Wer sorgt sich um die Menschen in Israel und Palästina? wer argumentiert dazu und wie? Lesarten meiner Befindlichkeit dazu, ohne gewichtete Reihenfolge.
Lesart 1:
Die gegenwärtige Konfrontation nützt fast allen Akteuren.
- Die Hamas wird die PLO und die palästinensische Verwaltung ausbremsen, bzw. mit mehr Macht weiter über den Gaza herrschen, auch weil Abbas die Wahlen abgesagt hatte;
- Netanjahu wird weiterregieren und sogar eine Mehrheit im Land hinter sich wissen, weil die Raketenangriffe auf Tel Aviv, Ashkelon, Ashdod und andere Orte die Verwundbarkeit Israels belegen, nicht nur die Verteidigungskraft des Iron Dome;
- Die Siedler fühlen sich sicherer als je zuvor, weil sie unter der Konfrontation wegtauchen;
- Die ultra-orthodoxen jüdischen Religiösen tauchen ebenfalls darunter weg und machen ihre Corona- und Sicherheitsvergehen vergleichsweise unsichtbar;
- Die israelischen Araber (ca. 20%) sehen sich durch die Hamas zu einer innen politischen Konfrontation ermutigt, die ihren Status nicht mehr durch Verhandlungen verbessern kann;
- Im Iran stehen Wahlen an, die Radikalen Gegner des Nuklearabkommens fürchten einen Sieg der Gemäßigten;
- Erdögan kann sich islamistisch profilieren und von den eigenen Problemen ablenken;
- Für sehr viele politische und kulturelle Stimmen ist die Situation eine Gelegenheit sich zu positionieren: das Existenzrecht Israels wird beschworen als Ausweis korrekter historisch und humanitärer Einstellung.
Über die Toten auf beiden Seiten, über die absehbaren Folgen dieses Konflikts, über seine Anlässe und Hintergründe und Ursachen wird vergleichsweise wenig gesagt.
Lesart 2:
- Unter den wenigen anhörbaren Stimmen ragt empfehlenswert besonders Micha Brumlik im DLF, 16.5.2021 8.10, hervor. Zu den antisemitischen und antiisraelischen Aktionen findet er die richtige Differenzierung und vor allem dekonstruiert er die Deckungsgleichheit von Israelkritik und Antisemitismus. Sehr klar: Antisemitismus ist Antisemitismus. Wo und wie auch immer.
- Hannah Arendt: „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.“ (1964), in Variationen.
- Was soll verteidigt werden? Der jüdische Staat (Existenzrecht, ungefährdete Lieblingsvokabel), der jüdische Staat (das geht nicht ohne Geschichte, und hier ist die Shoah nur ein Element), die Zweistaatenlösung (auch das geht nicht ohne Geschichte und die Wahrnehmung der Einmischung von außen), die Demokratie in Israel (die von außen und innen gefährdet ist), eine Verhandlung palästinensischer Autonomie und Staatlichkeit (was ist das Äquivalent zum og. Existenzrecht?), das Ende von Besatzung…die Liste ist unvollständig.
Über die Toten auf beiden Seiten, über die absehbaren Folgen dieses Konflikts, über seine Anlässe und Hintergründe und Ursachen wird vergleichsweise wenig gesagt. Manche Kommentare sehen so aus, als hätte man den Ausbruch des Krieges ohnedies erwartet, und bei der Schuldfrage scheint es, als hätten sich die stereotypischen Vorurteile nur vertieft, wenig verändert.
3. Lesart
Seit vielen Jahrzehnten ist das jüdische Leben – säkular, religiös, ethnokulturell, sozial – eines meiner Themen. Singular: Leben. Dazu gehört eine besondere Zuneigung zu Israel, so etwas wie die Liebe zum Land (s.u.) ebenso einschließt wie die Kritik an der Politik und an den Ursachen politischer und religiöser Verirrungen.
- Die Shoah ist eine Ursache und Wurzel des Staates Israel, es gab vor seiner Gründung schon andere. Und es gibt immer wieder neue Begründungen seiner Existenz.
- Ich kann mit einer vergleichsweisen Position zum palästinensischen Leben nicht aufwarten. Was eine bestimmte Solidarität und Empathie natürlich nicht ausschließt, aber ebenso natürlich auch nicht die Kritik an der Politik der auf arabischer, palästinensischer, islamischer Seite vertretenen Macht und der Israel umgebenden, anfeindenden und bedrohenden Staaten, für die Palästinenser*innen oft wie Geisel oder Faustpfänder behandelt werden bzw. ihre Politik legitimieren sollen.
- Nach wie vor schätze ich die kritische und produktive tentative Überwindung der Konflikte in Kunst und Kultur, sowohl zwischen den ethnischen Herkunftsgruppen (das ist kein oberflächlicher Dialog, wie oft bei uns im Westen) als auch in den Beziehungen nach außen. Es drängt mich jetzt eine Namensliste der Menschen in diesem Bereich hinzuschreiben, mach ich aber nicht, weil wir nicht im Feuilleton der Kulturkritik sind. Diese gelebte Solidarität wird schwieriger werden, aber es kommt immer wieder.
Über die Toten auf beiden Seiten, über die absehbaren Folgen dieses Konflikts, über seine Anlässe und Hintergründe und Ursachen wird vergleichsweise wenig gesagt. Manche Kommentare sehen so aus, als hätte man den Ausbruch des Krieges ohnedies erwartet, und bei der Schuldfrage scheint es, als hätten sich die stereotypischen Vorurteile nur vertieft, wenig verändert. Die Toten werden, wie so oft, Elemente der künftigen Politik rechtfertigen, darüber wird ihr Leben und Sterben rasch vergessen werden.
4. Lesart
– Ich sagte, ich liebte das Land Israel. Auf Schritt und Tritt sind mir immer die drei obigen Lesarten begegnet, wenn mit befreundeten Reisegefährt*innen, Kindern, im wissenschaftlichen Bereich, bisweilen politisch, touristisch oder in Erinnerung an meinen Vater, der den Krieg teilweise im britischen Gefängnis in Attlit, teilweise gegen die Deutschen kämpfend überlebt hatte. Das Worte „Liebe“ ist selbst dann ironisch, wenn man etwas meint, was zur Zeit in den verschiedenen Diskursen zu Identität, Heimat und Belonging durcheinander geht. Ich begnüge mich damit, es nicht begründen zu müssen, aber es aufrecht zu erhalten, inmitten von Kritik, Resignation, Trauer oder Zorn.
5. Lesart
– ich halte mich mit Ratschlägen, wer denn jetzt mit wem verhandeln soll, USA, EU, Deutschland oder…zurück. Eine Meinung zu haben reicht nicht, und die Verurteilung der Trumpschen Politik oder des Mordes Rabin oder…hilft jetzt wenig, weil Urteile immer auch Revisionen, Amnestien etc. nach sich ziehen, die in einem anderen Rahmen geschehen.
– Krieg, Bürgerkrieg, Aufstandsbekämpfung, Existenzsicherung, Ermächtigung und Entmachtung. Die Begriffsbildung birgt schon die Beeinflussung der Adressierten, auch uns.
– Auch bedrückt mich, wie schnell der Konflikt um Israel die anderen Brennpunkte globaler Konflikte degradiert und verkleinert. Aber es zeigt, dass viele hinter dem Geschehen in Israel etwas „Größeres“, meist zu Recht, vermuten, es aber nicht äußern, sei es aus Korrektheit oder Taktik. Z.B. ideologische und ethno-identitäre Argumente Legitimation von Machtpolitik und Unterdrückung von Minderheiten; z.B. Religion als Instrument zum gleichen Zweck, manchmal auch verbunden mit einer einseitigen, aber nicht haltbaren Geschichtsdeutung. Z.B. Ablenkung von eigenen, anderen Problemen…etc.;
Über die Toten auf beiden Seiten, über die absehbaren Folgen dieses Konflikts, über seine Anlässe und Hintergründe und Ursachen wird vergleichsweise wenig gesagt. Manche Kommentare sehen so aus, als hätte man den Ausbruch des Krieges ohnedies erwartet, und bei der Schuldfrage scheint es, als hätten sich die stereotypischen Vorurteile nur vertieft, wenig verändert. Manche lügen oder heucheln eine politische Überzeugung, die sie selbst durch ihre Praxis fragwürdig gemacht haben. Das schmerzt dort, wo man es durchschaut.