In einem anderen Land

Hemingways Roman A Farewell to Arms heißt leider auf Deutsch auch In einem andern Land, was heißt leider? Kulturvergleich und Krieg bzw. Gewalt sind oft zeitlos.

Ich musste für eine Woche nach Österreich, einige Tage „privat“, was ist schon privat ohne den Kontext von Gesellschaft, danach in einem Forschungsprojekt. Das Private hat mit Familie zu tun, und deshalb eine Woche Coronatests, Warten auf die Bescheinigung, um dann keinerlei Kontrollen im Zug zu erfahren, nur die Pendler zwischen Österreich und Bayern, nicht Deutschland, werden noch gefilzt. Und selten waren mir die Unterschiede zwischen beiden Ländern so krass und überdeutlich unter die Haut gegangen wie diesmal. Ich muss verallgemeinern, weil ich ja nur einen schmalen Ausschnitt wirklich sehe, aufnehme, aus den Medien hier erfahre.

Nach einer knappen Woche fasse ich zusammen: hier geht man disziplinierter mit den Auflagen zu CoVid um, die Ausnahmen sind so grauslich wie in Deutschland, sichtbar seltener. Auch in ländlichen und abgelegenen Regionen, weit weg von den Hotspots; hier sind die Züge geradezu unheimlich pünktlich, aber das schreibe ich der Tatsache zu, dass wir keine Pofallas und Mehdorns hatten; hier ist die Politik ähnlich gespalten wie in Deutschland, aber ganz anders, in Sphären geteilt, in denen die eine oder die andere Partei ihre Programme umsetzt, weniger dauernd Kompromisse macht, das ist manchmal gut, manchmal unsinnig; da das Essen in Österreich genuin besser ist als in Deutschland, esse ich hier ohne zu vergleichen. Schluss mit diesen Petitessen, die Medien sind auch gut oder ganz schlecht, da nehmen sich die Nachbarn nichts. Darum schreibe ich hier aber nichts, sondern:

Endlich nicht nur in der Ferne Berge, frisch beschneit (das wird nicht lange halten, aber der Anblick lässt die Trockenheit für einen Augenblick vergessen). Die Felder sind kleinteiliger und grüner. Da ist keine Heimatromantik dabei, sondern ein fast positivistischer Vergleichsblick. Alles ist kleiner, das sollte mich besonders in unserer Forschungsgegend erfreuen, dem so genannten Weinviertel, wo 6000 Einwohner schon eine kleine Stadt machen, es gibt über weite Flächen Rundangerdörfer und endlose Straßendörfer, die ihre alte Struktur erhalten haben, aber viele der Weinkeller sind funktionslos geworden, viele der alten kleinen Häuser nicht gut bewohnbar, und die meisten neuen Einfamilienhäuser so hässlich wie überall, aber stärker verdichtet. Wenig Zersiedelung, auch nicht alles voller billigem Massenwein, sondern eher bessere Produkte, dazwischen anderes Beackere, und manche der vielen kleinen Dörfer werden die nächsten Jahre nicht überleben, weil die Jungen oft wegziehen, in die Bezirksstadt oder gleich nach Wien, die Nordautobahn nach Brünn ist nicht weit. Erfreulich die viele Windenergie, die bis zu einer bestimmten Linie den Horizont füllt, sehr intensiv, und dahinter nichts. Vor 120 Jahren war das eine wichtige Gegend, nicht nur für Weinbau, dann verarmte das Dreiländereck zu Tschechien und der Slowakei, und heute ist man früh, bestimmte Fehler nicht gemacht zu haben, weil das Geld dafür fehlte. In

Bei unserer Projektarbeit sehen wir die unaufgeregte Befolgung der CoVid-Anordnungen, weder Zustimmung noch Ablehnung, das ist halt so, und der Mundschutz ist immer parat. Vielleicht schreibe ich demnächst einen Reisebericht.

Diese fünf Tage hatten aber eine andere Wirkung als die des abwechslungsfrohen Arbeitsreisenden. Die Stationen der Dienstreise haben jeweils eine Menge biographischer Assoziationen hervorgebracht, die aus der Erinnerung eben nicht „Heimat“ erzeugt oder befestigt haben. Sondern das, was man sich zu frühen Zeitpunkten anders, verändert oder verstehbar gewünscht hatte, taucht wieder auf und keineswegs sehnt man sich zurück, sondern vergleicht die Wunschorte mit dem jetzigen Zustand. Und da kommen Heimatgefühle auf. Nämlich so, dass man einerseits froh ist darüber, was sich in einer bestimmten Weise erhalten hat, und andererseits jetzt durchschaut, was sich schon früher hätte andern müssen, dass man sich etwa vorstellt, was es bedeutet hätte, hier und nicht in Wien zu wohnen, oder wie man sich in Gefahr begeben hätte, wenn man einen bestimmten Berg, Ziel von Projektionen, bestiegen hätte, um dazu zu gehören. Es ist nicht eine Rückkehr in frühere Lebensphasen, sondern ein Historienfilm, in dem man heute andere Rollen sich wünscht als man früher hatte. Ich sage man und nicht ich, weil ich mir oft andere Rollen nachträglich gewünscht hätte, zum Beispiel die eines genauen Beobachters…

So lerne ich auch, wie in den letzten hundert Jahren vier Männer gleichen Familiennamens Bürgermeister waren, warum je ein anderer zwischen 1934 und 1938 und zwischen 1938 und 1945 das Amt hatte; warum die frühere Bezirksstadt ihren Rang verloren hatte (man war gegen die Eisenbahn gewesen, um die Droschken zu schützen; heute ist das wirtschaftlich und touristisch ambivalent); warum die attraktiven kleinen Winzerhäuser und Keller schlecht bewohnbar sind, die neueren Einfamilienhäuser wiederum selten barrierefrei sind, und was das damit zu tun hat, dass jetzt für die Alten anders gesorgt werden muss, während viele Junge fortgezogen sind…Ist das wichtig?  Wenn interessiert es, muss es, – außerhalb eines bestimmten Forschungsprojekts interessieren?  

Während ich protokolliere, wie sich unsere Gesprächspartner das Leben im Alter wünschen und vorstellen, denke ich daran, wie schnell die Klimakrise diese Wünsche verdrehen oder zunichte machen kann, und was die nächsten zwanzig Jahre nicht überleben wird, an Struktur und Lebenswelt. Das thematisiert, bringt diese Menschen schnell dazu nachzudenken, was es bedeutet, dass viele Jüngere fortgezogen sind und Besuche keine Struktur mehr schaffen. Wenn ein Zugezogener, Ordinarius aus Wien uns genau erklärt, warum kleine Orte ohne Infrastruktur, Versorgung und Kommunikationseinrichtungen nicht überleben werden, gibt er etwa die Zeiträume an, die die Klimaforscher als entscheidend auch vorgeben. Und es fällt, zugegeben, schwer, dies zugleich zu denken, bei einem so guten Wein wie anderswo selten, und beim Anblick von ein paar jungen Menschen, die sich auf dem Platz, nicht Stadt, nicht Land, versammeln, und die wahrscheinlich bald nicht mehr hier leben werden.

In einem intensiven Gespräch kommen wir auf die Globalisierung zu sprechen, und hier ist das den Menschen ganz klar, was damit gemeint ist. Man könnte mit dem Philosophen Ernst Bloch sagen, dass die Heimat erst kommen und werden muss, damit man weiß, was man an ihr im Schlechten und im Guten gehabt hat. Und woher man kommt, ohne je hier gewesen zu sein.

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