Manchmal will ich etwas schreiben, dann kommt mir jemand zuvor, und meist ist das besser.
LEST BITTE „IGNORANZ AUS SCHAM“ von Susan Neiman, ZEIT 22, S. 55
Susan Neiman ist Direktorin des Potsdamer Einstein Forums und eine wichtige jüdische Stimme in Deutschland. Aus ihrem in Gänze lesenswerten Artikel nehme ich zwei kurze Passagen heraus:
„Vor allem darf die deutsche Vergangenheit nicht die Israelisch palästinensische Gegenwart überschatten“.
Und: in einem genau beschriebenen Kontext sagt sie „Für linksliberale Juden klingt daher die Unterstellung, dass Netanjahu das jüdische Volk vertritt, ungefähr so, wie es für Deutsche klänge, dass die AfD Deutschland repräsentiere. Wer das übertrieben findet, weiß gewiss nicht, dass Netanjahus Lieblingssohn Jair für die AfD wirbt. Die AfD versucht, alle anderen Parteien an Philosemitismus zu überbieten“.
Für mich ist das seit Langem eine geradezu fundamentale Abneigung gegen die deutsche Variante von Philosemitismus, die im Übrigen mit der Aneignung eines bestimmten kulturellen Sektors, von Klezmer bis zum Stetl, vor 50 Jahren schon begonnen hat. [1]
Über die derzeitige Diskussion im israelisch-palästinensischen Konflikt stimmt sie David Shulman und seinen Verbündeten zu: “Sie fürchten mit Recht, dass eine Politik, die zunehmend auf rechte Parteien baut, langfristig den israelischen Staat selbst gefährdet“. Was ich befürchte, und was mir „nahe geht“.
Natürlich ist es nicht einfach, die Schwierigkeiten im Umgang mit der deutschen Öffentlichkeit tiefgehend zu analysieren, aber mich fasziniert auch der Begriff der „normalen linksliberalen jüdischen Positionen“, die zu vertreten in der deutschen Öffentlichkeit schwierig sei.
Da sind ja zwei Elemente enthalten: ja, die linksliberale Position müsste in unserer und jüngeren Generationen „eigentlich“ normal sein, d.h. die Diskurse zum Thema bestimmen. Normalismus geht über die individuelle Meinungsbildung hinaus. Aber der Philosemitismus der beschriebenen Art hat eine Fassade ganz anderer Normalität, bis hin zur Staatsräson der Beziehung zu Israel, aufgebaut, gegen die zu verstoßen unangenehm und kontrovers wirkt – bei uns, nicht in Israel. Und: die deutsche Öffentlichkeit. Der Hinweis auf die Öffentlichkeit ist auch gewichtig: denn die Schamkultur wirkt auch immunisierend gegen die Analyse der Legitimation von Vergleichen: das ist ein Hauptanliegen von Neimans Artikel. Dessen letzten Absatz zitiere ich nicht, denn er sollte von euch gelesen und diskutiert werden, auch in Bezug auf all das, was uns täglich begegnet. Was mir begegnet.
Ich sage hier nicht, mit welchen Aussagen dieses Artikels ich persönlich nicht übereinstimme oder eine „dritte“ Position vertrete, weil es darauf weniger ankommt als auf die Erkenntnis, „wie viele jüdische Positionen“ (Neiman) es gibt. Das macht uns schon beweglich in einer gefrierenden Welt.
Judentum ist nie fertig (Delphine Horvilleur, die Rabbinerin, erläutert das (Horvilleur 2020)) und es beharrt nicht auf ikonischen Identitäten. Da fällt mir, nicht nur spontan, der Satz meines langjährigen Hauptphilosophen ein: „Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“(Bloch 1963, 11).
Zum Nachlesen:
Vergleiche dazu: Bloch, E. (1963). Tübinger Einleitung in die Philosophie 1. Frankfurt, Suhrkamp.
Daxner, M. (1995). Die Inszenierung des guten Juden. Kulturinszenierungen. S. M.-D. u. K. Neumann-Braun. Frankfurt, Suhrkamp.
Horvilleur, D. (2020). Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Berlin, Hanser.
[1] Daxner, M. (1995). Die Inszenierung des guten Juden. Kulturinszenierungen. S. M.-D. u. K. Neumann-Braun. Frankfurt, Suhrkamp.