Spalten und Abgründe. Wenn es so weit ist.

Sie streiten nicht. Sie vergleichen ihre Ansichten. Meinungen darf jede(r) haben und sie auch in der Regel sagen: zu sich selbst oder öffentlich oder dazwischen. Meinungen sagen etwas über die Wirklichkeit iher Besitzerin oder ihres Machers aus, aber nichts über die Wahrheit. Oder nur wenig.

Die Menschen streiten über den richtigen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Sie streiten auch um die letzte Flasche Pflanzenöl und billige Spaghetti im Supermarkt, die Hamster. Sie werden zu Pazifisten, wenn es gegen Waffenlieferungen geht und zu Bellizisten, wenn sie dafür sind. Ob sie ihren Energieverbrauch jetzt reduzieren wollen oder sollen, entscheiden sie, wenn es so weit ist.

Weil wir schon im Krieg sind, ist er noch lang nicht da, und wäre er da, wäre er noch lange nicht hier. Im letzteren Fall hätten die Recht, die solange von ihren gehamsterten Spaghetti essen könnten, bis ihr Keller von einer Rakete getroffen würde. Wäre er offenkundig schon da, also Deutschland offenkundige Kriegspartei, dann müsste man sich orientieren, d.h. weitgehend den Anweisungen von oben folgen oder sich gegebenenfalls verweigern, auflehnen. (Im Kaiserreich brauchte man zum Protest eine Bahnsteigkarte…sagt man heute ironisch. Was braucht man heute?).

Der Pöbel streitet nicht. Der Pöbel ist dagegen. Ich rede aber jetzt von den Menschen, die aus ihrem Meinungsanzug herauswollen, die wollen, dass etwas geschieht, an dem sie mithandeln können.

*

Deutschland ist, wie viele andere Länder gespalten. Alte Grenzlinien Ost-West, christlich-muslimisch oder reich und arm sind nie tragfähig gewesen und eröffnen heute eher den Blick auf die wirklichen Spaltungen, Brüche, Verwerfungen. Das Überbrücken der Meinungsgräben zwischen Waffenlieferungen und ihren Gegnern ist kein Kompromiss, auch keine Realpolitik. Meinungen und der gesunde Menschenverstand reichen nicht aus, um denken, was richtig ist. es geht in die Beschränktheit der persönlichen Vorstellungen, die auf relativ viel Wissen, auf der Fähigkeit Zukunft zu denken, auf Konstruktionen dessen beruhen, was welche politische Handlung für mich, für meine Umgebung, für meinen Lebens- und Arbeitskontext, vor allem für meine Kinder und Enkel bedeutet. Und für jeden Menschen gelten diese Bedeutungskreise. Ich halte es für wichtig und richtig, diese Bedeutungen in Konstruktionen einzupacken, die konditional sind: wenn…dann…und alternative Verhaltensvorbereitungen, sozusagen ein Portefeuille zu haben. Natürlich – hier stimmt der Begriff nun wirklich – natürlich nicht nur auf mich bezogen, aber innerhalb dieser Kreise nicht opportunistisch sich darauf vorbereiten, hinzunehmen was kommt, sondern Wenn…Dann… hat seine Ethik, seine Vermittelbarkeit und erst in dritter Reihe die Frage, ob das, was man dann tut, auch gelingt.

Sich so IN einem Krieg vorbereiten ist noch einfacher als sich AUF einen Krieg vorbereiten.

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Ich schreibe das, weil mich die bloße Meinungsfreizügigkeit irritiert bzw. ärgert. Zum einen ist es denen, die in diesem Krieg schon gefallen sind und weiterhin sterben, verwundet werden, ausgebombt und gefoltert werden, unmittelbar nicht wichtig, was wir darüber denken, sondern was wir tun. Und wir tun hoffentlich nicht nur, wovon wir individuell überzeugt sind, dass wir darüber entscheiden – neoliberal, pöbelhaft, dogmatisch,…. – sondern dass wir es aushandeln, vermitteln, also dass wir Einfluss gewinnen wollen, also dass in unserem Namen gehandelt werden kann und so – hoffentlich – Menschen gerettet werden, und dass so etwas wie Frieden verhandelt werden kann. Frieden fordern grenzt fast an Amnesie. Frieden schaffen ist schwieriger und muss wohl während der Kämpfe beginnen. (Wenn es keine eindeutige Lösung gibt, wie bei den Gasimporten, dann kann man ja sehen, wie wenig weit die individuellen Meinungen tragen und wie brüchig bisherige Formelkompromisse sind). Die schreckliche Wahrheit moralisch und rational gleichermaßen richtigen Handelns ist im Krieg, dass es unmittelbar keinen Menschen rettet. Es gehört, jedenfalls für mich, viel dazu, DAS auszuhalten. Kein Stratege zu sein, sondern das Leiden anderer wahrzunehmen. Eingreifen geht für uns nur mittelbar. Umso wichtiger ist es HIER die Zivilisation immer einzuüben und zu erneuern, die Putin und seine Truppen zielstrebig zerstören, DORT erst einmal.

Wem das zu abstrakt ist. Spenden, helfen, Unterkunft besorgen kann jede(r) und immer, und den Pöbel abwehren auch.

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Nachtrag, ein paar Tage später: wenn Autokraten wie Erdögan oder Orban ihre dreckigen Spiele in diesem Konflikt spielen, darf und kann es nicht überraschen. Das Ertragen der zweiten Reihe von Tyrannen, um geschlossen gegen die erste Reihe vorzugehen, macht uns nicht sauberer oder anständiger, es beschmutzt. Habeck muss am Klimaschutz Abstriche machen, andere Autokratien erwerben Strafnachlässe, und mit der Logik der Beobachtenden ist es nicht getan. Aber wäre selbst das wirkliche Ende näher als viele glauben wollen, so sind wir nicht am Ende, das ist nun mal so in der Vergänglichkeit. Ein Beispiel: ich war und bin immer noch ein Gegner der NATO. Aber ich war und bin immer noch ein Befürworter einer europäischen Streitmacht der EU. Das wäre eine realistische Drohung gegen die Diktatoren. Ohne die Türkei könnte man vielleicht ein demokratisches Verteidigungsbündnis neben den USA, nicht gleich gegen sie, etablieren. Trotzdem müssen wir jetzt zu Finnland und Schweden halten, siehe oben.

Ein Gedanke zu “Spalten und Abgründe. Wenn es so weit ist.

  1. Moin Dax,
    diesen Deinen Text habe ich erst nach meiner Mail an dich gelesen und ich fühle Verwandtschaft. Trotzdem möchte ich hinzufügen, ohne die Unterstützung ukrainische Flüchtenden schmälern zu wollen, dass ich die entstandene Zweiklassigkeit von Geflüchtenen — hie Ukraine, da Syrien, Irak, Jemen, Mali und sonst wo weit und genauso schrecklich — unerträglich finde!
    Zum anderen würde mich deine Wahrnehmung der „Freunde“ in der Ampel, d.h. für mich vor allem der Grünen Amtsträger*innen interessieren…
    Deine internationalen z.B. auf Afghanistan und Israel bezogenen
    Bezüge lese ich mit Interesse und verstehe manches durch Beschäftigung besser, aber es belastet mich angesichts der Handlungsnotwendigkeiten hier Vorort eher (zusätzlich) auf mir.

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