Der alte Kurz ist klein geworden

„Vom Staatsfeiertag zu unterscheiden ist der 1965 eingeführte, für das nationale Selbstverständnis Österreichs weit bedeutendere Nationalfeiertag am 26. Oktober, an dem Österreich seiner 1955 in Kraft getretenen „immerwährenden Neutralität“ und indirekt des Abzugs der letzten alliierten Besatzungssoldaten gedenkt. Verwechslungen der beiden Feiertage und zahlreiche weitere Irrtümer zum Staatsfeiertag sind in der Praxis häufig.“ (Es lohnt den Artikel zu lesen https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsfeiertag_(%C3%96sterreich) – weil er ein rationales Österreich darstellt, das es so nie gegeben hat – die beiden Feiertage sind der 1. Mai und eben der 26. Oktober (damals ist der letzte Russe heimgefahren, schade, sagen manche, denen hat es in Österreich besser gefallen als den ständig nörgelnden Einheimischen). Erst Tag der Flagge, dann Tag der Fahne – schon besser, weil, wer Wein trinkt, eine Fahne hat und keine Flagge, und Wein trinken wir doch fast alle.

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Schon allein die Frage, ob, und wenn ja, wie, Österreich eine Nation ist, eine Nation, kommt vielen Studierenden und Journalisten entgegen, der Stoff geht einem nicht aus. Die letzten Wochen und Monate, die so genannte Krise um Kanzler Kurz, der zur Seite tritt, machen diesen Diskurs nicht unwichtig. Seit meiner Schulzeit bis heute, eigentlich, ist die Frage nach dem wirklichen Status dieses Landes keine triviale, die Nation Österreich fällt in die Abhandlung zum Singular (vgl. den vorletzten Blog und Marlene Streeruwitz‘ Ausführungen zu Herrschaft und eben diesem Singular); ich habe mich längst darauf geeinigt, mit mir, dass es Österreich nicht „geben“ muss, um zu existieren: Nicht umsonst sind wesentliche Ergebnisse der Physik in Wien gefunden worden, und die Katze, die es lebendig gibt oder auch nicht mehr ist ja mehr als nur ein Symbol. https://www.welt.de/wissenschaft/article118912805/Wie-Erwin-Schroedingers-Katze-zu-Weltruhm-kam.html

Die Unsterblichkeit der Wurschtelei zwischen Sein und Nichtmehrsein und Schonwiedersein hat die herrlichste Literatur hervorgebracht, die ich nun einmal nicht deutsch- sondern österreichsprachig nenne, weil sie wirklich anders ist. Vor allem mehr als eine Wirklichkeit in ihren Beschreibungen und Erzählungen zulässt, a priori auf jede unterwerfende Eindeutigkeit verzichtet. VORSICHT: das ist nicht nur gut. Das ist bisweilen schlecht, wenn man etwa das Herauswinden der österreichischen dominanten Selbstrechtfertigungen aus ihren Faschismen (lest Streeruwitz), ihren Verdrängungen (Lest Eva Menasse oder Freud), ihrer Neigung, den Falschen das Falsche zu verzeihen und das Richtige zu spät, oft post mortem anzuerkennen. Gut ist die fehlende Eindeutigkeit dort, wo aus einer klaren Ansage unklare und oft überraschend bessere Praxis folgt. Das gilt nicht nur, aber wahrnehmbar stark, in der Kultur, die sich an Spannung zwischen unerträglich und unfassbar gut geradezu überschlägt. Das alles hat seinen Preis.

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Am 30.11.1954 stattete Kaiser Haile Selassie Österreich einen Staatsbesuch ab. Mit Äthiopien hatte Österreich keine kurzfristige Erinnerungskultur zu teilen.

30.11.1954: Haile Selassie I. im Wiener Rathaus

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Staatsbesuch des Kaiser Haile Selassie von Äthiopien

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Kaiser Haile Selassie von Äthiopien trägt sich in das Gästebuch ein

Heute stattete Haile Selassie I. mit seinem Gefolge dem Wiener Rathaus einen Besuch ab. In Anwesenheit der gesamten Stadtregierung empfing Bürgermeister Jonas den Kaiser von Äthiopien.

  • Warum ich das erwähne? Ich glaube mich zu erinnern, dass wir SchülerInnen abkommandiert wurden, den Kaiser am gerade eröffneten neuen Wiener Westbahnhof zu besichtigen, wo er aus München per Bahn ankam – ein bis heute unfassbar gutes, modernes Gebäude, das gut zu den nicht-eindeutigen Schwerpunkten der Nachkriegszeit passt, einschließlich der teilweisen Westorientierung. Für mich war der Bahnhof wichtig, weil ich als Schüler später über den Verschubarealen an der Einfahrt auf der Signalbrücke viele Stunden damit verbrachte, mich in den unter mir fahrenden Zügen anderswohin zu beamen. Dass da ein Kaiser ankam, der den Nachkriegsösterreichern eine Schule schenkte, …wir wurden, glaube ich, mit Fähnchen an den Bahnhof geordert.

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Ach ja, Österreich. Die wirklich guten und die wirklich schlechten AutorInnen, MusikerInnen, bildenden KünstlerInnen reflektieren dauernd Österreich, weil es so unfassbar erscheint. Meine Theorie dazu war die Periode zwischen Napoleon und dem Ersten Weltkrieg als Zeit der strukturellen Andersartigkeit: die Energie der meisten großen Imperien und Nationen ging in die koloniale Unterwerfung riesiger Länder, ganzer Erdteile. Österreich dehnte seine Kolonien nicht überseeisch aus, sondern verschob sich immer weiter nach Osten, bald an den Bahnlinien entlang. Darum hatte man mehr Zeit und Energie sich mit sich selbst zu beschäftigen, das führte nicht nur zur Psychoanalyse, zu großartiger Mathematik und Kernphysik, sondern auch zu einer beständigen Frage, was an diesen Ländern, später an diesem Land, „eigentlich“ „dran“ sei – und die Antworten sind ein Kulturkanon, der sich nachhaltig vom deutschen unterscheidet, ohne deshalb „österreichisch“ zu werden.

Dazu werde ich, aus gebotenem Datum, in zwei Tagen einen Blog schreiben, schaut euch schon einmal den Wiener Zentralfriedhof auf der Karte an, und die herrlichen kleinen Gräberstätten von Wien. Da liegt man gerne…aber so lange wir leben: was ist dieses Österreich?

(Mich beschäftigt das Thema umso mehr, je älter ich werde, und die Rückkehr, die ja kaum eine Heimkehr wäre, sich immer mehr in Richtung Friedhof verschiebt anstatt dass uns jemand eine Wohnung nahe dem Burgtheater zum Nießnutz anböte…)

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