Mayday. Notruf, äußerst konventionell: https://de.wikipedia.org/wiki/Mayday_(Notruf). Am letzten Tag des Mai 2020.
Mayday. Unsere Notsituation ist heimtückisch. Das neue Lieblingswort heißt Normalisierung. Wenn eine Notsituation normal ist, dann ist der echte Ausnahmezustand erst eingetreten, wenn die Normalisierung wieder überwunden ist. Angeblich befinden wir uns jetzt in einem Ausnahmezustand, der endlich normalisiert werden soll, obwohl und weil viele Maßnahmen gerade jetzt so beibehalten werden, dass wir uns an sie gewöhnen.
Nein, nicht gleich wieder Corona.
Normalität hat viel mit Gewöhnung zu tun. Wir haben uns daran gewöhnt, dass der sexistische rassistische Irre im Weißen Haus angeblich Präsident der USA ist, dass sein Botschafter Grenell sich in die Innenpolitik der bundesrepublikanischen Bananenrepublik einmischt, dass diese Bananenrepublik sich nicht gegen die Versklavung von HongKong einmischt, weil das unseren Autoverkauf beeinträchtigen könnte…und an so viel haben wir uns gewöhnt, dass viele hoffen, sie würden in ein paar Wochen die Umgebung und die Umstände ihres Lebensstils nicht von der Zeit davor unterscheiden können. Diese Zeit davor war also normal? Weiße Polizisten haben auch vor Januar überwiegend schwarze US Bürger ermordet, das ist schon lange normal; dass Diktaturen wie China und Russland weder internationale noch Menschenrechte achten, war normal, solange wir aus demokratischer Sicht solche Diktaturen als das Andere unserer Gesellschaftsform angesehen haben. Aber wir weichen vor diesen vor diesen Diktaturen zurück, weil sie mehr Macht besitzen, und wir weichen aus dem gleichen Grund vor Trump zurück.
So nett sind wir auch zu anderen, wenn sie unsere Werte mit Füßen treten, weil wir ja nicht auf der gleichen Stufe mit ihnen stehen wollen und nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Wenn das in der Politik weltweit anerkanntes Grundprinzip wäre, was reg‘ ich mich auf.
Was mich aufregt ist, dass die deutsche Politik immer nur einen Gegner, einen Anlass zugleich bearbeiten kann. Gemengelagen, die nicht nur Kompromisse, sondern Konfrontation und Prioritäten verlangen, übersteigen die Fähigkeit dieser Regierung, wie übrigens auch von Teilen der EU. Nehmen wir die Bausteine China – USA – Trump – WHO – Hongkong – deutsche Wirtschaftsinteressen. Macht was draus…
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Ich weiß, das ist etwas für Think-Tanks, für Regierungskonferenzen, für hochdotierte Beraterfestspiele – einerseits; andererseits ist es ein Komplex von Problemen, die durch Passivität oder Nichtbeachtung liegen bleiben, bis sie vergessen sind oder sich durch andere Eingriffe und die Aktionen von Anderen scheinbar von selbst lösen. Dann schreit man, oj Katastrophe!, wie bei den Toten im Mittelmeer, wie bei den Vergessenen allüberall, weil ja bei der Globalisierung nicht so schwierig ist, sie aus den Augen zu verlieren.
Normalisierung der eindimensionalen Lebens- und Handlungswege, das ist nicht nur Phantasielosigkeit. Der oft religiöse Wunsch nach Erlösung bedeutet ein Abgeben von Verantwortung, und bis die Macht eingreift – mit Polizeiknüppeln, Vollstreckungsanordnungen, Strafzahlungen oder Jenseitsversprechen – wird die größte Untugend geübt: Abwarten. Abwarten, bis man einschläft (und erlöst aufwacht), bis etwas, „etwas“, geschieht, das man weder herbeigerufen hat noch SO gewollt hat: aber immerhin, es tut sich etwas.
Der von der Polizei ermordete schwarze US-Bürger ist der Normalfall.
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In solchen Zeiten hoffen viele Menschen auf Reinigung der Gesellschaft durch Gewalt, für manche ist Krieg ein Ausweg, für andere ein so genannter Endkampf. Diese Gedanken zeigen die Beschränktheit der Evolution. Aber SO beschränkt ist sie nicht, dass wir nicht handeln könnten, Widerstand gegen Gewalt, symbolisch gegen alle weißen Polizisten, real im dauernden Wälzen des Steins – wir müssen uns Sysiphos als Politiker vorstellen, ob er oder sie dabei glücklich werden, ist eine andere Frage. Steine gibt es genug, im Normalfall.