1. Teil: Anlass zur Besorgnis und Verwunderung
Die Alice Salomon Hochschule gilt als respektable, ja gute, Hochschule. Das muss ja nicht so bleiben. Jeder kann den Streit um Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“ in allen deutschen Medien verfolgen, und dass das Rektorat, im Stil deutscher Unterwerfungsgesten (Duldungsstarre gegenüber dem Asta), das Gedicht übermalen und durch einen ziemlich dummen Mehrzeilentext einer so genannten Dichterin ersetzen will, reicht für eine längst fällige Diskussion über die Verkommenheit der Gefühlspolitik, die ja kein deutsches Phänomen ist.
Die so genannten Studierenden übersetzen Gomringers Gedicht so:
Alleen
Alleen
Alleen und Blumen
Blumen
Blumen und Frauen
Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und
ein Bewunderer
Das Original ist noch viel schöner, aber da die letzte Zeile die Gefühle der Stumpfierenden verletzt, lassen wir ihn hier auf deutsch. Nora Gomringer, die Tochter Eugen Gomringers, wird den Text weltweit verbreiten und ich finde, es lohnt über diesen Text jenseits der studentischen Schmähkritik nachzudenken. Wie? Der Asta hätte ja doch höflich und sogar differenziert geschrieben, das Potential mehr als die Fakten angegriffen und endlich eine fällige Diskussion eingeleitet…Die der Axel Springer Verlag sofort aufgreift::
„Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer…“, heißt es in dem umstrittenen spanischen Gedicht, das Axel Springer seit Mittwochabend auf dem Dach des Verlagshauses zeigt „Avenidas y flores y mujeres y un admirador“. Das haben die guten Lyrikreiniger*innen jeglichen „Geschlechtes“ jetzt davon. (http://www.bild.de/politik/inland/meinungsrecht/axel-springer-zeigt-umstrittenes-gedicht-54582174.bild.html)
(den sehr dummen Text des Hochschul-Asta kann man hier lesen: http://www.asta.asfh-berlin.de/de/News/offener-brief-gegen-gedicht-an-der-hochschulfassade.html, wobei mich freut, dass es nicht nur Frauen sind, sondern auch Studierende, die ihn unterschrieben haben).
Vor vielen Jahren, fast 30, war ich Uni-Präsident in Oldenburg. Im Senat brachte die Frauenbeauftragte die Beschwerde vor, dass Bilder von Paul Wunderlich (1927-2010) aus der Kunstsammlung der Universität an allgemein sichtbaren Wänden zur Schau gestellt wurden, und durch ihre erotischen oder sexuellen Anspielungen den Geschmack der Frauen beleidigten. Ich bin Konflikten nie aus dem Weg gegangen und doch habe ich die Bilder als Kompromiss umhängen lassen. Jahre später haben Frauen Bilder mit teilweise ebenfalls erotischen Anspielungen aufgehängt, alles war in „Ordnung“. Ich weiß nur mehr so viel, dass mein Argument gegen die Kritik war, es wäre ja nicht um Geschmack, sondern um Zensur gegangen. Ich hätte mich besser wehren können, aber die Rückversicherung bei der Kritik brauchte ich schon damals nicht.
Die Verkommenheit der akademischen Kritik ist ja nicht nur an der Alice Salomon Hochschule deutlich. In den USA werden Veranstaltungen unterbrochen, wenn sich Studierende durch Themen oder ihre Interpretation beleidigt fühlen. Es ist der Zustand einer Stimmungs- und Gefühlsdemokratie, die keine Diktatur mehr braucht, um auszugrenzen, was nicht gefällt. Ich nenne das verkommen.
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Der Gedicht-Vorfall ist (noch) nicht die Regel, eher ein Symptom, der prinzipienbetonten Faulheit, in Abweichungen und Kritik positive, notwendige Formen der öffentlichen Kommunikation über Moral und Ästhetik zu sehen. Abweichung von dem als „sicher“ geglaubten Inhalt oder der „akzeptablen“ Form; und Kritik als unsere Notwendigkeit, an jede Grenze zu gehen und zu entscheiden, welche überschritten werden soll und welche nicht. Vergessen wir die Alice Salomon Hochschule, deren Senat eigentlich noch schlimmer agiert als der bedauernswerte Asta.
Aber verlassen wir das Terrain der Hochschule und Wissenschaft nicht. An unseren Universitäten kann man das Problem der Verkommenheit vor allem an der Art und Weise sehen, wie die hoffnungsvollsten, innovativsten, meiste jungen Wissenschaftler*innen aus der Wissenschaft entfernt sind, um dem Mainstream sicherlich qualifizierter, aber undynamischer Besatzungen der Exzellenztanker Platz zu machen. Hochschulen sollen öffentliche Orte sein, in denen Wissenschaft auch vermittelt wird an, die von den Ergebnissen und Methoden betroffen sind, und nicht nur an die, die an deren Zustandekommen aktiv beteiligt sind.
Die hohe Studierendenquote hat zu dieser Dynamisierung nicht beigetragen. Die jahrelange Klage von der Entpolitisierung trage ich nicht mit. Aber die Befürchtung, dass die Akademisierung eine Professionalisierung in einen ungewissen Raum befördert, der die Wissenschaften immer weniger zu einem Teil der Lebensentwürfe macht. In andern Worten: es wird für Tätigkeiten ausgebildet, denen die Dimension der Anntwort auf eine Frage fehlt: wie wollen wir leben? Wie will ich leben?
Das bedeutet NICHT eine ENTTHEORETISIERUNG und schon gar keine Umwandlung in ein theoretisch angereichertes PRAKTIKUM. Sondern es bedeutet den Einstieg in eine theoretische Praxis, die Wissen und Erkenntnis nach gesellschaftlichen und privaten, nach wissenschaftlichen und alltäglichen Kriterien sortieren lernt und sich dabei wieder findet. Trivial?
Auch Sozialarbeiter*innen oder Physiker*innen sollten mit Gedichten etwas anfangen können. Dazu müssten sie ihren sozialen Raum erweitern können. Und die Lehrenden müssten nicht vor lauter Existenzangst sich auf die solide Qualifikation ihrer Klientel beschränken wollen oder müssen, in denen die Gedichte für den nächsten Schein nicht relevant sind.