Das Übermaß an schlechten Nachrichten ist die Therapie der Gewalttäter.
Wenn alles so furchtbar ist, dann erscheinen kleinste Kompromisse bereits als Anzeichen für Befreiung oder Erlösung. Dann werden große Worte über das Funktionieren von Demokratie bemüht. Die Menschen werden therapiert, damit sie kein Volk werden, von dem das Recht ausgeht.
Wir ertragen den Schrecken leichter, wenn er ubiquitär, allgegenwärtig ist, und andere härter trifft als uns. Beispiel: Bauernfunktionäre. Zu Lasten der Bauern benimmt sich die Agrarindustrie wie die AfD: unverschämt austeilen und sich zugleich als Opfer stilisieren. Und ähnlich wie alle Rechtsausleger nehmen sie ihre Opfer auch noch mit. Dagegen kann man etwas tun: es gibt bereits mehrere Agrarverbände, die das wüste Gegröle der glyphosat-besoffenen Gülle-Funktionäre nicht mehr mit machen. Und es gibt Robert Habeck, der z.B. heute in zehn Minuten klar und transparent erklärt, was man machen kann, damit die wirklich bedrohten Bauern zu ihrem Recht und wir zu erträglichen Nahrungsmitteln kommen – der Kampf gegen die Giftlobby setzt auch uns Verbaucher unter Druck, zu Recht.
Das Beispiel ist verallgemeinerbar.
Ohne Druck auch auf uns geht es nicht. Wir können rechtslastige Gerichte nicht einfach hinnehmen, weil die Justiz unabhängig ist. NPD-Slogan „Migration tötet“ laut Gericht erlaubt, Wenn ein Gericht zulässt, dass die Nazis „Migration tötet“ plakatieren, weil es die Volksverhetzung nicht nachweisen kann und der Satz teilweise stimmt, dann ist nicht nur die schlechte Juristenausbildung Schuld, sondern die Unfähigkeit von Richtern, einen Kontext zu erkennen. Bei uns dürfen ja auch Richter ohne Führerschein Verkehrsdelikte beurteilen. Aber politisch ist die Sache weniger marginal. Natürlich berufen sich die Nazis, die Meuthens und Gaulands und Cupallas, auf die Meinungsfreiheit. Natürlich…sie pochen auf das Recht, das ihnen qua Rasse, Ideologie oder Anspruch quasi zugewachsen ist (Das ist Gaulands Parteitagsrede im Kern), und genau natürlich empfinden diese Nazis sich ausgegrenzt – zu Recht. Für uns heißt das vor allem, keine Kompromisse in der Kontextfreiheit der Meinungsäußerung zu dulden. Das ist manchmal einfach, wie beim Gießener Urteil (Tagesspiegel online, 2.12.2019), manchmal schwierig, weil Kontexte oft komplizierter sind, als Menschen denken, nicht nur Nazis. Auch die Agrarfrage ist komplexer als der Ruf nach billigen Bio-Produkten. Und Volksverhetzung? Da müssen die Richter Nachhilfeunterricht bekommen, aber nicht bei den elenden Repetitoren, ohne die Juristen ohnehin nicht denken können – Ausnahmen glänzen! – wo Volksverhetzung beginnt, wie ein Kontext erkennbar ist, was man sagen muss, unabhängig davon, ob es andere schmerzt, und was man besser auch dann nicht andeutet, weil es so verletzt, dass die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gewahrt ist. Darin besteht unsere Freiheit.
Aus den Tracker-Demos oder den deutschen Hetzurteilen (auch gegen Renate Künast und andere hat sich die deutsche Justiz vergangen) kann man keine Tage des Schreckens konstruieren. Die werden durch Herrschaften ausgelöst, die hoffentlich bald selbst hinüber sein werden, die sich aber auch rasend schnell fortpflanzen. Die als so genannte Staatschefs, Politiker und Wirtschaftsgiganten beanspruchen, Autorität aus der Macht des Faktischen zu ziehen – zu lasten nicht nur künftiger, auch gegenwärtiger Generationen. He! Das sind wir. Und da ist der Zusammenhang zwischen kontextfreier Argumentation, bei der deutschen Regierung z.B. in Klima-Angelegenheiten oder bei der sozialen Grundsicherung, und dem ganz großen und dem alltäglichen kleinen Schrecken.
Ich denke, dass es für die bei uns noch immer saturierten Mittelschichten auch dann, wenn sie relativ sorgenfrei sich reproduzieren, schwierig ist, den Schritt vom mikro-sozialen Raum zum globalen sozialen Raum zu tun. (Der Glokalismus ist auch ein komplizierter Kontext). Aber es hilft nichts: wir müssen sie immer zugleich bekämpfen, die Seehofers und die Trumps.
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In den Tagen des Schreckens, finis terrae!, ist es falsch, sich die Hoffnung des Apfelbäumchen zu eigen zu machen, das man pflanzt, wenn am Horizont schon Armageddon aufblitzt. „Wenn ich wüsste, daß morgen die Welt unterginge, würde ich doch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Luther hat es ohnedies nicht gesagt, es wird ihm bloß „zugeschrieben“, so wie viel Blödsinn nachträglich autorisiert wird. Aber wir können uns gar nicht genug tun beim Apfelbäumchen pflanzen.
Als die Apfelmännchen der Mandelbrotmengen in die allgemeine kulturelle Ästhetik Eingang fanden (so vor ca. 40 Jahren), da konnte man sich an den fraktalen Kontexten nicht genug tun – es gab viele Bücher dazu und eine schöne Abendunterhaltung der herrlichen Muster. (schaut selbst. http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/files/2015/02/1280px-Mandel_zoom_00_mandelbrot_set.jpg) . Was hat das damit zu tun? Stellt euch vor, die von mir verlangte Komplexität der Argumente schaut so aus – dann wollt ihr ja auch kein Apfelbäumchen pflanzen angesichts des Weltuntergangs.
Moral: machen wir es nicht so einfach. Schon bei der Agrarpolitik ist die Komplexität von Habeck ein ganzes Regierungsprogramm. Schon bei der angemessenen Gerichtskritik ist die Komplexität der Volksverhetzung (des ggf. daurch erst sichtbaren Volks, so nebenbei) ein gewaltiges Programm. Und man kommt immer bald dazu, nachzufragen wann und wie man mit den Trumps dieser Erde ein Ende machen kann (ich hab noch 300 Namen mehr). Keine Attentate, Politik.