Demokratische Erosion

Man kann nicht zu allem zeitgleich etwas sagen, weil man nicht zeitgleich überall etwas zu sagen hat, auch wenn man dauernd zum Reden aufgefordert wird.  

Aber man, ich, kann zeitgleich alles Mögliche, zusammenhängend oder isoliert denken. Und dann kommt es zum Kollaps, weil man nicht mehr ordnen kann, was jetzt besonders wichtig, was den Stempel sofort erhält, was warten kann. Nichts kann warten, wenn der Weg schon abschüssig ist und sich die Zeit staut, bevor gar nichts mehr ist. Das geht allen so. Wenn es einem bewusst wird, dann erleichtert es die Alternative: nicht nach Prioritäten zu ordnen – wer bin ich denn, dass ich die verkündigen kann? – sondern nach dem Umständen, in denen man selbst lebt und politisch handelt.

(das täte heute der CDU gut, gestern der SPD, und hat uns Grünen vor einiger Zeit gut getan; in Zeiten demokratischer Erosion ist die Reaktion auf diese Umstände schon für sich politisch, die Folgen des daraus sich ergebenden Handelns aber sind nicht kalkulierbar: man kann ein Ergebnis erhoffen und mit Zuversicht die nächsten Schritte absehen, mehr nicht. Risikogesellschaft!).

Die These ist also: unsere Demokratie erodiert zur Zeit massiv, „unsere“ heißt:  die in Deutschland, die in Europa, die im Westen. Die demokratische Opposition in Diktaturen, Russland, China,, Ungarn, Polen …. Erodiert nicht, sie formiert sich. Aber auch sie ist nicht vom Rost geschützt, der unsere Brücken beschädigt.

Die Demokratie erodiert, weil und wenn sie in ihren Sensibilitäten und Unvollendetheiten völlig unterschätzt wird, weil sie in ihrem Vorsprung vor den autoritären Systemen überschätzt wird, weil sie in ihren Halbwertszeiten unempirisch und falsch bewertet wird –  Churchills Trost: alle andern Systeme sind noch schlechter, ist ein Trost, aber keine Hilfe gegen Illusionen.

*

Trump, der so genannte Präsident der USA, erodiert unter anderem die Gewaltenteilung und das Justizsystem. Grund genug, ihn aus dem Kreis regierender Verbündeter auszuschließen. Dass er auch ein Sexist, Rassist, Lügner und Betrüger ist, kommt dazu, aber solche Typen an der Spitze von Demokratien bzw. Republiken muss eine zivilisierte Gesellschaft befristet aushalten, bis ihre Gewaltenteilung das wieder gerichtet hat.

Eben dies ist bei uns in Gefahr, bei uns in der EU und in Deutschland. Die Summe der Skandale – einige zähle ich auf – allein gefährdet nicht die Demokratie, sondern setzt ihre Funktionsmechanismen unter Druck. Skandale – Nazis bei Polizei und Bundeswehr, Betrug bei der PKW-Maut, Beratermafia im BMVg, Kohls Schwarzgeldkoffer, BER, Erfurt (CDU und FDP), … na, da fällt euch doch noch eine Menge ein. Wer weiß noch, wer Edathy war? Was war die Amigo-Affäre etc.?

So, und dann rufen politisch korrekte Kritiker dieser Skandale nach rigorosem Abstellen der Missstände. Das ist an sich richtig, aber eben nur an sich.  Jetzt schauen wir uns die andere Seite an:

In den USA hampeln die Demokraten um ein einziges Ziel, nämlich Trump loszuwerden, alles andere, Wirtschafts-, Sozial-, Kulturpolitik sind nur Programmpunkte zu diesem Zweck. Natürlich werden sie damit verlieren.

Bei uns? Wer Halle und Erfurt meint zu verstehen – das kann man – der lese erstmal die Verhinderung der Aufklärung von NSU-Verbrechen durch unsere Sicherheitsagenturen (ZEIT Magazin #8, 13.2.2020) und die Aussagen der CDU-Fraktion in Erfurt zur Verbindung mit der AfD. Dagegen gibt es keine Maßnahmen, auch die Kategorien Eingrenzung/Ausgrenzung sind unbrauchbar. Solange pubertierende Rechtsausleger wie Ziemiak und Kuban meinen,die Mitte zu repräsentieren, wenn sie AfD und Linkspartei gleichsetzen, sind wir schon in Weimar – und die CDU in der Rolle DNVP. (Vorsicht: Ziemiak nennt Höcke ausdrücklich einen Nazi, andere AfD Mitglieder auch (DLF Nachrichten 19 Uhr). . Aber: wenn er die zeitgemäße Entwicklung der AfD zu Nazis mit der Vergangenheit der Linkspartei in PDS und SED gleichsetzt, dann kommen wir in ein unlösbares Dilemma: die Mitte. Siehe drei Absätze weiter unten). Steigbügelhalter für die Nazis, bevor die noch die Macht ganz ergriffen haben. Dazu muss es nicht kommen, aber es kann. Und die Analogie zu den USA ist nicht an die Personen geknüpft – Nazi Höcke, Nazi Gauland, Nazisse Weidel u.a. – nicht nur an diese, aber an ihr Charisma durchaus, sowenig wie Trump den weißen Faschismus ohne die weißen Faschisten bewegen könnte. Dass die AfD unsere Feinde, also die der Demokratie sind, bitte, wie oft muss man das wiederholen, bevor die Litanei zum verodneten Morgengebet wird? Nein, was ist mit uns?

Die Demokratie erodiert, weil wir z.B. im Klimaproblem an sich überwiegend einer Meinung sind – es muss bald etwas geschehen – aber für uns wollen wir noch einige Zeit keine Windräder vor der Tür, keine Geschwindigkeitsbeschränkung, keinen Verzicht auf Kreuzfahrten, kein…kein…“An sich“, „Für sich“, „Für uns“…der heilige Hegel lässt grüßen, auch Sankt Marx. Und da liegt ein Stolperstein. Wenn man nämlich eben diese individualistische, „Für sich“-okratie (Man müsste sagen: Pfirsichokratie, aber das finde nur ich lustig) dafür kritisiert, dass sie nicht handeln möchte, dann meist aus einer undemokratischen Position heraus, die die große Masse – die Mehrheit der Bevölkerung – für zu blöd hält, ernsthaft mit den Problemen umzugehen. Aber wählen dürfen sie, und überhaupt die Gleichheit – Eine Person eine Stimme – eine Herausforderung an den Common sense.

Nun gibt es hier zwei Probleme: wenn das Volk in toto so blöd ist, dann wird das Herausheben der Wahlberechtigten zu einer Selektion der Wahlbefähigten aus vielerlei Gründen: rassisch, sexuell, religiös, ideologisch, oder durch IQ – Messung…Diese Debatte über die Wahlbefähigung der Schwarzen habe ich in den USA vor ca. 30 Jahren noch live miterlebt. So geht’s also nicht. Das andere Problem: eine unausgesprochene These besagt, dass in der Demokratie alle das Sagen haben sollen, die nicht eine extreme Position an den Rändern besetzen. Die wiederum werden als rechts und links bezeichnet. Es gibt wenige Bereiche der Politik(wissenschaft), die so ausführlich und kontrovers beschrieben werden, ich gebe hier gar keinen Hinweis: verbringt einmal Zeit mit der Geschichte dieser Dimension. Aber fast alle Theorien kennen auch eine Mitte; wenn man rechts und links qualitativ noch beschreiben kann, bleibt die Mitte eine mehr als vage Konstruktion, die sich, jenseits einer punktförmigen Idee, ja angeblich nur nach rechts ODER links neigen kann. „Die Gründung der Quasi-Partei richtete sich gegen extrem linke und extrem rechte Positionen, nicht aber gegen Radikalität im Allgemeinen“, heißt es in einem Artikel zur 1950 gegründeten ironischen Partei (https://de.wikipedia.org/wiki/Radikale_Mitte), gar nicht ironisch gemeint. Auch der Extremismus der Mitte ist v.a. für die Gegenwartsdiagnose heftig diskutiert (https://de.wikipedia.org/ wiki/Extremismus_der_Mitte). Aus diesen Erörterungen kann man einen logischen, nicht unbedingt pragmatischen Schluss ziehen: die Mitte verschiebt sich in Gestalt ihrer Mitglieder in der Bevölkerung in Richtung auf die politischen Kraftzentren an den Rändern; als Opposition vergrößert sie die Abstände.

Wie prekär die reale Situation ist, kann man darum sehen, dass Grüne und FDP nicht um die „Mitte“ konkurrieren, wenn die CDU/CSU „rechts“ und SPD „links“ driften, noch weiter rechts ist dann die AfD und noch weiter links die Linke. Wenn die Grünen so erfolgreich, und die FDP so kümmerlich, in der Mitte der Gesellschaft gewinnen, dann mit Themen und nicht mit Programmen, mit Praxis und nicht mit Rahmenbedingungen (Markt, Individuum…). Und jetzt zurück zur Demokratie: nicht die Parteien bestimmen die Abstände zu einander.

Schluss mit dem Kolleg. Im Augenblick dünnt die Mitte aus, wie ein gezogener Kaugummi; wenn das Loch zu groß wird, kann man nicht mehr aufblasen. Aber die SPD wird dadurch nicht links oder linker, die CDU aber wird de facto rechter, jedenfalls als Merkel, und zwar mit AKK, mit Merz, und schon gar mit den Knaben aus dem Nachwuchsfähnchen. Das fällt im Übrigen allen Journalist/innen auf, jeglicher Couleur ihrer Medien. Dabei geht’s nicht um Ramelow. Dabei geht’s um die Demokratie. Und es fällt uns auf, dass wir uns nicht nur nach der rechts-links-Koordinate orientieren sollten. Die gibt’s noch, aber wichtiger ist die Priorität der Themen, die durch Politik zum Handeln gebracht werden können. Damit ergeben sich die Abstände von selbst. Und was die Nazis von der AfD betrifft: wir kritisieren die Nazis ja nicht wegen des Wetterberichts im Völkischen Beobachter. Und wir kritisieren die AfD nicht, weil sie auch bestimmte Auffassungen mit anderen teilen; sondern weil bestimmte Auffassungen in der Demokratie nicht mit anderen teilbar sind. Und das zu vermitteln, ist Aufgabe demokratischer Parteien.

Damit verbunden ist aber schon der Kampf gegen die Wendts, Maassens, Mitschs etc., die ja Türöffner zur AfD sind. Wir wollen darüber entscheiden, wo die nicht überschreitbare Grenze der zivilisierten Demokratie liegt, und das müssten wir auch, wenn es zur Zeit die AfD gar nicht gäbe.

Das gilt für Demokraten in den USA gegen Trump auch.

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