Zu spät…

In wenigen Tagen ist es wieder so weit. Betretene Gesichter, hoher Ton, das „Nie wieder!“ klingt wieder schlecht gestimmte Glocken einer Vorstadtkirche. Auschwitzgedenktag. Gut, dass man sich erinnert. Schlecht, wie man sich erinnert. Gut, dass es noch eine Erinnerungskultur gibt. Schlecht, dass sie sich nicht wehren kann.

Der SPIEGEL hat in seiner letzten Ausgabe (4/2020) einige Artikel dazu veröffentlicht, die allesamt bedenkenswert sind. Michael Brenners Essay zum Gedenktag an die Weiße Rose ist zu Recht übertitelt, aber falsch: „Die Gefahr erkennt man immer zu spät“ (40-42). Wieso denn? Viele haben die Gefahr seit dem Ende des Ersten Weltkriegs gesehen, vielfach die Risiken unterschätzt. Das“Man“ in dem Satz ist gefährlich. Man konnte die Gefahr von Anfang an erkennen, aber man hat Auswege gesucht, sie nicht zum Tragen kommen zu lassen, z.B. bis zum Tag von Potsdam. Aber nicht alle sind der Hoffnung nachgelaufen, dass sich das Rettende zeigen würde, wenn die Gefahr nur groß genug sei. Und dann, als Hitler und die Nazis auf ganzer Linie gesiegt hatten, gab es Widerstand (wenig), Widerständigkeit (einige), Flucht (beschränkt gelungen) und Einsichten – auch solche in das „Zu spät“. 

Richtig kommt Brenners Essay mit dem Flugblatt rüber „Entscheidet euch, eh‘ es zu spät ist“ (Weiße Rose, Januar 1943). Für uns ist das lange schon jetzt. Nicht erst, wenn es schlimmer wird. Nicht erst, wenn der Hitler-Hindenburg Wallfahrtsturm der Potsdamer Garnisonkirche fertig ist. Nicht erst, wenn nach Walter Lüpke weitere Politiker ermordet werden oder Synagogen brennen.

Für eine Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg habe ich das in der Ankündigung zum Film Shoah so zusammengefasst:

Es gibt nicht mehr viele Menschen, die sich erinnern können oder wollen. Die Geschichte der Shoah ist für viele Vergangenheit geworden, oft schrecklich, oft unfassbar, oft auch nicht mehr so wichtig, jedenfalls vorbei. Dass sich diese Geschichte wiederholen könnte, denken die Wenigsten…Wie denn auch? Wir leben doch gesichert in einer Demokratie, wir sind aufgeklärt, jeder kann wissen, wie es dazu kam, dazu, das war zusammengefasst im Wort Auschwitz. Auschwitz steht für Shoah, was hat es mit Walter Lüpke, mit Halle, mit Gaulands Vogelschiss zu tun? – Vorvergangenheit? Es gibt viele Anzeichen dafür, dass sich die Zeiten schneller ändern können, als man denken möchte. Nicht nur die stärkste Oppositionspartei in unserem Parlament ist so ein Zeichen, auch Sprache, Geschichtsbewusstsein und Kleinmut vor der demokratischen Zukunft sind weich geworden. Wenn wir Filme wie Shoah sehen, dann wird nicht nur Geschichte aufgerufen, sondern auch Leiden, Bewusstsein, und Überleben. „Wehret den Anfängen…“ ist immer zu spät. Zur Umkehr ist es nie zu spät.

Das Klingt etwas idealistisch. Wovon und wohin sollen wir denn umkehren, wir Deutschen, wir Europäer, wir Weltbürger.

Beispiele auf einer unteren, aber wichtigen Ebene: wenn die Rechtsradikalen zuschlagen, verbal gegen Renate Künast, kann ein deutsches Gericht ein Schandurteil umkehren: Künast darf eben nicht Schlampe und Fotze genannt werden. (https://www.tagesschau.de/inland/kuenast-beleidigung-103.html (21.1.2020). Ein kleine Umkehr, man sagt aber: es geht doch.

Man kann aber auch dem rechtsradikalen Chef der Polizeigewerkschaft, Wendt, das Wort abschneiden – nur: wer klärt eigentlich die Gewerkschaftsmitglieder über diesen Hassprediger auf?

In allen möglichen Fällen können wir umkehren. Das wichtigste ist: Umkehren heißt nicht zurückgehen. Das gilt für große und kleine Fälle, Situationen und Dialoge.

*

Das ist so wichtig wie kaum etwas andres im Kontext: so wenig eine Umkehr Rückkehr ins Paradies bedeutet, kann sie bedeuten, dass wir in einem Früher wieder all das finden, was wir jetzt vermissen oder falsch finden. Beispiel: die von den AfD-Nazis geschürten Bauernproteste gegen die klimabezogenen Umweltverordnungen. Wann war denn die Landwirtschaft je in Ordnung? Und wer hat die Bauern gekapert, als Weimar den Bach runterging? Umkehr heißt in diesem Fall, die rechtlichen Regelungen mit sozialen und agrokulturellen Erfordernissen in Einklang zu bringen und nicht der Agroindustrie das Wort zu reden. Habeck fragen…

Wenn etwas zu spät ist, dann merken es die letzte Generationen der Anstifter meist nicht mehr, weil sie schon am Dahinscheiden sind. Trump kann gar nicht mehr merken, wie Recht Greta Thunberg in Davos hatte – er wird da hoffentlich schon tot sein, wenn sich ihre Wahrheit bestätigt. Nur: davon haben die künftigen Generationen auch noch nicht viel, wenn die Umkehr nicht die Lebenssituation bestimmter Gruppen oder aller nachhaltig verbessert oder wenigstens stabilisiert. Zu spät heißt: sein Schicksal in andere Hände legen – und die sind selten sauber.

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