Die Fortsetzung hält sich bei Vorworten auf.
Gibt es aus der Verzweiflung einen Ausweg, der in tätige Hoffnung mündet? Keine Frage für Politikwissenschaftler oder Soziologen, möchte ich meinen, und doch: sie ist unabwendbar. Wenn Aron Bodenheimer über Mozart schreibt, er sei ein trostloser Tröster, geht das in die gleiche Richtung. Er ist so wenig untröstlich, wie es seine Hörer sein sollen, nur man kann auch getröstet werden, weil und wenn der andere keinen Trost hat, trostlos ist. Verzweiflung ist die Sackgasse des sich Einrichtens in der Ausweglosigkeit einer so fremdbestimmten Situation, dass man sie besser erträgt als gegen ihre Windsmühlen und Geisterbahnfiguren zu kämpfen. Das ist leicht getan und noch leichter in der Kulturkritik gesagt. Hermann Hesses Steppenwolf fällt mir ein: : „Der Blick war viel eher traurig als ironisch, er war sogar abgründig und hoffnungslos traurig; eine stille, gewissermaßen sichere, gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. …“ (Der Steppenwolf, 1931, Fischer, S. 18). Bei Hesse dreht sich dann alles ins Rad des Wiederkehrens ein, und antibürgerlich ist heute noch nicht einmal ein Lockmittel. Sich der Politik, dem öffentlichen Raum zu verweigern, ist kein Widerstand, keine Resilienz, es ist der Ersatz von Handeln durch Meinung und Stimmung. Die Depression ist hier eine politische Pathologie, die in der scheinbaren Ausweglosigkeit so etwas wie das frühneuzeitliche sich Abfinden mit dem Fegefeuer sieht, ein wenig Trost, dass es nicht die Hölle des Kriegs ist.
Zu diesem Trost gehört ein Blick ins Feuilleton. Dort und nicht bei den politischen Nachrichten, findet sich eine Dichte der Reflexion, des Nachdenkens über unseren Zustand, der fälligen Kontroversen, wie sie lange nicht auffällig war. Philosophisch, politisch, alltagsklug – das gehört zum Trost, dem richtigen Text im falschen: denn obwohl die Nahtstellen zur Politik, zur Praxis und den Praktiken, zur „Agency“, wie es neuerdings heißt, deutlich sind, unmissverständliche Aufforderungen – gehe hin, tue desgleichen, oder gehe hin, und lerne – obwohl die Schlüsse darauf hinweisen, wo die Mauern der Sackgasse dünner, permeabler sind, dringt solcherart Überlegung noch nicht einmal in die politischen Spalten der gleichen Sendungen und Zeitungen, selten auch in die Kommentarseiten. Den Trost beständiger machen hieße auch: politischer lesen und hören. Ich beginne Listen anzulegen, was aufbewahrt werden soll, um dieses Lesenlernen zu erleichtern. Auch darin besteht die Verantwortung, sich im Verzweifeln nicht zur Ruhe zu legen. Ach, wir Schildkröten!
Als ich vor 15 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erwarb, eitle Vorsorge für ein bestimmtes politisches Amt, sagte mir ein guter Freund: du weißt, dass du damit auch die Verantwortung für die deutsche Geschichte auf dich nimmst? Ich sagte, das sei mir klar. Ja, aber die Haftung, wo es gar nicht mehr um persönliche Verantwortung geht. Beim armenischen Genozid haften alle Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, nicht schwierig, worin auch immer diese Haftung sich materialisiert. Bei der Shoah scheint die Aufarbeitung der Geschichte hier besser zu gelingen als anderswo, aber die Archive zur Beziehung mit Israel und des Judenmörders Globke (ich nenne ihn so, wer nicht in den Genuss seines Rassekommentars für Mischlinge o.ä. kam, musste umso eher sterben, ich will ihn so nennen), bleiben unzugänglich. Ich hafte, wofür ich schon deshalb nicht verantwortlich bin weil ich dagegen kritisch und mit Verstand ankämpfe: außenpolitische und menschenrechtliche Fehlhaltungen. Aber worin kann sich diese Haftung praktisch ausdrücken – etwa darin, die Geschichte lebendig zu halten, aber ihre Deutungen nicht voluntaristisch dort einzusetzen, wo es angezeigt ist, und sie dort gegen den die Evidenz des Gegenwärtigen einzutauschen, wo man aus lauter Schaum und Versäumnis fast erstickt, nicht handeln kann?
Die Staatsbürgerschaft innerhalb der EU, des staatenbündischen Europa, erschien mir schon damals marginal. Zu Unrecht, wenn wir die heutigen Debatten anschauen. Also ein weiteres Vorwort. Um an die Grenzen der Welt zu gelangen, die uns so deutlich vor Augenstehen, muss man dennoch durch viele Ländern gehen – was manchen lieb wäre: durch viele Nationalstaaten. Halbgebildete mutmaßen über den Sinn von Grenzen und Begrenzungen, sie vermischen so viel es geht, um die Politiker zu verwirren. Eine meine Lieblingsbeschäftigungen ist die begriffliche Auseinanderklauberei: Borders, Boundaries, Delineations, Frontiers…allesamt Grenzen. Welchen Begriff man wählt, verwendet, setzt im Deutschen denn ein wenig mehr „Kontextualisierung“ voraus als im Englischen, so wie bei Liberty und Freedom. Aber hier wird es halt wirklich hart: es geht um Tote, Überlebende, und um das künftige Schicksal derer, die oft aus Zufall nicht tot, ertrunken, gebombt, verblutet oder dem Wahnsinn überantwortet sind: Welchen normativen Rahmen überantworten wir die Kontexte?
Eine mögliche Antwort, die mich sowohl die geforderte Trostlosigkeit annehmen lässt als auch zum politischen Handeln drängt ist eine wichtige Klärung: Themen und Probleme auseinanderhalten; die erwünschte Normalität gegenüber dem perpetuierten Ausnahmezustand vorziehen.
Das Erste erscheint einfach. Aber es ist schwierig z.B. klar zu machen, dass Flüchtlinge keineswegs das Problem sind, sondern ein Thema, das vom Problem abgeleitet wird oder zu ihm führen kann. Das Problem ist die deutsche Außenpolitik, die Legitimation dieser Politik vor der Bevölkerung, aber auch vor den Lobbys, die unsere Regierung teilweise entmachtet haben (Waffen, Wirtschaft, Bündnisse etc.). Das Problem ist auch die EU Integration, deren Schwächen nicht mit dem nachholenden Nationalismus spättotalitärer Regierungsführung zugeklebt werden können. Flüchtlinge sollten schon deshalb kein Problem sein, weil die Probleme, die sie tatsächlich schaffen, unterhalb der Grenze von Herausforderung für unser Gesellschaftssystem liegen. Aber zum Zweiten: für die Politik erscheint es einfacher, sich Legitimation durch die Ausrufung dauernder Krisen und dauernden Ausnahmezustands zu verschaffen. Das wiederum ist in der Außenpolitik manifest, in anderen Politikbereichen latent, oft nur als Stimmung wahrnehmbar: wenn behauptet wird, dass es Zurück zur Normalität ja wohl nicht gäbe….als ob das jemand wollte. Normalität ist ja nicht nur der durch die Quantifizierung der Welt entstehende Normalismus (wir danken Jürgen Link zu wenig für diese Überlegungen), sondern Normalität sollte ja vor allem die unablässige nachhaltige Dynamik der Konfliktbewältigung sein, also nie eine Wiederherstellung von Vergangenheit und vermuteter Stabilität.
Schon das Einüben dieses Zusammenhangs ist schwierig. Aber genau darin liegt auch die politische Chance des Umkehrens aus der Sackgasse der trostlosen Verzweiflung. Die Ideologisierung der Probleme, die darin besteht, aus Ihnen ein unübersehbare und bedrohliche Flut von Themen zu machen.
Das ist sozusagen ein Einschub, der ein wenig meine Arbeitsweise mir selbst deutlich macht: ich schreibe da nicht einfach als ein grantiger Citoyen und auch nicht als ein entmutigter Humanist, sondern als ein Wissenschaftler, dem seine eigenen Denkweisen angesichts einer von ihm mit verantworteten Wirklichkeit zum Problem geworden ist. Thema: Flüchtlinge, zum Beispiel.
Vor einigen Tagen sprachen Seehofer und andere bayrische Landvögte den Opfern des Hochwassers ihr Beileid und ihre Betroffenheit über 8 Ertrunkene aus. Das ist gut und richtig so, wie denn auch nicht. Am gleichen Tag ertranken 800 Flüchtlinge vor den Küsten der sicheren Herkunftsländer im Maghreb bzw. Libyens. Am gleichen Tag erfahren wir, wie viele der glücklich geretteten und bei uns angekommenen Flüchtlinge ihre Familien erwarten. Sympathie, Mit-Leiden reicht nicht. Können wir uns vorstellen, von einem Unwetter heimgesucht, um Haus und Hof gebracht worden zu sein, auf die Hilfe unserer Dorf- oder Hilfsgemeinschaft angewiesen zu sein? Sicherlich, und hier kann man Vertrauen fast verallgemeinern. Versetzen wir uns in einen der Flüchtlinge auf dem Schlauchboot. Können wir das ohne unseren Wortschatz zu erweitern? Wir können es ohne Sentimentalität. Es geht einfach darum, wie viele Menschenleben weiter bestehen und wie viele nicht. Das hat etwas mit der Politik zu tun, für die wir mit haften, weshalb es für die Sackgasse zu früh ist.
(Finis terrae V folgt, aber vorher eine ausführliche Rede zu Asyl und Ausnahmezustand).