A.E.I.O.U.

Austria erit in orbe ultimo – das alte AEIOU – wird ersetzt durch allen Ernstes ist Österreich unerträglich oder unersetzlich oder…vor ein paar Tagen war André Heller in Potsdam zu den Literaturtagen. Er erzählt besser als er schreibt. Was von dem, das er sagt, stimmt,  ist egal, er vermischt erlebtes, mögliches und erdachtes Wirkliches, und dann wird es seine Geschichte. Die berührt manches mit meiner. Hietzing, eine Loosvilla (in einer andern wohnt ein Freund von mir, ich habe die Wendeltreppen gefürchtet), Schüler Schilling?, 2 Jahre Gymnasium  Fichtnergasse (mit mir, ein Jahr nach mir? Jedenfalls eine Schule, die uns nicht viel genutzt hat…meine Mutter wurde zitiert, weil  ich zum Sohn des polnischen Botschafters Kommunist sagte, und zum Klassenvorstand „ihren Humor möchte ich haben“, hätte Heller auch sagen können. In Marokko, in Marrakesch, ist sein herrlicher Garten, habe ich damals nicht gesehen, aber, glaubwürdig, 50, 200 Bedienstete? 4, 40 Hektar…egal. Er stimuliert Erinnerungen an nicht geteilte Lebensabschnitte. Die Story vom Erdbeben und Autounfall und Todesnähe am Sinai, gute Geschichte mit Jasmin, da war er 50.  Ich weiss, warum ich ihn instinktiv nie mochte, natürlich wegen der Erika Pluhar, die hätte mich auch mögen können, kennte sie mich denn anders als Verehrer am Stehplatz im Burgtheater…haha, sie wird seine Frau. Lang ists her. Aber parallel und unvereinbar zugleich: die Millionen des 1893 geborenen Papa, der wird katholisch, wie mein Großvater (ohne Millionen), ist dann ein Austrofaschist, wird von Mussolini den Nazis entrissen, flieht von Paris nach England, wird Besatzungsoffizier….glaubwürdige Details mit dem Sikh am Bügelbrett und den Engländern in Hietzing. Nicht alle getauften Großväter überleben, nicht alle bleiben aktiv katholisch. Seltsam bitter, die Story. Am übernächsten Tag bin ich in Wien, wohne im 5. Stock bei einem Projektpartner und schaue auf die herrlich renovierte alte Bonbonfabrik von Heller, am Hellerpark im 10. Bezirk. Nachtrag: der Zsolnay-Verleger Ohrlinger war auch bei der Lesung, natürlich, und wir beide waren wahrscheinlich die einzigen, die sich an ErnstLothars „Engel mit der Posaune“ erinnerten, frühe Bekanntschaft mit dem Namen des Verlags. Vor 40? Jahren hatte ich den Ohrlinger schon einmal getroffen.   

Zwischen Heller und Wien ein herrlicher Tag bei Tochter und Enkelin am Müggelsee, das ist wie ein Einbruch der Wirklichkeit in den Konjunktiv, wie Leben anders ausschauen hätten können. Gut so, und zur Strafe überfallen wie vor einem Jahr wieder Fledermäuse unsere Wohnung.

Packen, Wienfahrt, direkt ICE von Berlin, zu spät aber ok. Nur mehr erster Klasse. Genug zu tun, mich mit der tektonischen Verschiebung nach rechts zu beschäftigen,  etwas Korrespondenz, viel Lepore, dazu komme ich, und mit Freunden im Wiener Wirtshaus saure Wurst und Palatschinken.

Schön ist schön heiss.

Abends im „Bio“Hotel Wagner am Semmering, Zi 46, im untersten Stock, wie alles hier grün unter Straßenniveau, eigentlich ganz schön, ohne TV, aber der Semmering war nie meines, obwohl die Drogerie Louvre und einige Jugendstilhäuser schön sind, obwohl das Hotel Panhans mich an unser Seminar mit dem Ministerium erinnert und der Hirschenkogel den besoffenen Skifahrten mit Arbeitskollegen, nichts, das mich an etwas wirklich bedeutsames erinnert und doch ein seltsamer Ort, noch nicht einmal haute volée, auch nicht basse.

Heute früh hingegen. O herrliches Wien, vergleiche dich schon gar nicht mit Berlin. Erst beim türkischen Friseur, in wenigen Minuten rasiert, beschnitten, er lässt meinen würdigen Bart noch dran. Von unserem Projektpartner an der Westbahnstraße beginnt eine Wanderung. Stiftskaserne (da ist das Institut für Frieden und Konflikt des General Feichtinger, da habe ich zur Kosovo- und Afghanistanzeit Vorträge gehalten…mariatheresianisch, der Bau, mit Barockkirche), Jochen Frieds  alte Wohnung gegenüber, fast eine Arbeitsexklave damals (bis vor 5 Jahren), Die Kaufhäuser Herzmansky und Gerngross, als Kind täglich mit der Straßenbahn vorbei und im ständigen Zweifel, welches ich wählen würde von den beiden, und die Hauptverkehrsader von Wien, die Mariahilferstrasse ist grün…ich schlage mich unterhalb der Neubaugasse eine Stunde lang durch, 7., 8., 9. Bezirk, heute natürlich vergleichbar mit Charlottenburg, teure wohlhabende Bezirke, aber ganz anders und weniger geplustert. St. Ulrich-Platz, war ich noch nie, da sitzen die Wiener ohne Touristen beim Café, viele kleine Geschäfte, die kommen nicht wieder, die sind noch da, hoffentlich noch ein paar Jahre, eine Knopfpresserei, mehrere herrliche Maßschneidereien (Termine vor anmelden! Wie beim Zahnarzt), Antiquariate vom besten, Gasthäuser (auch einige chinesische, japanische…) die fallen wenig auf, und die Piaristen, ein Gymnasium mit ambivalenter Geschichte. Das alles ist nicht wichtig, aber schön: wie Häuser aus dem 18. Jhdt. neben der Gründerzeit, dem Wohnbau der Nachkriegszeit stehen, keine Spur von Schiemanns Traufenkonzept, Laudongasse, wo meine erste Freundin von der Universität gewohnt hatte und wir Chopin beim armenischen Espresso gehört hatten, nachdem ich sie bei Frau von Meier anstandshalber abgeholt hatte; Duran, den frühen orientalischen Schnellimbiss, gibt’s noch  immer. Die Mariannengasse mit der Poliklinik, wo meine Zähne ruiniert wurden, und daneben wohnte Victor Frankl (den schlagt einmal nach), ein Freund der Familie mit einem der komplizierten Schicksale, passt gut zum Anfang dieser Geschichte, was wohl Gabi (die Tochter) macht, früher Schmerz: sie zog den Reitknecht vor, o Hochmut.  Bald bin am alten Allgemeinen Krankenhaus (1780) und am neueren (19. Jh.) vorbei und am Treffpunkt. Ich habe mir die Route nicht biographisch ausgesucht, sondern geographisch. Kurz nach dem Ulrichsplatz der Liane-Augustin-Platz. Liane Augustin (1927-78) war so typisch Nachkrieg, incl. Eden-Bar und die Hoffnung auf eine verruchte Stimmung durch Stimme. Ihre Chansons („Auch du wirst mich einmal betrügen“) haben mich mit 17 beflügelt.  Wikipedia: Im Jahr 2008 wurde in Wien-Neubau (7. Bezirk) der Augustinplatz nach ihr benannt, wobei sich die Benennung auch auf den Bänkelsänger Marx Augustin (1643–1685) bezieht. Man weiß ja nie…

Was mir neben der ungeplanten sozio-ökonomischen Mischung auch gefällt: Ganz viele verschleierte Frauen auf der Straße, keine Sarrazinschen, die sind hier normal quer durch den Klassenschnitt, das ist so wenig ein Migrantenviertel wie eine weiße Enklave. Ab und an haben Etablissements schon offen, die anderswo in einem definierten Bezirk sich drängen, hier über die Fläche sich verteilen, es gibt kein St. Pauli in Wien.

Bin ich vom nostalgischen Kitsch infiziert?  Es ist glühend heiß, aber ich schwitze nicht, da geht ein Wind und es ist sehr trocken. Nein, nicht die Nostalgie, aber die Gewissheit, dass in meiner Generation, genau nach dem Krieg, alles hätte auch so oder anders kommen können. Und Wien  hat halt eine gute Stadtregierung gehabt, bis heute. Und ist so herrlich dicht gedrängt und nicht weitläufig über das Land verteilt wie Berlin. Wien hat keine Spandaus oder Neuköllns, da kann man schon die Stadt in 5 Stunden durchqueren.

Ich war nahe am Neuen Forum vorbeigegangen. Günther Nenning ist schon so lange tot, niemand lebt mehr aus dem Prager Frühling in Wien, aus dem Warschauer Frühling in Wien, Ivan Illich und alle damals. Nur Alice Schwarzer lebt noch. Dort habe ich ein weiteres Mal begonnen, übrigens auf einem grauenvollen Bürosofa.

Es ist gut, dass Österreich nie versucht war, auch nur annähernd so imperial im  Kapitalismus sich zu entwickeln wie Deutschland, dieser Tage voll von Bismarck. Habsburg war mächtig, gewiss. Und hat sich lange gehalten, hat Hegemonie an Deutschland abgegeben und sich weiter gehalten und ist  immer schon untergegangen, während es noch oben auf der Geschichte sich herumtrieb. (Rudolf Burger sagte damals, der österreichische Kolonialismus entstand entlang der Bahnlinien, das erklärt einiges, aber nicht die Techniktheorie und Ingenieurspraxis; es erklärt nicht die Psychoanalyse (stell dir vor, sie wäre in Berlin entstanden…); es erklärt nicht den Austromarxismus, also eine Sozialdemokratie, die dem kommunistischen Blödsinn einigermaßen widerstanden hatte – und Wien ist noch immer die sozialste Millionenmetropole. Beim Espresso erklärt uns eine Wirtin die Schattenseiten, riecht nach FPÖ…Schon in der Strassenbahn in den 10.  merke ich, wie sehr ich einen guten ÖPNV in D vermisse. Und dabei nicht vergesse, über all dem Lob die ironische Distanz einzuziehen, da ich ja noch nicht auf dem Währinger Friedhof liege und nur mein Nachruf mich ins Sediment dieser Stadt versetzt, wovon ich nichts mehr merke. Zwei Stunden lang post mortem, damit ich sehe, wie die Erinnerung sich bei den Hinterbliebenen abschält. (Das versteht niemand. In Wien glauben viele, dass hier, nur hier, man das Sterben um zwei Stunden überlebt um zu sehen, wie die Hinterbliebenen reagieren und wie schnell sie einen vergessen…). Ich weiss genau, wohnte ich hier, ich würde toben, die grünen Kompromisse verfluchen, Doskocil und Kurz verdammen, alle Bürokratismen, leeren Versprechen geißeln, und trotzdem, realistisch: die Züge sind pünktlich und die Sozialsysteme gerechter als in Deutschland. also? Nix also. Vielleicht ist alles nur die Wirkung des hiesigen Espresso…

Bei Wagner am Semmering: eine Flohmarktbibliothek mit Kipling, Lessing, Reinhold Messner, einer Anleitung für gute Aktfotografie, Fremdenführern und viel Esoterik; schlechter Radioempfang also höre ich LvB Sonaten mit Gulda. Filzpatschen für die Zimmer, Saure Wurst und Mozzarellasalat, Vorarbeit für morgen.

AEIOU Macht euch einen Reim drauf.

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