Was kann man tun, um die ungehinderte Nazifizierung der Welt – und Deutschlands zu bremsen?
Man kann ja nicht viel machen, am Schreibtisch sitzend, die Weltprobleme so reduzierend, dass sie wenigstens auf der Landkarte der Gegenwartsdiagnose erscheinen. Hektisch schreiben nützt auch nichts, schimpfen entlastet nur die Gegner (die plötzlich einen Verbündeten wittern), und die Aussichtslosigkeit von Politik ist auch nicht leeres Schwarzmalen.
Was nun folgt, ist kein politisches Wunschkonzert:
Ich denke mir zwei Regierungen in Deutschland und Österreich (jeweils getrennt, bitte). Beide Länder könnten z.B. erwägen und in höchst unterschiedlichen Verfahren und wahrscheinlich auch unterschiedlichen Wirkungen agieren:
- Ein Einreiseverbot gegen alle Amerikaner zu verhängen, die Mitglieder der National Rifle Association sind;
Unsinn: wie will man das herausfinden außer durch eine Erklärung der Betroffenen? Und welche Folgen wird das haben? Keine, weil NRA Angehörige ohnedies nicht nach Europa reisen.
- Visumpflicht für alle anderen US Bürger einzuführen, wie das schon einmal Brasilien nach 9/11 versucht hat;
Die USA würden ähnlich ungehalten und mit scharfen Sanktionen reagieren. Die könnten wir vielleicht aushalten, aber was dann? Wir würden die Falschen von Europa fernhalten, nebenbei.
- Aufrechterhalten aller Sanktionen gegen Russland, wegen der Annexion der Krim und der Ostukraine;
Ist zwar relativ einfach durchzuhalten und zu verschärfen, aber löst es Probleme? Symbolisch würde es dazu die eigenen Nationalismen verschärfen.
- Sofortige Übernahme bzw. aller Waffen- bzw. Rüstungsexporte durch die Bundesregierung bei deutschen Rüstungsunternehmen und restriktive Exportmaßnahmen (d.h. bewusste Enteignung aufgrund übergeordneter Prinzipien);
Verstaatlichung geht schon, aber dann wird das Ergebnis umgangen oder von den Finanzministern aufgeweicht; die Firmen gehen halt ins Ausland, der freie Handel wird gefährdet. Kann man ja versuchen.
- Sofortige Stilllegung aller Kohlekraftwerke. Staatliche Minimalaltersversorgung und Hilfen für Umschulung der Arbeitskräfte;
Ein besserer Vorschlag, auch wenn er teuer ist. Aber die Arbeitskräfte werden schneller nach rechts abwandern als man ihnen helfen kann.
- Erzwingung der Reform der Vereinten Nationen durch vorübergehende Einstellung aller Zahlungen solange, bis das Privileg der fünf Vetomächte ersatzlos fällt;
So vernünftig wie aussichtslos, weil es keine kritische globale Geschichtspolitik gibt.
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Ich könnte hunderte Vorschläge hier auflisten, wie sie in den letzten Wochen zornig, ohnmächtig, blauäugig oder zynisch gemacht wurden. Aller ernsthaften Argumente zu einzelnen Aspekten liegen längst auf dem Tisch. Sie werden nicht diskutiert oder in praktische Rahmen gebracht, weil sie
- nicht politisch kommuniziert werden, sondern innerhalb ihrer Diskursschalen unzugänglich bleiben;
- Für sich genommen rational und machbar erscheinen, aber ihre Schnittstellen und Anschlussfähigkeit nicht erkennbar machen bzw. bei sich tragen;
- Nicht so geschnitten sind, dass sie ohne weiteres mit einander kombinierbar sind.
Darüber hinaus bedürfen sie einer gewissen „Rezeptionsmoral“, d.h. erst wenn sie beim Adressaten ankommen, müssen sie erklärt und legitimiert werden, sozusagen auf ihre schädlichen Nebenwirkungen abgeklopft werden und vor allem – sie müssten auch dartun, wie sie in Lebensstil, Habitus und soziales Umfeld eingreifen.
Sehr abgekürzt, aber eindringlich: man muss gescheit sein, etwas wissen und Freiraum zum Bilden eigener politischer Überzeugungen haben, also kommunikationsfähig sein, um dies zu können. In früheren Blogs habe ich auf die Konstitution des Volks aus der Bevölkerung hingewiesen, jetzt gehe ich den Schritt weiter: Diese BILDUNG gehört zum Konstitutionsprozess dazu, sie ist ein Angriff auf die Halbbildung, die uns allenthalben von den zähklebenden Vertretern der Interessengruppen vermittelt und dennoch freudig aufgegriffen wird. Wir erschaffen durch unsere Bereitwilligkeit zu glauben erst das Establishment, das wir dann, oft zu Recht, kritisieren. (Wenn wir nicht dazu gehören und im Namen der Meinungsfreiheit alles verteidigen, was aus unseren Reihen kommt).
Übrigens: es heißt REGIERUNGSBILDUNG:
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Regierungsprogramme können das nur beschränkt leisten. Gut und ernst gemeinte Vorschläge können Debatten anstoßen, die im Vorhof der Politik versanden.
Bevor man sich auf den Weg zu Reformen macht, lese man Kafkas „Vor dem Gesetz“ und suche die Alternativen: welche Verbote müssen umgangen werden, damit die Praxis keine unzumutbaren Preise und Opfer hat?
Allein in meinem politischen Umfeld häufen sich die guten Ratschläge, die außerhalb desselben bei den politischen Umfeldern anderer Gruppen, Parteien und Zirkel wiederum erörtert und vorgeschlagen werden, und umgekehrt. Das ist, auf der höheren Ebene, eine Art von Ratgeber-Literatur-Konzil, global.
Das wäre ja nicht wirklich von Übel, wüsste man genau, mit welchem konkreten Ziel und aus welcher Kritik der Verhältnisse jeder Programmpunkt entstanden ist. Nur ist die Rekonstruktion schwierig, und am Grunde jeder Programmatik findet sich meistens das eigene Interesse (legitim, aber selten zureichend) oder ein quid pro quo (was hab den ICH davon? Illegitim, aber wirkungsvoll).
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Ich will meine Leser*innen mit solchen eher Brackwasserigkeiten nicht langweilen. Sie stoßen mir nur auf, weil ich mich in einem Umfeld befinde, in dem oft Ratlosigkeit zu übertriebenen, aggressiven Emotionen oder stumpfen Kurzschlüssen führen, und ich meine eigenen Schnellschussreflexe testen will, bevor ich sie auf andere loslasse. Am Beispiel meiner Vorschläge oben – und ihrer Widerlegung – kann jeder üben.
Wie man eine großartige Idee entwickelt, hat Robert Menasse in der „Hauptstadt“ anhand eines Plädoyers für Auschwitz als europäischer Hauptstadt in einem sehr komplexen Kontext dargestellt (man kann, ohne ihn durch Überinterpretation zu beschädigen, behaupten, dass in das Gesamtkonzept der polierten Imagekonzeption jedes der angesprochenen Probleme und noch viele mehr untergebracht werden können, dass aber kein einzelnes ohne den Kontext dessen, worum es wirklich geht, voll ausgedeutet werden kann). In diesen Tagen, wo Gefangene gegen Rüstungsexporte, Flüchtlinge gegen Volksberuhigung, Minderheiten gegen Stabilität, Betrüger gegen Klimaziele getauscht werden, ist die Herausnahme von Problemen aus der Tauschlogik so wichtig wie eine Formulierung der Perspektive jenseits der Probleme. Das ist ein Umweg zu dem, was mich bewegt zu schreiben (nicht, was mich bewegend bewegt, die Romantik ist zur Zeit flüchtig).
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Wenn ich mir die Forderungskataloge gerade der Menschen vornehme, die mir politisch näher stehen als andere, dann zeigt jedes einzelne Problem eine Schwelle der Unlösbarkeit. Wenn angebliche Pazifisten aus der NATO raus wollen oder die nationalen Streitkräfte abbauen oder ihre Einsatzbereiche reduzieren auf „Verteidigung“, dann klingt das vernünftig und ist gut zu argumentieren. Wenn ich dem entgegenhalte, dass man sich bei solchen Maßnahmen schnell die Private Security, die ohne Gesetz und Kontrolle Kriege führt und Gewalt ausübt – in vielen Fällen habe ich das selbst beobachtet – dann setzt zu Recht Nachdenken ein.
Wenn mit den Arbeitsplätzen der Autoindustrie argumentiert wird, dann sind die Alternativen ganz stark an den Lebensstil und die Macht der Gewohnheit gebunden, ohne dass das auch nur offenkundig wird. Ich erinnere mich daran, welchen Ärger es in den 80er Jahren gemacht hat, als ich vorschlug, die Einspruchsmöglichkeit gegen Bahntrassen geringer ausfallen zu lassen als beim Straßenbau…und warum werden Autos gebaut, die 240 km/h schnell fahren, wenn alles über 130 km/h ein Tötungsprogramm für Mensch und Umwelt ist?
Jeder der möglichen Konditionalsätze erzeugt einen ganzen Wirbel an Ausweitungen, Schnittstellen und Konfliktpotenzialen. Bis man erschöpft zurücksinkt und entweder resigniert oder dne Kompromiss der kleinsten gemeinsamen Nenner findet.
Und da denke ich, dass wir es aushalten können, „Verschärfungen“ zu fordern und, wo es geht, durchzusetzen, auch im Strafrecht (Autovorstände, Chemielobbies, etc.), auch im Eigentumsrecht (siehe oben: Waffenproduzenten und Anteilseigner an diesen Industrien), auch in der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Geschwindigkeitsbegrenzungen, Verlangsamungen, aber auch Begrenzung der Eingriffe in den Naturraum z.B. bei neuen Seilbahnen usw.). Und es soll Abmilderungen geben dort, wo die Rigidität nur den Ideologen nützt. Es ist eine Abmilderung, ausländische Straftäter in Deutschland einzusperren anstatt sie durch Abschiebung in den Tod zu schicken.
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Dass ich immer wieder bei der Bildung, beim Wissen, beim Gescheitsein lande, ist auch für mein Leben kein Zufall (gewesen und geworden). Keine Selbstbespieglung ist, dass mir ein recht berühmter Kollege aus dem Bildungsbereich einen antipädagogischen Affekt vorgeworfen hatte. Und er hat mir, dem einstmals promovierten Pädagogen, nicht Unrecht getan. Wenn ich heute die massenhafte Unbildung kritisiere, beklage ich sie doch nicht, sondern ordne sie in genau den zivilisatorischen Konflikt ein, der Ursache und Anlass dieses Blogs ist. Zu wissen, wie und warum die Evolution aus der Spur geraten ist, macht uns vielleicht nicht glücklicher…aber das war ja nicht das Ziel der Gesellschaft.
- Zu Anfang dieses Blogs habe ich gefragt, was man gegen die Nazifizierung unserer Gesellschaft machen kann. Gestern, am 23.2.2018 konnte man sehen, wie die Nazis im Parlament, also die AfD, den anderen Parteien vorgeführt hat, wie der Stad der Dinge ist. Man plädierte für eine würdige Geschichtspolitik auch gegenüber den Verbrechen der Nazis, möchte sie aber von der Schuld abkoppeln, die bis in die Gegenwart und weiter greift. Einige der demokratischen Beiträge haben das zu Recht aufgegriffen. Mir wurde aber höchst unbehaglich dabei, wie wenig konkret das Geschichts“Geschehen“ und die Erinnerung verknüpft wurden. Eines aber war klar: die Nazis im deutschen Parlament gibt es.
- Mit meinem Freund Bodenheimer habe ich lange einen Satz entwickelt und vertieft: „Nur wer vergessen will, darf sich erinnern“. Im Kontext eben der wirklichen Verbrechen und Gräuel, im Kontext der Auslöschung. Das bedeutet, in Bildungsdiskurse übersetzt: das Erinnern ist kein Instrument. Weder für die Entsühnung, nichts wird dadurch besser, dass wir es erinnern; noch für die Selbstbefreiung im Sinne einer psychoanalytischen Therapie (die gehört auch in den Kontext, aber eben „umgekehrt“). Ich habe mich immer wieder gefragt, wer das Schreckliche nicht vergessen möchte. Weil es nicht erträglich ist. Und die Erinnerungsbilder, die Auschwitzbilder, die Zeitzeugenberichte und die Kinder, die unsere Generation nicht als Enkel, Brüder und Schwestern oder Cousins je kennengelernt hatte…all das will man nicht dauernd um sich hat. Und deshalb will man es vergessen. Erinnern kann befreien, dann, wenn man genau weiß, was es ist, das man nicht mehr präsent haben will. Dazu muss aber erst einmal genau hingeschaut worden, Betonung auf genau.
- Das gilt für die Geschichte der Shoah und etliche Menschheitsverbrechen danach. Und das ist, so paradox es auch klingt, ein Teil der eingangs zitierten Komplexität kleinster Problemlösungen. Nicht die Probleme sind das Problem, sondern wir.