100 Jahre Faschismus, und seine Zukunft

Mussolini in aller Munde. Der Wahlsieg der Faschistin Meloni belebt das Geschichtsbewusstsein, dessen Verlust unter anderem zum Fortbestehen faschistischer Programme und Einverständnisse führt. Dazu hat klug Durs Grünbein in der SZ (28.10.22) geschrieben. Viele, auch Sekundärschreiber, zeigen zu diesem Wahlergebnis zwei Hauptseiten: den Unterschied der neuen Faschisten zum Nationalsozialismus und die Frage, wie man mit diesem Pack, das ja parlamentarisch legitimiert ist, umgehen soll. Fast allen ist eine seltsame Contenance eigen, als hätte MAN ohnedies mit einem Erstarken des Faschismus und einer rechten Hegemonie gerechnet, ohne Vorschau auf das Wie?

Man kann vieles erklären, das man nie richtig verstehen wird, zB. den Sie der Faschisten im ehemals sozialdemokratischen Schweden oder die Demokratiefeindlichkeit des ehemaligen DDR-Sektors der Bundesrepublik. (Ja, ich rechne das auch für eine Vorstufe faschistoider Grundhaltungen). Es gibt überraschend viele stimmige oder erwägenswerte Teilerklärungen für diesen Gesamttrend der so genannten westlichen Hemisphäre und seine Parallelen im globalen Süden.

Ich stecke für einige vereinfacht ausgedrückte Grund-Sätze Kritik ein, selten aber die Möglichkeit, sich in der Erwiderung ebenso kritisch auszutauschen; dazu gehören u.a.

  • die bewusste und nachdrücklich Analogie Hitler und Putin, und weitere strukturelle Hierarchien mit Xi und den anderen Diktatoren
  • die Zusammenhänge und Differenzen von Nationalsozialismus und den Faschismen
  • die Vermutung, dass es nicht die jeweilige soziale Lage ist, die die faschistoiden Trends befördert, sondern eher die Situation in Kultur und Politik (das ist mir wichtig, weil sich die Kapitalismuskritik auch verändert hat und verändern muss, zB. Wachstum vs. Klimapolitik).

Hier geht es nicht um mehr oder weniger nachweisbare Expertise versus Laienverstand, sondern um das Bewusstsein von praktischer Theorie. Praktisch, weil ich, weil wir uns ja verhalten müssen zu diesen Phänomenen des sich faschistoid verhärtenden „Westens“ und der relativen Hilflosigkeit gegenüber einem „Osten“, der noch weniger fassbar erscheint als früher (die Gabe auch von WissenschaftlerInnen und Intellektuellen, bei warnenden oder alarmierenden Texten wegzuschauen, ist einen eigenen Blog wert. Die Kassandrisierung der Warnungen, solange die Temperatur bei 20° liegt, habe ich immer als ärgerlich empfunden, und oft wurde ich selbst eben deshalb aus dem Diskurs genommen, was mich bis heute nicht beleidigt, aber ärgert).

Tenor: man wird sich irgendwie mit den Faschisten arrangieren („müssen“, sie sind ja in der EU, in der NATO, im Weltkirchenrat usw.). So gelingt es Kaczynski und Orban, so gelingt es den faschistischen Parteien, sich im Gewebe demokratischer Grundregeln festzusetzen, manchmal mit mehr, bisher meist mit weniger Erfolg.

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Die Medien wissen oft genau, was „die Politik“ mit diesen Phänomenen anfangen soll. Ich kann das bedenken, dazu zustimmen oder kritisieren. Aber die Frage ist, wie gehe ich, wie gehen wir damit um. Nicht mehr in diese protofaschistischen Länder auf Urlaub fahren? Familienstreit bei vielen vorprogrammiert. Bestimmte Produkte nicht mehr kaufen? Wenn wir wüssten, was von „dort“ wo drin ist. Cancel Culture zuspitzen, ausladen. Die Diskussion um russische Kunst und Kultur ist gespenstisch. Lest Sorokin. Natürlich ist die Frage falsch gestellt. Wie gehen wir damit um bedeutet eine Antwort nach der politischen (Neu)verortung von jeder/m von uns in der Zivilgesellschaft und gegenüber dem Staat. Wer nur sich antifaschistisch fühlt, ist kein Antifaschist, (Paraphrase Erich Fried), das antifaschistische Verhalten darf ja nicht taktisch angemessen sein, sondern sollte etwas mit unserer Wahrnehmung von Gesellschaft und Lebenswelt zu tun haben.

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Ein auf den ersten Blick seltsamer Ratschlag. Ich komme gerade aus Südtirol zurück, war da häufig und jetzt, bis zur Wahl am letzten Sonntag, wieder einige Wochen. Ich habe die Geschichte des Verhaltens der Südtiroler seit Tolomei 1906 über die Pariser Verträge 1919-23, über die Zeit Mussolinis, Hitlers, nochmals Mussolinis, dann die Nachkriegszeit (De Gasperi und Gruber), Attentate und Bomben, Kreisky, UN und Moro, nachgelesen. Auch was deutsch-freundlich, was österreichisch, was verlogen und was aufrichtig war…Nein, es geht hier nur wenig um Analogie bis heut, bis auf die Folgen der Wahl Melonis und die Schwächung der SVP. Es geht darum, wie die Menschen, Familien und Gruppen mit den verschiedenen Stadien der Faschismen, der Nazis, des Widerstands umgegangen sind.

Das Problem der „politischen“ Lebensführung hat uns 1968 +/- sehr bewegt und zu viel Unsinn in der Praxis geführt. Aber die Grundfrage war nicht falsch. Damals ging es auch stark um die Geschichte der Eltern und Großeltern. Scheinbar hat sich die friedlich umhegte spät- und Postmoderne davon emanzipiert, solange MAN ordentlich mit einander umgeht. SOLANGE, fein, aber WIE LANGE? ist das, war es, ist es? Hier geht die Antwort in das Detail, das sich in der persönlichen Diskursumgebung tatsächlich auswirkt, mit den Kindern, Freunden, Gruppen und Partnern….Kurz: Meinungen sollten überwunden werden, wenn wir nicht tatenlos uns überwältigen lassen wollen vom Dialog der Guten (Demokraten) mit den Bösen (Faschisten).

Man kann diese Frage kritisieren; u.a. weil ich ja hier NICHT darauf verweise, was für kluge Ratgeber und Anweisungen zur nicht protofaschistischen Lebensführung es gibt bzw. welche davon auf dem Markt sind. Aber das ist ja der Zweck dieser Überlegungen gewesen. Im Aufsuchen des Widerstands kann man auch lernen, sich zu entscheiden.

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