der Grünen zu exerzieren und noch ein paar gescheite Gedanken von den anderen, all das zu tun, verlängert die à Time of useful Consciousness.
Philosophisch wäre das die Hoffnung ohne Zuversicht. Empirisch spricht fast nichts dagegen, hedonistisch und möglichst individuell ein Maximum an Carpe diem zu betreiben und achselzuckend den Restgeschehen zu lassen. Aber Carpe diem, nutze den Tag, kann ja auch etwas anderes bedeuten: Nutze den Tag, um den Stein zu bremsen, oder nutze ihn, um die Enkelfrist auf die Urenkel auszudehnen, oder auch, um die Verbrecher großer Dimension auszuschalten, was ebenfalls lebensverlängernd wirken kann.
Ich denke nämlich, dass uns diese Verbrecher zu viel an kostbarer Lebenszeit kosten, indem sie diese mutwillig verkürzen. Das kann man übrigens empirisch nachweisen, das ist kein Satz aus der gefühlten Moralwolke. Bolsonaro und der Regenwald, Duterte und die peripheren Armen, Trump und die nichtweißen Menschen, Putin und die Regimegegner, … schreibt das weiter fort, liebe Leser*innen, verbindet erst einmal mit jedem Namen nur ein Verbrechen. Die Liste wird, lang, und sie droht einen zu überfluten, wenn die globalen Perspektiven mit dem, was wir in unserer Umgebung, Um-Welt nicht umhin können wahrzunehmen. Die Psychologen raten einem dazu immer, „abzuschichten“, andere raten zu triangulieren, Komplexität zu reduzieren, oder aber immer wieder Prioritäten neu zu ordnen. Man kann natürlich auch zum Mülleimer Modell von à Cohen, March und Olsen greifen (1972). Ich führe das nicht weiter aus. Denn im Grunde sind alle diese Methoden, wachsendes und unkontrolliertes/unkontrolliertes Chaos zu ordnen, wenig hilfreich unter dem Aspekt der schwindenden Zeit. Der bereits öfter zitierte Yuval Harari (à Homo Deus) mutmaßt sogar, dass die uns überholenden künstlichen und autonomen Intelligenzen uns vom anthropozentrischen Herrschaftsanspruch abbringen…
(Nebensatz: diese Überlegungen nehmen in letzter Zeit erheblich zu, sie werden schon im Theater und in der Belletristik weiterentwickelt, und das alles ist nicht mehr nur Science Fiction (zB. à „ex machina“), sondern verlangt nach einem anderen, neuen Realismus der Unrettbarkeit, in die Zuversicht nicht mehr auf Algorithmen aufbaut, und die Hoffnung nur in uns begründet sein kann, aber nicht in äußeren Erscheinungen, die allzu viele Optionen zulassen. Ich bin also mit diesen Gedanken gar nicht allein; aber das tröstet nicht).
Nur das dauernde Klagen nervt, weil es an die Zeiten erinnert, wo bei hinreichend lauter Klage die Götter eingreifen oder man eben heroisch untergeht. Und die Variante, „heimlich“ darauf zu hoffen, dass sich „das Rettende“ gerade noch rechtzeitig wird zeigen oder aber, dass es doch ein „Jenseits“ nach der nicht abgewendeten Katastrophe wird geben, ist doch eine Variante des Lamentierens.
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Um beim Stein zu bleiben: es macht mehr Sinn, ihn beim Runterrollen zu bremsen als andauernd neue Mechanismen zu ersinnen, die das Hinaufrollen einfacher machen: das wäre der Fordismus in der Philosophie.
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Mir kommt der Katastrophenüberschuss vor wie eine politische Homöopathie: wirkungslos, aber für einfache Gemüter plausibel, soll er uns abhalten davon, Dinge zu ändern angesichts der Tatsache, dass die Welt ohnedies nicht mehr lang, lang, lang…besteht. Andererseits ist die schulmedizinische Strategie, einzelne Katastrophen rauszupicken, Konflikte zu regeln, nicht per se falsch, sondern erzeugt falsche Hoffnungen, also Illusionen, dass man durch Abarbeiten den Berg abschmelzen könnte. Das wäre empirisch widerlegt.
Mich überrascht, dass einige Einsichten gar nicht in diesen eschatologische Diskursen nicht vorkommen: z.B. dass bestimmte Phänomene zum normalen Erscheinungsbild der jeweiligen Systeme gehören, und deshalb innerhalb der Politik bearbeitet werden können. Bestimmte Verbrechen gehören zum Kapitalismus, dazu haben wir Demokratie, Strafrecht und entsprechende Qualifikation der Akteure. Das hält den Weltuntergang weder auf noch beschleunigt es ihn. (Wir können das überprüfen, aber dann dürfen nicht darauf vertrauen, dass der Rechtsstaat von “allein“ in die Gänge kommt. Andere Verbrechen gehören zu den Diktaturen, die uns umgeben: Folter in Russland, der Türkei, in vielen Ländern…die sind für diese Art der Herrschaft „normal“, und was die Außenpolitik, die Militärstrategie, und die transnationale Politik damit macht, und wieder liegt es daran, ob oder ob nicht Politik gemacht wird. Über die Flüchtlings- und Migrationspolitik kann man sich aufregen, die Katastrophe ist nicht die Migration, ist nicht der Flüchtlingstreck, sondern die Flucht- und Migrationsursache.
Oder anders, natürlich sehr verkürzt, argumentiert: was politisch regulierbar ist, unter Anwendung aller demokratischen Mittel, – leider oft auch mit Gewalt -, muss nicht endzeitlich beklagt werden. Damit sage ich, dass der Klimawandel, die wirklich mit den Umwelt- und Lebensbedingungen verbundenen Katastrophen mit Politik allein nicht gebremst, gar gestoppt werden können. Oder: Politik ist nicht alles, auch wenn alles politisch ist.
Wir hatten das Thema schon, die Doppeldeutigkeit des Lebens, das wir ändern müssen. Die Privatisierung der Endzeit setzt entweder Zynismus oder Jenseitsglauben voraus. Dann ist es gleichgültig, was geschieht. Die Vergesellschaftung der Endzeit aber ist notwendig, und nur ein Ausdruck dafür, dass der Prozess der Zivilisation noch nicht abgeschlossen ist.
Das widerspricht meinen eigenen Befunden, dass dies – möglicherweise – ein verspäteter Befund ist. Es widerspricht nicht den Überholungshypothesen von Homo Deus und der Wissenschaftsphilosophen, es widerspricht auch nicht der Angstlust der Tänzer auf dem Vulkan. Aber wenn es zu spät ist, dann hindert uns nichts und niemand daran, beides zu tun: politisch zu agieren, wo es notwendig ist. Republik, Menschenrechte, Republik, Solidarität sind allesamt nicht auf den Weltuntergang ausgerichtet, sondern auf einen Zeitstrahl sich entwickelnder Zivilisation. Und jenseits der Politik, nie ohne sie allerdings, sich eben dieser Zivilisation zuzuwenden. Nicht ihre Defizite zu beklagen, sondern die Tragfähigkeit ihrer Grundlagen auszutesten und zu verstärken. Das soziale Apriori auszubauen, sich individuell erkennbar zu machen in eben dieser Kommunikation, und das heißt, bestimmte Formen der Herrschaft in Frage zu stellen.
Zu schwierig? In Frage stellen heißt immer, die falsche Versöhnung abzulehnen, also die zwischen Ökonomie und Ökologie, die zwischen Eigentumsrechten und Sozialverpflichtung etc. (Das haben andere vor uns gewollt, Attac zum Beispiel, Amnesty, Greenpeace, tausende NGOs; richtig, diese – oft als Zivilgesellschaft oder Teil derselben genannten – sollen aus der Katastrophik in die Zivilisationsarbeit viel direkter einsteigen. Das wäre die Reform der Reformierer – und ein klarer Blick auf den Stein, den es zu bremsen gilt).
Zu einfach? Der Maßnahmenkatalog kann, er muss, immer in die Politik eingehen, deren Raum wir uns schaffen. Test: überprüft Wahlprogramme, wo dies möglich ist.