Du bist nichts

„Du bist nichts, dein Volk ist alles“ (Heinrich Deist, 1924). Gar nicht unpopulär, der Satz. Ein kleines Licht hat ihn gesagt, er ist griffig und unsinnig, aber was er meint, ist klar, und nicht nur völkisch, sondern auch rassistisch, ethnopluralistisch. America first, Europe first, Bavaria first! Sind wir davon weniger weit entfernt, als es scheint?

„Ich könnte für ihn sterben!“ flötet eine deutsche Staatsbürgerin türkischer Herkunft (3. Generation, keine Doppelstaatsbürgerin) am 24.6. nach Erdögans Wahlsieg ins Radiomikrophon. Für den fernen Führer sterben, das passt. Zu den geringen Bemühungen unsere türkische Minderheit zu integrieren. Zu den unsinnigen Theorien von Grenzregime und Außengrenzen, wie sie die dritte Garde der Innenpolitik präsentiert, um Europa zu dissoziieren.

Ich bin nicht bereit, auf Vergleiche mit den Nazis und den Stalinismus zu verzichten. Aber vieles von dem, was sich heute ereignet, geht über die Anfänge dieser weltweiten „Stimmung“ hinaus. Stimmung, das heißt hier eine Übermacht extremer Diskurse, die gegen die weitere Ausbreitung von Demokratie und Rechtsstaat gerichtet sind. Wenn es nicht zu pathetisch klänge, könnte man sagen: Nazis ante portas. Aber was bedeutet das?

Für viele Menschen wenig bis fast nichts. Das war auch (vor) 1933 so, das war in etwas anderer Konstellation für die Sowjetbürger beinahe von Anfang an so, das ist in vielen Diktaturen so und erst recht in „illiberalen“ oder „klerikofaschistischen“ (Zielbegriffe) EU-Mitgliedsländern. Der Zugriff auf die Individuen und ihre privateste Sphäre ist in China  viel stärker und perfider als in all diesen autoritären Ländern. Diktatur ist eine Form der Ausübung von Herrschaft. Wenn Demütigung von Rechtsstaat und Grundrechten angesagt ist (Trump: Ersatz von Menschenrechten durch Dankbarkeit, 80% Zustimmung zu der Einwanderungspolitik, DLF 25.6.2018), dann wird das so gemacht. Wenn es nicht opportun ist, dann treten die Extremisten samtig und unscheinbar nach Außen auf (FPÖ in Österreich). Der österreichische Kanzler mahnt, diese Autokratien nicht abzuweisen, sonst würde man Europa spalten. Damit bereitet der Junge den Boden für die rechtliche Entmenschlichung europäischer Politik. („Er hat schon gewonnen“, DLF 25.6.2018).

Woher kommt der unaufgeklärte, massenhafte Diskurs der Freiheitslemminge?

Erstens dadurch, dass auch die Diktatur, erst recht die autoritäre Beinahe-Diktatur, den Menschen soviel Freiraum lassen muss, dass diese nicht gewaltsam revoltieren. (Extremfall der repressiven Toleranz, die nicht einfach aus dem Kapitalismus folgt).

Zweitens entsteht Widerstand weder automatisch noch von außen implantiert. Besser als meine Argumente beschreibt das mein älterer Freund und indirekter Lehrer Peter Brückner: Das Abseits als sicherer Ort (Berlin 1980, Wagenbach): die Wahrnehmung derer, die sich unterwerfen, muss auch gelernt und erfahren sein. Im Vorwort ein schrecklicher, aufrüttelnder Satz: „Das Genie des deutschen Volkstums liegt im Spürsinn für die fremde Rasse“ (S. 8). Man kann dazufügen: das gilt auch für die, die sich diesem Volkstum anschließen. (Oder, wie die zitierte Frau oben, von diesem Volkstum aus auf andere schließen…)

Drittens aber zwingt Aufklärung zum Handeln, und damit zu einer Prüfung des Rahmens, in dem Herrschaft legitim ausgeübt wird. Im Grenzfall heißt das Gewaltanwendung, oder Folgen aus Art. 20 GG. Der Grenzfall ist nicht gegeben. Aber wenn ein CSU Abgeordneter sagt, es ginge nicht um Humanität, sondern um die Durchsetzung geltenden Rechts, dann hat er Demokratie und Republik nicht verstanden.

Viertens findet eine folgenschwere Verwechslung statt: das Volksganze, die Volksgemeinschaft, wird mit dem Gemeinwohl und der Solidarität verwechselt. Ich habe öfter betont, und bleibe dabei, dass das „Volk“ eine Konstruktion ist, deren Realisierung durch eine wirkliche Konstitution aus der Menge von Menschen einer Bevölkerung erfolgen muss, und zwar nach politischen und sozialen, nicht aber nach ethnischen oder religiösen oder rassischen Gesichtspunkten.

Ich teile die Auffassung vieler Kollegen, dass Populismus nicht erklärt, warum es zu dieser retrospektiven Verengung kommt, die auch in „Verrohung“ oder Gewalt mündet. Vielmehr muss man alle identitären Bewegungen und alle religiösen Dogmatismen daraufhin untersuchen, wie sie ihre Mitglieder durch Auswahl, Auserwählung oder Zuchtwahl an sich binden.

Dass diese Dogmatismen in Leitkulturen oder eine falsche Wir-Konstruktion (bis hinunter zu Wirbayern und bis hinauf zu Wirmuslime, Wir Christen, Wireuropäer etc. ) sich ausdrücken, wissen wir. Die Gegenstrategien können nicht in Spiegelung, sondern nur im vernünftigen Widerstand geschehen, der allerdings sollte wenig Kompromisse kennen.

Nachtrag: zu den nichtaufgeklärten, ja brandgefährlichen Reaktionen auf das Böse gehört auch der Ausschluss, der so schlimm ist wie das Wegsperren. Heute (25.6.) wurde der Angreifer auf zwei Kippa tragende Berliner zu einigen Tagen Arrest und Nachbereitung seiner Straftat verurteilt. Meldet sich der Antisemitismus-Beauftragte Klein zu Wort und meint, so jemand stehe „außerhalb der Gesellschaft“. Noch gefährlicher sind nur Sprengattacken. Außerhalb der Gesellschaft stehen nur Tote. Dass wir solche Täter „innerhalb“, also in der Gesellschaft haben, macht sie überhaupt besserungs- oder resozialisierungsfähig.

 

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