Deutsch-Österreich?

Als Kind habe ich Briefmarken gesammelt. Die heimischen mit der Aufschrift Deutsch-Österreich waren nur für einen sehr begrenzten Zeitraum gültig…Lange vor dem Versuch, nach dem Ersten Weltkrieg Österreich als Teil des Deutschen Reichs zu verstehen, gab es schon den Begriff als Ausdruck für die deutschsprachigen Gebiete im Westen der Monarchie, was natürlich auch keine wirklich Abgrenzung gegen die östliche Reichshälfte war, die ja nicht nur ungarisch sprach….(https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_%C3%96sterreichs#Erste_Republik_und_Austrofaschismus_(1918%E2%80%931938)). Nicht nur die Sprachen- und Kulturpolitik hat die letzte Phase des Habsburgerreichs geprägt, aber an ihr kann man viel von dem lernen, das bis heute nachwirkt –

Hannelore Burger hat in vielen Studien auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge hingewiesen (u.a. Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867-1918, Wien 1995); ihr Verdienst ist es auch gewesen, Staatsbürgerschaftsrecht und die besondere Jüdische Geschichte im Kontext immer wieder zu verbinden (vgl. Bibliographie in: (Burger 2014)). All das kommt in den letzten Tagen wieder hoch.Das alles lief in Deutschland ganz anders.

Die Medien berichten umfangreich und jedenfalls so differenziert, dass man seit dem Ibiza-Video der Nazis Strache und Gudenus alle Ereignisse zum Kanzlersturz und zum Übergang in der/in die Demokratie ziemlich lückenlos verfolgen kann, auch in Deutschland.

Als Kind konnte ich das „Deutsch“ in D-Ö nicht verstehen. Später lernte ich, dass es eine durchaus reflektierte Allianz zwischen der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie gab (Rudolf Hilferding z.B.), und die Idee, dass hier die Arbeiterklasse eine gemeinsame, demokratische Mehrheitslinie finden könnte; auch, dass die Sieger des Ersten Weltkriegs den Zusammenschluss verhindern wollten, um eine deutsche Hegemonie zu verhindern (eine österreichische gabs ohnedies nie am Horizont…). Noch später, und bis heute, beschäftigen mich die politisch-kulturellen und die politisch-ökonomischen Differenzen zwischen den Lebenswelten in Deutschland und Österreich, nicht zuletzt auf sprachlichen, künstlerischen und diskursiven Terrains.

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Ist das wichtig? Österreich ist Mitglied der EU. In den letzten Tagen ist die Zustimmung zur EU bei der Mehrheit der Bevölkerung gestiegen (Der Anstieg ist signifikant: www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20181017IPR16329/euro…).

Deutschland ist auch Mitglied der EU. Deutschland ist trotz seiner desolaten Regierung ein mächtiger Staat mit vielen Einwirkungsmöglichkeiten auf Mitglieder und andere Akteure in globalem Maßstab. Österreich ist ein sehr reiches Land, sein Einflussbereich ist ökonomisch überschaubar, aber in Mittel- und Osteuropa politisch-kulturell und wirtschaftlich erheblich.

Ich habe schon mehrfach auf die Wurzeln der ÖVP auch im Austrofaschismus geschrieben, während die FPÖ ja das Kunststück übt, deutsche Identität ständig in eine österreichische zu spiegeln, die es für die meisten nicht „gibt“. Ich verkürze, aber mit einer wichtigen These: Bei den Nazis und den meisten Burschenschaftern und Identitären, also dem Kern der FPÖ-Führung ist das Volk deutsch, die Regierung österreichisch, und Politik bedeutet, die beiden zur Deckung zu bringen).

Bei der ÖVP kann man nicht so flächendeckend vom austrofaschistischen Erbe sprechen, aber sozio-kulturell ist da noch eine Menge vorhanden, und „deutsch“ hatte im Ständestaat eine andere Bedeutung als bei den frühen Nazis in der Heimat des Führers, die er ja „heim ins Reich“ geholt hatte. Bei der FPÖ kann man sich das Neo- bei Nazis ruhig sparen, sie sind, wie die AfD, vergleichbar der NSDAP vor 1933.

Wenn man die Politik des bisherigen Innenministers Kickl, der vorher Parteistratege der FPÖ war, genau ansieht, dann agierte und wirkte er schärfer, wirkungsvoller und für die Anhänger der Regierung, also über die FPÖ hinaus, auch attraktiver – im übrigen auch, weil er intelligent ist, welche Eigenschaft man den Rechten immer als erstes absprechen muss. Seinen Satz, die „Politik steht über dem Recht“ kann man schnell ablehnen, aber man muss ihn analysieren, bevor alles explodiert).  Dazu muss man die Details der menschenverachtenden Politik gegenüber Ausländern, Muslimen und Geflüchteten genauer analysieren – und sich fragen, warum der Europäer Kurz gerade diesen Bereich und die Sicherheit (Bundesheer) den Nazis überlassen hat (Die Antwort auf diese Frage ist nicht aus dem Video herauszuarbeiten).

Alle drei großen Parteien in Österreich, also ÖVP, SPÖ und FPÖ, sind durch ein Verhaltensmuster bis tief in die Bevölkerungsstrukturen vergleichbar, das ist die plebejische Stimmungsdemokratie. Darum kann die SPÖ auch mit der FPÖ koalieren (Jetzt schon im Burgenland) und (vielleicht im Bund ab September?) kooperieren. Darunter verstehe ich die Legitimierung von Ressentiments (Der CDU Minister Reul hat das einmal kurz versucht, SPD Nahles übt sich darin erfolgreich, aber hier gibt es Unterschiede: manche rote Linien überschreitet in Deutschland nur die AfD). Woher das kommt? Das Paradox bestreiten die drei Parteiführungen kaum: wenn es um pragmatische Zusammenarbeit geht, interessieren die ideologischen Differenzen wenig. Und dem stimmt ja mancher prima vista zu, bevor es zu einem Nachdenken kommt. Einer der wichtigsten Schriftsteller des Landes, –>Robert Menasse, ortet gerade in der vielgepriesenen „Österreichischen Sozialpartnerschaft“ die Ursache für eine Entwertung der Institutionen (Parteien, Parlament, Öffentlichkeit) zugunsten einer unsichtbaren Konfliktverschleifung. Dass eine solche Nicht-Politik in Zeiten wirtschaftlicher Blüte besser funktioniert als in der Krise ist logisch, und dass dadurch vieles besser „funktioniert“ als in Deutschland, wird durch diese Art der Politik nicht behindert (allerdings, sehr wichtig: auch nicht hergestellt). Dafür gibt es andere Gründe.

Studiert man die österreichische Presse und Medien,  die ja massiv seitens der FPÖ unter offenem Druck stehen, während sie bisher von ÖVP und SPÖ nur immer einzuhegen versucht werden, dann gibt es mehrere Gemeinsamkeiten der Interpretation: Sebastian Kurz hat sich, trotz und wegen seiner Erfolge und seines imaginierten Charismas, überhoben und wie ein Zauberlehrling kann er die FPÖ Geister so  wenig loswerden, wie seinen Spagat, pro-europäisch Politik machen zu wollen, solange die Immigration ihn nicht von den osteuropäischen Nachbarn abschneidet. Hier sind sich alle einig: dass Kickl gehen muss, war eine richtige Entscheidung, aber sie war falsch begründet: wegen des Videos…nebbich, das hätte auch ein anderer untersuchen können. Nein, von Anfang an hätte man den nicht in die Regierung lassen dürfen. Und da hatte Kurz gehofft, er würde eine Art lokaler „Mäßigungstherapie“ erfolgreich anwenden können – was bekanntlich bei den Nazis auch nicht funktionierte. Zweitens: er hat sich eine gute Ausgangsposition für die Neuwahlen im September verschafft, weil er, siehe oben, gar nicht auf Schärfung der Konfliktlinien aus ist, sondern sich als Märtyrer=Manager anbietet, der verletzlich, aber nicht verwundbar ist (Verzeihung für den schnellen Sprung: dem Pöbel gefällt das…). Und: Österreich geht’s ja noch gut, sooo wichtig bei der Nachfolge von Juncker und Draghi sind die Ösis auch nicht, und Weber  wird’s wahrscheinlich ohnedies nicht, auch was die österreichisch-bairische Achse betrifft (Übrigens: dass Deportationsminister Seehofer in zwei Jahren abtritt, bewegt die Gemüter kaum, sein neues Abschiebegesetz, das ja wohl nicht durchkommt, lässt ihn so nahe an Kickl und Orban kleben, dass da andere Achsen in nächster Zeit wichtig werden – auch in der deutschen Bundesregierung).

Das ist mehr als das halbe Österreich, das ich beschreibe, und deutsch-österreichisch müsste zunächst ein Dialog in Differenz über diese Differenz sein; der kommt nicht zustande, u.a. weil die österreichische Literatur (man spricht mehrheitlich Deutsch, das vermuten die Deutschen, stimmt aber nur begrenzt) ja deutsch spricht. Die Österreicher pflegen eine ihnen gar nicht wirklich bewusste postkoloniale Debatte, seit nicht mehr Deutschland (Westdeutschland, genauer) die Alpenrepublik an der Leine der Nachkriegswirtschaft geführt hat, sondern, was Arbeitsplätze, Spitzenposition in Deutschland und relative Geltung in Zentraleuropa betrifft, Österreich den Spieß umgedreht hat. Das richtet sich leider auch auf solche Gebiete, wo das heutige Deutschland schon sozialer und fortschrittlicher ist als Österreich, aber noch hat Österreich hier einen Fortschritt, der noch nicht braunblau zerdepppert wurde.

WO  IST DAS ANDERE ÖSTERREICH?

Ja, das gibt’s. In den Medien, im kulturellen Aufbegehren gegen türkis-blau (so heißt schwarz-braun nach Parteifarben), nicht nur in Demos, in Aktionen wie bei den Omas gegen Rechts  –> omasgegenrechts.at. und in einer Herstellung von Gegnerschaft und Kritik, die eben dem „Kannst eh nichts machen“ der Gefolgschaften der großen Parteien nicht entspricht.

Natürlich gibt es das andere Österreich vor allem innerhalb dieses Rahmens öffentlicher Diskurse, die keine intellektuelle Sozialpartnerschaft pflegen. Was mir in den letzten aufgefallen ist, gibt es zu den neuen Ereignissen keine zwei Meinungen, sondern mehrere, divergierende, und ein wenig müsste man schon Regressionsanalysen bei diesen Diskursen machen, um zu sehen, wie tief und komplex das alles geht, bis hinunter zu Deutsch-Österreich.

Noch wichtiger ist ein Mensch: AvdB, Alexander van der Bellen. Der war einmal ein bedeutender grüner Parteiführer, er war ein wichtiger Ökonom, er ist ein Bundespräsident, der das Gegenteil der „Sozialpartnerschaft“ vertritt: er formuliert eine Heimatperspektive, ein Österreich, wie es auch sein kann (und wie es nicht wieder werden soll), die diametral seinem früheren Gegenspieler, dem jetzigen FPÖ-Chef Hofer entgegensteht. Nicht nur, dass er, wie es sein Amt vorsieht, in der letzten Woche unablässig agiert und entschieden hat; wie er das gemacht hat und was er gesagt hat, das ist jene Inanspruchnahme des öffentlichen Raums, die so unabdingbar für Politik ist. Er hat nicht an das Volk appelliert, sondern sich um seine Konstitution bemüht, damit es wieder legitim Demokratie verwirklichen könne.  Lest das nach…Das waren keine großen Worte, aber es war die einfache Sprache eines ganz und gar nicht einfachen Sachverhalts.

Da sind die Grünen, die ja vor zwei Jahren schrecklich abgestürzt sind, aus eigenen Fehlern und zuviel Personalpolitik, sie sind wieder da, nicht nur in Europa,  sondern als lebendige Stimme im Land, und durchaus vergleichbar den deutschen Partnern, was die Themen betrifft.

Da sind auch die NEOS, nicht meine Partei, aber glaubwürdige Europäer.

Womit wir bei einer Spaltung sind, denn die identitären Plebejer reden ja auch von einem Europa, das sie wollen, aber verwandeln wollen in eine feste Burg, in deren Hof sie Ritter, Tod  & Heimat spielen dürfen.

JETZT KOMME ICH INS SPIEL

Tut mir ja leid, dass ich hier plötzlich neben vdBs Verfassungspatriotismus noch einen historischen auspacken muss; ich bin ja deutscher UND österreichischer Staatsbürger. Diese uralte, großflächige Habsburger-Monarchie war in vielen Hinsichten kein Vorbild für das, was die Menschen erwarten durften, in manchen schon. Dazu ein andermal. Aber sie waren ein Imperium, das andere Formen von Multikultur und Multiethnizität entwickelt als die Deutschen, deren Augenmerk nicht zufällig immer auf den deutschen Markenkern gerichtet war. Das war erfolgreich (und selbst der Begriff M. ist irgendwie typisch). Österreich konnte sich weder um eine ethnische oder religiöse noch um eine kulturelle noch um sprachliche Eindeutigkeit auch nur bemühen, es gab dominante und unterdrückte Elemente, aber die Macht war schon, was das ganze zusammenhielt, wenn es auch ein Ganzes war, das an den Rändern ausfranste, ständig, und unter Druck war. Ich wag einen Versuchsbegriff: mein  Österreich ist der lokale Kosmopolitismus, und man kann alles mögliche, nur keine Identiät entwickeln. Das ist keine Lieberklärung, aber ein Gefühl von Verständnis, warum das andere Österreich so hoffnungsvoll stimmt. Und Deutschland: mein Deutschland muss noch ein Stück näher an dieses Weltbürgertum kommen, es hat zu viele deutsche Wurzeln, vergessend, dass es „Deutsch“ historisch NIE GEGEBEN HAT.

Demnächst werde ich meine Presseschau hier einfügen, vielleicht als Update.  Jetzt einmal: schaut auf Wien und unsere neue BUNDESKANZLERIN.

 

 

 

 

Burger, H. (2014). Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Wien, Böhlau.

 

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