Schildkröten sind wir uns Geister
WENN: Wenn sich Gefahren abzeichnen, verkriechen sich Schildkröten in ihren Panzer und entgehen so den meisten Angriffen. Natürlich, wenn ein Raubvogel sie aufgreift und dann von weit oben auf den Klippenzerschellen lässt, ist alles vorbei.
AUCH: Auch kann man, wenn sich nichts Rettendes naht, auch weil die Gefahren so zahlreich und mächtig sind, die Geister anrufen. Mit der Bitte einzugreifen und das erledigen, wozu wir zu wenig Kraft, Phantasie oder auch Macht haben.
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Allein das Aufzählen der unerhörten Ereignisse der letzten Tage und Wochen ist aufwändig und erlaubt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Übersicht. Noch schwieriger ist es, Ordnung und Wertigkeit in diese Liste zu bringen, obwohl wir mit dem Begriff der Priorisierung ja schon überfordert werden. und die Kommunikation darüber ist noch einmal schwierig, weil sich verschiedene Prioritäten unterschiedlich auswirken, auch noch mehr mehrprivate, mehr öffentliche usw. so ungefähr könnte eine Vorlesung zum Thema beginnen. Und in der Tat, ich lese mir vor: Israel, Afghanistan, Antisemitismus, Coronachaos, die Liste ist unendlich.
Mir kommt das vor wie die Bibliothek von Babel des Jorge Borges, die ja auch das Universum ist: egal, wieviel die Häretiker an Büchern vernichten, sie bleibt unendlich. Also, was tun? Ordnung schaffen kann man nicht einmal als Gedankenexperiment. Alles lassen, wie es scheint, hieße dem Elend Vorschub leisten oder hoffen, dass sich ohne Aktion alles irgendwie zum Besseren fügt.
Ihr seht, alle diese Vorschläge und Überlegung gleiten in die altbackene Philosophie oder die zeitlose Esoterik ab.
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Da gab es aber doch andere Entwicklungen, zugegeben nicht so viele und viele nicht so deutlich, aber doch: weit früher der Völkerbund, der Nansenpass, die Gründung der VN, der österreichische Staatsvertrag von 1955…nichts davon fehlerfrei, alles aber mit überwältigend positiven Auswirkungen. später dann Abrüstungsverträge, der Atomvertrag mit dem Iran, das Pariser Klimaabkommen…und je weiter nach unten in lokaler oder zeitlicher Hinsicht, umso mehr derartiger Eingriffe in die gewalttätige Unordnung gibt es. Dazu musste jedesmal etwas getan werden, das die Normalität der geltenden Regelanwendung durchbricht.
HIER BRECHE ICH AB UND SETZE NEU AN
Man kann sich lange über dystopische kurzfristige Zukunftsszenarien austauschen oder gar neue entwerfen. das geht im Kollektiv, in der Institution schwerfällig vor sich als im Arkan der eigenen Gedankenwelt, wo man soviele tolle Lösungen hat für Probleme, die nie größer sind als die eigene Vorstellungswelt. Es macht keinen Sinn, die eigenen Vorstellungen, die ich durchaus habe, zu verbreiten. Die Schildkröte in mir zieht sich zurück, der Panzer besteht darin, wie wenig ich zur Zeit tun kann, weshalb diese Weltkonflikte sich auch nicht direkt auf mich stürzen, nur indirekt. Ich konzentriere mich auf die Aktionen zur Rettung der afghanischen Ortskräfte, vergleicht den BLOG vom 14. Mai 2021, da kommt noch einiges.
Das ist keine große Aktion, aber sie zeigt, wie weltweit vieles mit vielem verknüpft ist, und wie stark sich diese Vernetzung auf die eigene Vorstellungswelt auswirkt. Aus dem Kopf geht es mir nicht, wen es nicht auch, sondern vorrangig zu retten gilt: ist es der Koch…
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
…
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
…
(Bertolt Brecht, 1935)
Der Fahrer, der Übersetzer, die Sekretärin, die Übersetzerin?
Aus der ambivalenten Rolle Deutschlands bei den militärischen Interventionen, an denen es beteiligt war und ist – Afghanistan als Beispiel – und an denen es sich nicht beteiligt – Syrien als Beispiel – kann man die Verbindung zwischen uns und der globalen Politik gut herstellen, aber nicht mit dem Selbstbewusstsein voller Souveränität, auch nicht über die eigene Weltkultur.
Von oben betrachtet, kann man alles kommentieren, aber nicht handeln. Von unten sieht es nicht so übersichtlich aus, aber wir können immer wieder anfangen, etwas zu tun.