Dies ist die leicht überarbeitete Fassung meines Vortrags zum Dies academicus in Marburg. Es gab viele Parallelveranstaltungen und eine sehr vielfältige Palette an Aktivitäten, die dem Flüchtlingsthema gewidmet war.
Michael Daxner, SFB 700 Freie Universität Berlin
Mitglied des Hochschulrates der Philipps Universität Marburg
Dies academicus 15.6.2016
Asyl, Migration und der Ausnahmezustand
Wissenschaft hat eine große Verantwortung in gesellschaftlichen Zusammenhängen, die politische Praxis und ihre Konsequenzen produzieren und oft provozieren soll. Meine Thesen fasse ich wie folgt zusammen:
Es ist wichtig, Themen und Probleme auseinanderzuhalten; und, die erwünschte Normalität gegenüber dem perpetuierten Ausnahmezustand vorzuziehen.
Das Erste erscheint einfach. Aber es ist schwierig z.B. klar zu machen, dass Flüchtlinge keineswegs das Problem sind, sondern ein Thema, das vom Problem abgeleitet wird oder zu ihm führen kann. Das Problem ist die deutsche Außenpolitik, die Legitimation dieser Politik vor der Bevölkerung, aber auch vor den Lobbys, die unsere Regierung teilweise entmachtet haben (Waffen, Wirtschaft, Bündnisse etc.). Das Problem ist auch die EU Integration, deren Schwächen nicht mit dem nachholenden Nationalismus spättotalitärer Regierungsführung zugeklebt werden können. Flüchtlinge sollten schon deshalb kein Problem sein, weil die Probleme, die sie tatsächlich schaffen, unterhalb der Grenze von Herausforderung für unser Gesellschaftssystem liegen. Mit andern Worten: Dort wo diese Probleme tatsächlich gelöst würden sollte das unsere Gesellschaft nicht prinzipiell verändern. Flüchtlinge würden dann zur Dynamik gesellschaftlichen Strukturwandels werden wie vie(s) andere auch.
Aber zum Zweiten: für die Politik erscheint es einfacher, sich Legitimation durch die Ausrufung dauernder Krisen und dauernden Ausnahmezustands zu verschaffen. Das wiederum ist in der Außenpolitik manifest, in anderen Politikbereichen latent, oft nur als Stimmung wahrnehmbar: wenn behauptet wird, dass es Zurück zur Normalität ja wohl nicht gäbe….als ob das jemand wollte. Normalität ist ja nicht nur der durch die Quantifizierung der Welt entstehende Normalismus (wir danken Jürgen Link zu wenig für diese Überlegungen), sondern Normalität sollte ja vor allem die unablässige nachhaltige Dynamik der Konfliktbewältigung sein, also nie eine Wiederherstellung von Vergangenheit und vermuteter Stabilität. (Man braucht auch Konflikttheorie, um über Frieden zu sprechen).
Das bedeutet für uns Sozialwissenschaftler, Konflikte nicht als Störung einer konstruierten, auch funktionalen Normalität zu verstehen, wie das Parsons nahelegt; vielmehr sind sie konstitutiv für die andauernd zu entwickelnde gesellschaftliche Stabilität durch ihre Regulierung. Ich folge hier einer Theorielinie von Simmel über Coser zu Elwert und Dahrendorf. Das ist in der gegenwärtigen Situation ein wichtiger Hinweis darauf, dass Frieden nur auf Konfliktregulierung, nicht als Alternative zur bestehenden unfriedlichen Normalität beruhen kann, aus dieser Regulierung immer wieder entsteht und gesichert werden muss.
Aber genau darin liegt auch die politische Chance des Umkehrens aus der Sackgasse der trostlosen Verzweiflung an den Sachzwängen. Die Ideologisierung der Probleme, die darin besteht, aus Ihnen eine unübersehbare und bedrohliche Flut von Themen zu machen, kann man aufheben. Die Aufgabe der Wissenschaft, also unsere Aufgabe ist es, gegen den Ausnahmezustand Argumente und Praktiken zu entwerfen, zu vertreten, in diskursive Strategien zu wandeln und einzugestehen, dass wir immer auch Teil des kritisierten Problems sind. Wir Wissenschaftler*innen, aber auch wir „Deutsche“, also Bürger*innen dieses Staates und Mitglieder dieser Gesellschaft, wir Citoyens, möchte man Volksgemeinschaftsideologen zurufen.
Ich werde diese Sicht aus unserer Tätigkeit heraus und nicht aus dem Blick auf sie, auf die Wissenschaft entwickeln, denn von welchem Standpunkt aus als einem des bloßen Mitleids oder einem normativen Korsett von erwarteter Korrektheit könnte diese Außensicht bestehen?
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Seit einigen Monaten sind alle Medien, alle Kommentare, alle Erklärungen anscheinend klüger geworden. Das Gemurmel der Diskurse hat einige Hauptströme gefunden, die werden immer und immer variiert, bis man den Überblick verliert und doch ungefähr weiß, was und wie der Mainstream denkt. Man, das heißt auch wir, hat seinen Mainstream. Es gibt mehrere solcher Ströme, die sich bisweilen, aber selten treffen, und die Betten für die großen Diskurse immer mehr vertiefen und die Ufer befestigen. Auf meinem Tisch häufen sich die Stapel mit den Belegen, im Computer sammeln sich die Quellen. Im wahrsten Sinn der frühen Diskurstheorie: wen kümmerts wer spricht? Nur manchmal, wenn unerwartet jemand, von dem wir anderes erwarten, aus der Reihe tanzt, werden wir hellhörig. Sloterdijk, Safranski, Winkler. Man bringt sie schnell wieder in Beziehung zu den großen Strömen, in denen das MAN erlaubt, sich die Konsequenzen des ICH DENKE nicht zu stellen.
Sie haben, meine Damen und Herrn, liebe studentischen und akademischen Freund*innen und Kolleg*innen, diese Einleitung nicht erwartet? Ich habe mich ziemlich gequält, denn man muss etwas zu den Flüchtlingen und zur Politik sagen, ich muss es, andere müssen es, aber was, das nicht in die feindifferenzierten Kenntnisse jedes Auditoriums tropft und dann ebenso differenziert als Deja vu, Deja entendu abgelegt wird. Vor mir also liegen die hauptsächlichen Aussagen:
- Wir müssen die Fluchtursachen dort bekämpfen, wo sie entstehen. Dann werden viele Menschen nicht flüchten wollen, sondern in ihrer Heimat leben bleiben.
- Wenn die Flüchtlinge schon hier sind, dann angemessen verteilt und keinesfalls privilegiert. (Siegmar Gabriel und Claudia Pechstein sind die Exponenten solcher Rede). Wir interpretieren das Asylrecht in den Grenzen des von uns für sinnvoll und möglich erachteten.
- Wir müssen Flüchtlinge und andere Migrant*innen voneinander systematisch trennen, ein Einwanderungsgesetz könnte dann die politische Ökonomie des ertragreichen Zuzugs von der Sozialabgabe aus humanitären Gründen trennen.
- Wenn die Flüchtlinge, die Geduldeten, die subsidiär Geschützten schon da sind, sollen sich nach unseren Werten und Ordnungen orientieren, also integrieren. Ich halte die Integrationspriorität für übertrieben oder falsch. Flüchtlinge retten ihr leben und erwarten Hilfe zum Leben, nachdem sie überlebt haben. Ob sie daraus den Wunsch nach Integration entwickeln, liegt primär an uns. Fragen nach Assimilation, Akkommodation, Multikultur, Diaspora liegen alle näher als der Herrschaftsanspruch, der sich hinter Integration auch verbirgt.
Es gibt dazu Varianten, aber im Großen und Ganzen sind es diese vier Argumentationsstränge, die den Diskurs beherrschen. Dann gibt es noch einen zweiten Sektor, der ursächlich nicht viel mit den Asylsuchenden zu tun hat:
- Wir müssen die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen; hierzu knapp und deutlich: nein, das müssen wir im Kollektiv nicht, auch nicht jede Person muss die Ängste von anderen ernst und wichtig nehmen. Es kommt auf den Kontext an, in dem diese geäußert werden; für die Sorgen spielt dazu noch die Begründetheit eine Rolle, zumal für die Politik.
- Wir müssen die Besorgten von den Scharfmachern und politischen Führern trennen, die einen wieder in die Anerkennungsmuster der Politik holen, die andern kritisieren, ausgrenzen, beschweigen oder beschimpfen. Dahinter stecken zwei gefährliche Argumente: zum einen enthebt man die Anhänger*innen der Hassprediger und Idelogen der Haftung für ihre Gefolgschaft, ohne die es keine Führer gäbe. Und zum anderen ist es schwierig, statt abzulehnen und anzugreifen sich auf Argumente einzulassen, wo es keine tragfähigen, kritikoffenen Begriffe gibt, wie etwa in den Parteiprogrammen von AfD oder Pegida (ich verweise da auf Salzborns Ansprache zum Auftakt des Dies).
Die Ausdifferenzierung dieser insgesamt sechs Muster geht weit in die Geschichte, die vergleichenden Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, in die Ethik – oder schlicht in die intensive Beunruhigung durch die Versicherheitlichung unseres Lebens hinein. (Der letzte Punkt, die Auseinandersetzung um Freiheit und Sicherheit, unter dem Aspekt der Versicherheitlichung, ist ein besonderes Thema, das ja hier in Marburg besonders erforscht wird. Ich gehe nur so weit darauf ein, als diese Auseinandersetzung mit Flüchtlingen rein gar nichts zu tun hat, aber die Frage der „Gefährder“ unter den Flüchtlingen jedem Bezug zu Terrorismus, Religions- und Rassen-Ressentiment Brücken baut).
Soll keiner sagen, dass man sich daran nicht bilden kann, aber dennoch bleiben die Themen, v.a. die Flüchtlinge, von den Problemen getrennt.
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Im Methodenseminar der Sozialwissenschaften dienen die Fremden als unabhängige Variable um die politische Misere rapid einsetzenden Zerfalls demokratischer und republikanischer Werte zu erklären. Ich nenne diesen Zerfall die Ermüdung an der Demokratie, beide sind müde und erschöpft, die Demokratie und wir. Was ist denn eigentlich los, dass wir nicht mehr im öffentlichen Raum denken wollen und können und eine Situation zur Krise erklären, und deren Dauer in den permanenten Ausnahmezustand überführen, der wiederum Lösungen von Problemen zulässt, die wir laut nicht zu denken gewagt hätten…?
Ich will versuchen, die Antworten knapp und zugespitzt zu geben, anstatt sie ausufern zu lassen.
Dass man flieht und auswandert, ist normal. Sesshaftigkeit und dauerhafte Lokalität sind Ausnahmeerscheinungen sowohl der Geschichte als auch soziogeographischen Gegebenheiten. Normal ist es, bessere Weidegründe gegen die schlechten einzutauschen, seine Kenntnisse dort anzubieten, wo ein Markt für sie vorhanden ist, den Ort zu fliehen, an dem man getötet, gefoltert, vergewaltigt und in seinen Zukunftsmöglichkeiten beschränkt wird, normal ist, von Orten behinderter Freiheit in Räume von Entfaltung und freier Entscheidung zu fliehen. Warum das nie alle mitmachen, die von Dürre und Bomben und Terror bedroht sind, ist einfach zu erklären: sie werden entweder durch Gewalt daran gehindert; oder etwas stärkeres, ihre sozialen und kulturellen Bindungen, ihr Habitus, ihre lebensweltlichen Zwänge hindern sie. Wenn das erste stärker sich erweist, dann flüchten Menschen; wenn das zweite teilweise seine Bindungskraft verliert, wandern Menschen aus, einmal als Nomaden, ein anderes Mal diskriminiert als Wirtschaftsflüchtlinge, ein drittes Mal als politisch Verfolgte oder hinausgeworfene Minderheit. Dass migriert wird, mit oder ohne Asylkonvention, ist normal, war immer normal. Unnormal sind bestimmte Aufnahmepolitiken der Zielorte, hier ist die Varianz breit. Die Sorgen werden in die Gefährdung der eigenen lebensweltlichen Ordnung projiziert, die durch die Fremden bedroht wird. Der große Erklärer der Migration, Villem Flusser sagt: „Die Fremden sind das Fenster, durch das wir uns sehen“. Wir versuchen immer mehr über die Fremden zu erfahren, anstatt etwas über uns selbst wissen zu wollen, was notwendigerweise zu Kritik und Unsicherheit führt. Spontane Frage an das Publikum: was würde in Deutschland mit der Aufnahme von drei Millionen Asylsuchenden bis 2017 anders werden, ich meine, fundamental anders? Die logistischen Probleme sind gering verglichen mit der Finanzkrise, der Arbeitsmarkt würde profitieren und die kulturellen Konflikte wären nicht sehr viel anders als früher Migrationskonflikte, nur so viel anders, dass die Pädagogen und Sozialwerker sich akkommodieren müssten, experimentieren, verändern. Das sagt niemand, weil man dazu etwas über sich selbst sagen müsste. Und das ist schwierig und unangenehm, wenn man wenig über sich weiß.
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Unser eigener Anteil, also der der Deutschen und politisch der Deutschlands, ist nicht aus der Weltgeschichte herauszutrennen, und jede Sonderwegsdeutung (Winkler/Sabrow) macht entweder Entschuldigungen oder Selbstbeschuldigungen. Aber Deutschland war nicht an allem gleich beteiligt, und deshalb ist Sorgfalt nötig. Nehmen wir Syrer, Iraker, Kurden…man muss nicht weiter als zum Sykes-Picot Abkommen zurückgehen, aber soweit schon, um die schon damals vorhandene globale Einbindung von Konflikten, also Fluchtursachen zu verstehen. Und unser Anteil an den Folgen der Zerlegung des Osmanischen Reichs? Und unser deutscher Anteil an Amin Husseini, dem Himmlergast und Mufti von Jerusalem und Onkel Arafats am Unabhängigkeitskrieg von 1947/8 mit den bekannten Folgen? Und unsere Scheckbuchdiplomatie? Und unser Friedensanteil an vielfachen Entwicklungsprojekten, die nicht oder sehr wohl mit Rüstung und Hegemonie verbunden waren? Eine provozierende These dazu wäre, dass Weltgeschichte in humanitärer Absicht gerade nicht dem Imperativ von Herrschaft und Unterwerfung der modernen Staatslehre entnommen werden darf, um sich selbst in ihr zu finden und sich verständlich zu sein. Anders kann man die hysterischen Ängste und Sorgen des sogenannten selbst-ernannten Volks nicht dekonstruieren und verstehen.
Ein Beispiel: Afghanistan hat gerade begonnen, eine Nachkriegszeit mit der Entdeckung von Zukunft zu beginnen, da erlässt die von uns heftigst unterstützte Regierung Karzai den Erlass, die Geschichte im Schulunterricht 1945 enden zu lassen. Denken Sie sich nur die Folgen für die Flüchtlinge, mehr als 20% der Asylsuchenden, die uns schon besser kennen als ihre eigene Gesellschaft. Und jetzt drehen Sie den Spieß um, versuchen nicht etwas über Afghanistan zu wissen, bevor Sie etwas über den deutschen Anteil und die Wahrnehmung dieses Anteils an den Ursachen von Flucht und Verzweiflung wissen. Ich argumentiere hier nicht weiter, sondern springe zur Conclusio: Wissen ist die Voraussetzung von Empathie. Da ist auch die Universität gefordert, sind die Wissenschaften in der Pflicht, und die Kommunikation von Expertensystemen und der öffentlichen Laienumgebung ist wichtiger denn je.
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Verbinden wir dies mit der ersten Aussage, dass wir die Fremden brauchen um uns zu sehen, dann verstehen wir, was de Maiziere, der Innenminister mit Migrationshintergrund, und Kurz, der österreichische Außenminister, meinten, wenn sie sagten, wir bräuchten diese Bilder von toten und gestrandeten Flüchtlingen. (In Parenthese: wie lange hält der Migrationshintergrund de Maizieres in seiner Familie an? Hätte man die Hugenotten gleich zurückgeschickt, was wäre anders an unserer Geschichte gewesen?). Nun aber zu den Bildern: Wir brauchen sie, um aus Mitleid und Moral zu handeln und an unsere Grenzen zu stoßen, eher früher als später, und um nicht den Kontext herzustellen, der Empathie erlaubt, als Voraussetzung humanitärer Politik. So ist das fast in ganz Europa, nur besonders ärgerlich in den reichen Ländern des Westens. Empathie ohne Wissen geht nicht, ohne dieses Wissen kann man sich nicht in einen anderen Menschen oder ein Kollektiv versetzen. Aber unsere Stimmungsgesellschaft voller Ängste (Bude) und unser Ersatz von Politik durch Moral und Eigenbedarfs-Ethik muss diesem Wissen ausweichen, ansonsten würden wir – Österreich und Ungarn hin, Polen und die Slowakei her, einfach drei Millionen Asylsuchende aufnehmen. Peter Weiss schrieb einmal sinngemäß, er schriebe als wäre er unter Folter, auch wenn er wüsste, dass er nicht unter der Folter sei. Dazu muss einer wissen, was Folter ist, und was nicht in der eigenen Erfahrung ist, kann aus der Erfahrung anderer gelernt werden, ist jedenfalls empirisch. Hier setzt Wissenschaft wieder ein.
Dummheit und die Arroganz der eigenen Lebensumstände begünstigen die Herrschaft über den Ausnahmezustand. Wenn ein deutscher, nein, ein bayrischer Politiker, triumphierend sagt, die Willkommenskultur sei zu Ende (SZ 12.5.16), dann nützt es nicht, ihn in die Ecke der AfD oder Pegida einzureihen, sondern seine Umerziehung würde zur Aufgabe der politischen Bildung. Noch ein kleiner Rekurs zum Beginn dieses Vortrags: es ist einerseits erfreulich, wie vielfältig, sensibel und auch informativ die Medien in den letzten Monaten geworden sind. Andererseits ist es erschreckend, mit wieviel Aufwand geklärt wird, ob die unmenschlichen Ideologien nun einfach rechts, faschistisch, populistisch oder nazistisch sind, während Ursache und Anlass, Flüchtlinge und Fluchtursachen, eher auf dem Theater und im Feuilleton in den Diskurs eingreifen. Aber die Schaffung von Empathie durch Wissenschaft ist noch defizitär.
Ich möchte vor einer Abkürzung warnen: die Rückführung aller Flüchtlingsprobleme auf den globalen Kapitalismus ist so abstrakt wie praktisch folgenlos. Es hängt eben nicht alles mit allem zusammen, es gibt viele Kontingenzen und vor allem die Ambiguität, die man etwa am Beispiel des Vertrags mit der Türkei und den Menschenrechten in diesem Land aufzeigen kann.
Hier einen Exkurs einzubringen, erscheint mir notwendig, auch wenn er den Rahmen des Vortrags sprengte. Wie man mit Diktatoren umgeht, ist mehr als eine Regierungskunst. Es ist ein sensibler Bereich politischer Praktiken, den man sehr wohl vermitteln und handhaben kann, aber nur, wenn die Subtexte dekonstruiert und offengelegt sind. Aus eigener Erfahrung, nicht ganz so weit oben in der Hierarchie, weiß ich ganz gut, wie schwierig solche Praktiken sind: das Gegenüber jenseits der Vorstellung, es zu mögen oder zu verabscheuen, als Sprecher einer anderen Praxis zu begreifen, die man beiseiteschieben muss, um die eigene durchzusetzen. Was sagt man einem, der nach dem Satz des Tiberius handelt: oderint, dum metuant? Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten. Wir wissen aus unserer Alltagspraxis, dass man nicht jedes Thema mit jedem Menschen unter den gleichen Bedingungen bespricht. Im politischen Raum gilt das genauso, und um Ambiguitäten auszuhalten oder gar zu nutzen, sollte man eben diese Bedingungen wissen.
Oder noch deutlicher: Ambiguitäten auszuhalten, ist ein Befund demokratischer Selbstsicherheit. Aber sie aufzulösen, verlangt Politik, und die bedarf hier wirklich der Wissenschaft. Die Entscheidung zur Flucht ist die Subjektivierung von Tatbeständen, die uns oft aus dem Blick geraten, wenn wir nur in der konstruierten Modellwelt der Globalisierung verharren. Von hier zur wissenschaftlichen Aufgabe ist ein wichtiger Schritt:
Die Fluchttatsachen sind ein Anlass für viele Regierende, aber auch für breite Schichten der Bevölkerung, den dauernden Ausnahmezustand zu erklären, die Krise als Normalzustand zur Rechtfertigung außergewöhnlicher Umstände zu machen. Dieser Zustand nationaler Akzeptanz ausgehöhlter Grundrechte und eingeschränkter Freiheiten dient weder der Sicherheit – die hat mit Flüchtlingen fast nichts zu tun, – sondern eine Verschiebung im Regime zugunsten von undurchschaubarer Exekutive im Namen der Sicherheit. Es war doch jedem klar, dass mit hunderttausend Flüchtlingen auch Schläfer, gewaltbereite Terroristen, Salafisten und andere Kommen: dennoch wurde das Ressentiment auf die Flüchtlinge gelenkt. Wie denn? Müssen alle Schutzlosen auch noch gute Menschen sein, darf nur dem Guten geholfen werden, wo für die andern ohnedies die Strafjustiz gilt?[1] Wie können wir von Flüchtlingen unter Integrationszwang Unterwerfung unter eine Verfassung verlangen, deren Fundamente für uns selbst nicht sicher sind? (Der Hinweis auf Böckenförde aus dem Auditorium ist sehr hilfreich in diesem Kontext, weil er uns auf die Konfliktdynamik zurück verweist).
Jetzt sind wir gefragt: jede einigermaßen seriöse – das ist natürlich wichtig: – jede seriöse Analyse der Fluchtursachen kann gegen den Ausnahmezustand ins Treffen geführt werden: die Fluchtursachen sind Teil unserer Politik, nicht allein, aber vielfach. Die Politik gegenüber den ankommenden Flüchtlingen besteht aus mehr oder weniger ausgewogenen Maßnahmen zwischen Strafen, Disziplinieren, Beschützen und Fürsorge, meist mit dem unsinnigen Anspruch, vordringlich zu integrieren. Aber die Flüchtlinge, die zu hunderten auf der Flucht sterben, ertrinken, getötet werden oder zurück in türkische und andere Gefängnisse gedrängt werden oder gar in ihr ungeliebtes Land abgeschoben werden, diese sind Opfer der von uns mitverantworteten Fluchtursachen und des Ausnahmezustands, der es uns erlaubt, die Überlebenden zu disziplinieren. Diese Zusammenhänge übersteigen die Kapazität des so genannten gesunden Menschenverstandes, sie überfordern den Abkürzer zur Empathie, sie können nur über Wissen und also Wissenschaft erfasst und bearbeitet werden.
Wir müssen nun keine Asyl- oder Migrationswissenschaften als Nische suchen, sondern die globale Innenpolitik als kritisches Instrument gegen den Ausnahmezustand verstehen. Das ist ein anspruchsvolles Programm, das uns auch viel Umgestaltung abverlangt und unsere disziplinäre Selbstsicherheit erschüttern sollte. Es geht im Grunde darum, dass Flüchtlinge, Asyl, Öffentlicher Raum und Multikultur , neben anderem Themen von Politik auch in unserem Curriculum sein sollen, Themen, aber nicht Probleme, an deren Lösung man uns mehr oder weniger willkürlich beteiligt. Unser Problem ist es, kritische Gesellschaftstheorie in all ihren Ausprägungen zur Befestigung und Nachhaltigkeit jener normativ gestützten Gesellschaftsstrukturen zu verwenden, die sich gegen den Ausnahmezustand verwahren; die nicht andauernd Freiheiten gegen eine trügerische Sicherheit eintauschen, die Realpolitik nicht an Stelle von Realismus setzen, die die Stimmungen, Ängste und Sorgen der Bevölkerung nicht mit den Überlebensproblemen von Menschen und den Ursachen ihrer Flucht und Schutzsuche verwechseln. Mit Recht fragen Sie, wie machen wir das? Es gibt darauf viele Antworten, aber einige müssen aus der Wissenschaft vor Ort kommen. Die Aufklärung von besonders betroffenen Berufsgruppen, die Integration von Studierenden in praktischen Projekten und Feldarbeit (und nicht nur in Praxissimulation), die Beratung von Behörden und Ämtern (damit habe ich sehr gute Erfahrung germacht), auch von lokalen Politikern, die Zusammenarbeit mit der Diaspora, wenn es eine gibt, und natürlich mit den Flüchtlingen, die jetzt schon kommunikationsfähig in der Wissenschaft sind.
Das bedeutet auch Widerstand gegen das vertauschen von Problem und Thema in der Politik. An einem Tag wie heute kann dies zu einem Anstoß werden, uns in wissensbasierter Empathie zu üben. In die Lage von Flüchtlingen uns zu versetzen, setzt Empirie mit ihnen und Wissen um ihre Gründe voraus, nicht bloß Mitleid und Verständnis. Anders als diese ermüdet Empathie nicht, sondern ist ethische Richtschnur der Wissenschaften.
(Der Text hat unwesentliche Erweiterungen, aber wichtige Zusätze durch die Diskussion erhalten. Ich hab enageboten, zum letzten Teil einen Beitrag für Mitglieder der Philipps-Universität zu leisten und auch aus meien konkrten Erfahrungen zu berichten).
[1] Das ist so ähnlich wie viele Deutsche ihre pflichtgemäße Zuwendung zu Holocausüberlebenden daran binden, dass gerade diese „mit ihren Erfahrungen“ natürlich moralischer und anständiger als der Rest der Gesellschaft sich zu verhalten hätten. Auch hier ein Bezug zu Salzborns Rede.