Reissts euch zsamm…sagt man bei uns zuhaus, wenn sich jemand beherrschen soll oder nicht so blöd daherreden oder wenn jemand aus dem leim oder aus dem ruder läuft, im plural immer einer gruppe zugeeignet.
Man kann das auch an sich selbst richten, wenn man befürchtet, dass bestimmte assoziationen oder so genannte schnell-schüsse einen selbst beschädigen oder gar gefährden können. Reiss di zsamm, sagt man sich dann. Zeit gewinnen. Nach der weissrussischen flugzeugentführung und folterung nicht gleich sagen, bombardiert umgehend kiew mit der nato und nehmt den botschafter fest, bis lukashenka nachgibt. Oder wenn der seehofer wieder abschieben lässt, ihm die begleitung seiner opfer so androhen, dass er sich selbst in gefahr wähnt. Oder wenn der spahn wieder in die virenwolke hineinredet, seine immobilien besprühen. Oder…nichts von dem macht man und noch nicht einmal droht man es öffentlich an, man verlangt es gar nicht.
ICH SCHREIBE DAS ALLES IN KLEINBUCHSTABEN, WEIL ICH MICH NATÜRLICH VON SOLCHEN ASSOZIATIONEN SELBST DISTANZIERE: GROSZBUCHSTABEN WÜRDEN DAS ALLES JA HERVORHEBEN.
Also ich reiss mich zsamm. Und frage mich, wie man als individuum, als „person“ inmitten einer sich merklich auflösenden so genannten welt nicht nur ruhig und alltagsnormal bleiben kann, sondern als beobachter ein kultiviertes leben in genau umschriebenen kreisen „führen“ kann, während um einen herum – im „makro“ – nichts mehr so ist, dass man meinen könnte, jemand wäre in der lage, es einzufangen; jemand, eine Regierung, eine Armee, ein Mittelfinger Gottes (groß geschrieben, ihr wisst schon….).
Zum chaos gehört, dass es fast gleichgültig ist, an welcher stelle man anfängt es aufzudröseln und – manche behaupten, das könne man – es zu ORDNEN. Durch den coronadiskurs wisst ihr ja, was TRIAGE heisst, das kann man natürlich auch auf die politik anwenden (https://de.wikipedia.org/wiki /Triage), aber auch triangulierung. die reihenfolge der aktionen an einem schema ausrichten, das einem nachher als legitimation dient. Erst kiew bombardieren oder erst orban aus der EU werfen oder erst dänemark daran hindern, weiterhin so grausam mit flüchtlingen umzugehen oder… da die liste unendlich ist, muss wiederum borges‘ bibliothek von babel angewendet werden. Die hat den vorteil, dass jeder zeitpunkt zum einstieg und jeder anlass zu fast gleichen resultaten führen kann.
Ich will darauf hinaus, dass nicht jeder beobachter der unglaublichen, ja schrecklichen zustände der welt schuldig als untätiger zeuge wird, automatisch, unentrinnbar. Wenn wir, einer allein, also ein „ich“ kann das gar nicht, wenn wir die zustände der welt überhaupt fassen, sie in ihrer monstrosität begreifen und nicht daran irre oder verzweifelt werden liegt das daran, dass die abstände zwischen den ereignissen, das „dazwischen“, noch gerade so viel raum lässt, dass man selber sich begreift und teil der großen katastrophe jetzt ist, jetzt also im augenblick des beobachtenden erkennens wie schlimm das alles tatsächlich ist. stoisch zwischen den kriegen, sage ich mir ein wenig pathetisch.
So wie jetzt müssen sich doch vergleichbar die besseren, klügeren, anständigeren menschen der zwischenkriegszeit begriffen haben. Gerade wenn sie hinschauen und urteilen, kritik üben, gar reformen wollten, könnten sie denn, gerade dann müssen sie ja doch sie selbst bleiben und sich nicht überantworten, was leider im lauf der zwanziger und dreißiger jahre doch die mehrheit der deutschen getan hatte. Weil der satz ohnedies auf etwas anderes gemünzt war: wir müssen geradezu das richtige leben im falschen (Adorno) auch leben, sonst gehen wir zugrund bevor alles zugrunde geht.
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Diese überlegungen stelle ich an, nachdem ich die unkommentierbar oberflächlichen berichte zum ergebnis der wahlen in sachsen-anhalt vernommen habe. Dass 37% CDU AUS ALLEN DEMOKRATISCHEN PARTEIEN ZUSAMMENGEKRATZT DEN ABSTAND ZUR AFD ZU RECHT VERGÖSSERT HÄTTEN: weshalb alle anderen parteien verloren haben oder ärmer aussehen, und hier die demokratie gesiegt hätte.
1932 gab es eine koalition NSDAP und DNVP, die nazis waren die stärkste fraktion. Ich vergleiche nicht – NICHT – die cdu mit der dnvp, aber die nazis von der afd stehen für eine derartige koalition bereit. Und eine reihe cdu-mandatare auch, sagen sie, und wollen „wählerinnen und wähler von der afd zurückholen“, keine funktionäre. Reiss di zsamm mit deinen vergleichen, sagt das über-ich. Nein, sage ich. Erst die unstimmigkeit der vergleiche zeigt die problematik der situation. Und in der situation habe ich begonnen, die integrität der person gegen den zeitgeist und mainstream zu verteidigen.
Damit man sich widersetzen kann, darf es erst einmal keine frechheit sein, „ich“ zu sagen (adorno). Zweitens ist es mit der ablehnung oder kritik nicht getan, wenn man praktisch werden darf (in der meinungsfreiheit kann man sich als opposition vor der praxis mit guter kritik noch fernhalten, aber wenns um diese praxis selbst geht, nicht mehr). Darum geht es in der jetzt so ausufernden diskussion um sophie scholl. Das ist sozusagen der schritt vom bewusstsein zum handeln, einem öffentlichen und einem wirksamen, das über einen hinausweist. Aber davor, daneben, dazwischen war man ja auch ein anderer. Von denen gab es in den zwanziger jahren viele, die wir heute erinnern, lesen, hören, sehen, und noch mehr, in deren umgebung sie so waren, dass wir sie heute erinnern. DARUM haben wir dann ihr handeln so besonders gefunden, sie bewundert oder bedauert, und sie einem leben eingeschrieben, das die anderen nicht oder nur am rand geführt haben.
Das hatte ich vor dreißig jahren mit kollegen über tucholsky und ossietzky diskutiert, das wird durch eine erinnerungskultur zerstört, die die ankerplätze dieser in die gegenwart geholten erinnerung nicht bewahren will. Aber neben diesen beiden namen noch ganz viele zu rezitieren, mag eine farge des wissens und der bildung sein, darum geht es nicht. Wichtig ist, angesichts dessen was überall und ständig geschieht, lebendig zu bleiben und sich durchaus für den beobachterposten auch zu kräftigen und nicht gleich in verzweiflung auszubrechen, die ja nur den Capos nützt und ihnen gefällt.
Die konsequenz ist scheinbar paradox. Jederzeit bereit zu sein, aus der deckung in die politische praxis zu steigen, aber in dieser latenten situation nicht in alarm „stimmung“ sich zu versetzen, sondern den alltag, das denken und fühlen, vor allem aber die beobachtung der welt wirklich zu leben. Nur die helden der geschichte waren immer herrscher, heerführer, anstifter und haben atemlos 25 stunden am tag ihrer sache geweiht. Meistens ohne erfolg, darum sind sie ja auch helden.