Jüdischer Einspruch XX unfertiges Judentum überlebt

Seit Tagen arbeite ich an Texten von KZ Überlebenden. Versuche die Distanz des heute lesenden Lebenden von Erinnerungsindustrie zu begreifen. Vor allem Yishai Sarid hat mich schwer beschäftigt (Sarid 2019). Glücklich fiel mir beim Büchereinkauf mit meiner Enkelin ein anderes Buch in die Hände:

Delphine Horvilleur Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. (Horvilleur 2020). Sie ist eine junge, liberale Rabbinerin. Mit einer stupenden Kenntnis des Talmud und der Geschichte des Antisemitismus, bevor es Juden gab. Der bescheidene Titel verdeckt ein gutes Buch. Sie baut ein wenig  auf Sartre, Lacan, Derrida auf….ist aber sehr eigenständig, manchmal nahe an Bodenheimer. Im ersten Teil eine blendende Thora und Talmud Exegese,  die den AS bis auf Abraham, Isaak, dann vor allem Jakob vs. Esau begründet. Thesen hier und später: die Zweiten sind weiter als die Ersten (habe ich schon  früher gesagt, es tut gut, das zu lesen), weil sie nicht vollendet, immer im Werden sind, die Ersten beanspruchen Macht und vor allem Ganzheit. Schön entwickelt anhand von Ester, Haman versus Mordechai, das kann man auch genealogisch hinbiegen. Aber schon hier: AS ist übermäßig männlich, Jakob und die Juden mit hoher Weiblichkeit.  Juden gegen Römer, das Gleiche. Der Rabbi und der Kaiser (Antoninus Pius spielt da eine namentliche Rolle). Juden werden gehasst,  weil sie etwas haben, das ihre mächtigeren Gegner gerne hätten, und weil sie nicht haben, was diese Gegner aber integrieren müss(t)en um ganz zu werden. Sie geht auch das nachfolgende stereotype Gewirk des AS durch, wenig Politökonomie, viel Freud. Gut der Abschnitt über Weininger. Spannend und brisant die gegenwärtigen Varianten – das kann man fortsetzen, etwa den AS, der auch in black lives matter enthalten ist, und vor allem in identitären Ideologien.  Israelkritik ist dann und nur dann richtig  und legitim, wenn sie sich der Identitätsdebatte entzieht. Der wirft sie vor, sich dem aufgeklärten Anspruch der Person (fände ich besser als Individualität) zu verweigern, und dann zu einem falschen WIR zu kommen; man kann hier von  einer Opferkonkurrenz sprechen, in dem die Juden negativ, alle andern Opfer positiv konnotiert sind. Horvilleur lässt sich auch (zu) kurz mit der gegenwärtigen aus den USA herüberkommenden Bewegung der kulturellen Aneignung ein. ich stimme mit ihr überein, dass wir nicht die Shoah zum Brennpunkt und Maßstab alle jüdischen Geschichtemachen sollen, können.  Da steht uns noch ein gewaltiger Kampf um. Gerechtigkeit bevor. In ihrer Kritik am linken AS und an einem AS Feminismus kann ich ihr zustimmen, die Brücke allerdings von der schon hebräischen Weiblichkeit des später jüdischen Mannes als eines unfertigen, weil der Zukunft noch offenen Menschen, gegen die Ganzheitlichkeit, müsste noch viel weiter ausgebaut werden. Hinweise auf die Quellen bei Mo Urban, und der will ich neue Quellen in diesem Buch mitteilen. Schöner Satz „Das wahre Judentum ist in Israel nicht präsenter als in der Diaspora. Letztlich ist es nur dort wahr, wo es nicht alles über sich selbst gesagt zu haben glaubt“ (128). Darum schreiben wir weiter.

Gerade in den letzten Tagen habe ich viel Frankl (Frankl 2008), Sarid (Sarid 2019), dann Primo Levi und Fred Wander gelesen (Wander 1985, Levi 1986) gelesen. „Der Jude“ im KZ. Immer mehr wird mir gerade an der Leidensgeschichte auch klar, dass Kertesz recht hat: ich – ein anderer . Dann kann ich über das Überleben berichten. Dieses Überleben, die Hartnäckigkeit der Nichtintegration hat diese Position der Juden von Anfang an geprägt, seit Amalek, und wenn Max Czollek (Czollek 2018) mit seiner Desintegration das meint, kann ich mich eher mit dem Aufruf versöhnen.   

Czollek, M. (2018). Desintegriert euch! München, Hanser.

Frankl, V. (2008). Man’s Search for Meaning. London, Rider.

Horvilleur, D. (2020). Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Berlin, Hanser.

Levi, P. (1986). Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Hanser.

Sarid, Y. (2019). Monster. Zürich, Kein&Aber.

Wander, F. (1985). Der siebente Brunnen. Darmstadt, Luchterhand.

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