„ZWEITER MIME: Morgen habe ich einen Funk … Kinderstunde … ‚Schneewittchen‘ … Ich spiele einen Zwerg …
ERSTER MIME: Welchen?
ZWEITER MIME: Den vierten …
ERSTER MIME: Wie legst du ihn an?
ZWEITER MIME: Hintergründig …“
(„Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben“, S. 139)[1]
Die Übereinstimmung der folgenden Beobachtungen mit wirklichen Menschen, Orten und Situationen ist beabsichtigt, könnte aber rein zufällig auch ganz anderswo sich ereignet haben und beansprucht keinen Anspruch auf objektive Überprüfbarkeit außer durch Theaterbesuch und Kritikoffenheit.
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In einer deutschen Landeshauptstadt gibt es ein renommiertes Stadttheater, das durchaus ein Staatstheater sein könnte, weil es ja die erste Bühne des Bundeslandes ist. Ich gehe gerne ins Theater, ca. 50 mal im Jahr treibt es mich zu den Bühnen des Sprech- und Musiktheaters, in jener Stadt oder in den großen Metropolen. Gewohnt bin ich das aus meiner Jugend und Studienzeit in Wien, und seitdem hat es mich nur verlassen, wenn ich beruflich lange Zeit in mimenfreien Gebieten war. (Ähnliches gilt auch für Kino und Konzerte). So nimmt es kein Wunder, dass ich großen Anteil an der Entwicklung und den Geschicken jenes Stadttheaters genommen habe, in den letzten 12 Jahren, davon 10 Jahre unter einem Intendanten, mit dem mich eine Freundschaft, und oft, nicht immer, künstlerische Übereinstimmung verband, ebenso wie mit einigen der wirklich sehr guten Schauspieler*innen und vielen Produktionen des Hauses. Man kann sagen, dass dieses Theater alles andere als ein provinzielles Stadttheater war, und es hat neben Furcht und Mitleid auch Bildung, Kritik, Widerstand und eine gewisse ästhetische Grundbildung vermittelt, die ja die deutsche Provinz nicht gerade auszeichnet. Der Intendant hat die Stadt verlassen, mit ihm mussten ganz viele der Mimen auch gehen. Eine neue Intendantin trat ihr Amt an, eine Frau aus dem Osten, was zu Hoffnung Anlass hätte geben können, wäre der neuen Leiterin nicht der künstlerische Bericht aus der westdeutschen Provinz vorausgeeilt und ihr Schwerpunkt auf politisch korrekte Kommunikation im Umfeld des Theaters läge, aber nicht drin, im Großen Haus.
Nun habe ich die letzten drei Premieren in ebendiesem Haus gesehen. Und werde in der laufenden Spielzeit diese Spielstätte nicht mehr besuchen, was keine Drohung ist, weil ich ohnedies keine Kritiken schreibe und veröffentliche. Ein Stück von Brecht, aufwändig grausam realistisch inszeniert, um eine platte Botschaft zu vermitteln. Langweiligst. Ein Stück von Shakespeare, eine Schändung eines der großartigsten Theatertexte, unlogisch und langweiligst. Ein Schwank aus der vorletzten Jahrhundertwende, mühsam aktualisiert, deprimierend, obwohl eine Dorfzeitung schrieb, er hätte sein Publikum „erheitert“. Eine Inszenierung schlechter als die vorige, sodass auch die Hoffnung, das nächste Stück würde besser werden, enttäuscht wurde. Einige sehr gute und gute Schauspieler*innen mussten sich der jeweiligen Regie beugen, die meisten weniger guten fanden das Konzept wohl angemessen. (Ausnahme, um gerecht zu bleiben, gute Musik, bestens gespielt, ob sie nun dazu – wozu, eigentlich? – passte, oder nicht).
Diese Beobachtungen reichen für sich nicht einmal für einen Blog. Vergiss es, fahr nach Berlin, geh in die Schaubühne, ins DT, ins BE, ins HAU, in die Volksbühne …. Dort gibt es auch einmal Mist oder ein missglücktes Konzept. Ja schon, ABER: das besagte Theater hatte sich weit über die Kategorie „Stadt-„theater“ herausgearbeitet gehabt und gab der Zuordnung neuen, lebendigen Sinn. Und jetzt das. Provinz muss nicht provinziell sein, aber wenn sie es ist, müssen andere Fragen gestellt werden. Zum Beispiel ob es richtig ist, Millionen an Subventionen für ein etabliertes Haus dieser Qualität zu zahlen, wenn die freien Bühnen und Theater am Existenzminimum herumkrebsen. Zum Beispiel ob die künstlerische Distanz zwischen beiden Klassen tatsächlich an der sozio-kulturellen und ökonomischen Differenz zu bemessen ist (ich habe genügend Vergleiche aus dem Off-Bereich um zu sagen, dass einiges dort eindrücklicher und eindringlicher ist als im Großen Haus).
Wenn ich bloß an die grausame Inszenierung des Schwanks denke, bei dem ein Teil des Publikums auch tatsächlich spontan gelacht hatte (man müsste die Stellen analysieren, oft ging es zum Beispiel darum, wie eine Behinderung erheiternd wirkte), dann kommt einem in den Sinn, wie lustig das Groteske, das Ernste, das Tragische sein kann, von Qualtinger über Monty Python bis Loriot, und wie schrecklich die Klamotte wirkt, wenn sie für „leicht“ (o Ihr Musen) oder entlastend erachtet wird.
Beim Brecht hatte ich gedacht, Abituriententheater und gut gemeint sei das Gegenteil von Kunst. Bei Shakespeare hatte ich gedacht, dass Regietheater es auch vermag, einem Stück seinen Inhalt zu rauben. Beim Schwank kam beides zusammen. Der brutale Realismus, der der Phantasie keinen Raum bot, aber nicht die Abgründe, nur das Niedrigwasser der plebejischen Kultur zeigte, der auch noch jede Anspielung erklärte, weil man selbst das dem Publikum nicht zutraue, vor allem in der Zusammenfassung vor dem letzten Vorhang, dieser Realismus entbehrte nicht nur des Humors – kann man ja so machen – aber auch dessen Umkehrung in die Farce der Polaritäten gesund-normal-wahnsinnig, Stadt-Land, romantisches versus geldgieriges Begehren – nichts, aber nichts von all dem auch nur dramatisiert.
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Natürlich erzähle ich das nicht herum, ich habs schon verdaut, aber mich geärgert. Warum? Weil wir genügend andere Stoffe im urbanen Diskurs haben, die dringender und folgenschwerer zur Praxis drängen als diese Bühne. Schade nur für die guten Schauspieler*innen, und die Chance für die andern, besser zu werden. (In der Pause habe ich mitbekommen, dass ich mit meinen Wahrnehmungen nicht allein war, aber beim freundlichen und enden wollenden Schlussapplaus bekommt man ja dann doch Hemmungen, gleichmäßig apathisch auf das Ende zu warten, ohne jegliche Anerkennung für die, die sie verdienen…das wird einem dann als Zustimmung ausgelegt, wie die Bemerkungen, „Sie haben da ja auch doch gelacht/geklatscht“, ohne zu fragen worüber und warum).
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Auch in der Provinz kann großes Theater geschehen. Nicht immer, nicht wallfahrtsmäßig entrückt, sondern einfach, weil Kunst gesellschaftlich sich vermitteln kann, und das ist in einer komplizierten gespaltenen Stadt oft wichtiger als in der Konkurrenz der hundert Bühnen in den großen Metropolen. In Wien, Berlin oder Hamburg kann ich mir aussuchen, ob ich am Abend ins Theater gehe und wohin…das ist anderswo nicht ganz so einfach. Und Theater muss uns nachlaufen, wenns ums Angebot geht, aber es muss uns nicht nachlaufen mit einer Anmutung, den vorhandenen Geschmack zu bedienen. Es muss schon provozieren, meinetwegen mit Leichtigkeit, aber nie ohne die Distanz, die die Kunst uns voraus hat, voraus haben muss.
Aus dem eingangs zitierten Dialog zwischen Qualtinger und Sklenka:
Erster Mime: Hast du Girardi noch gesehen?
Zweiter Mime: Ausgesprochen überschätzt.
Erster Mime: Er hatte gute Beziehungen zur Presse.
Zweiter Mime: Nur so kommt man nach Wien.
Erster Mime: Wien … Josefstadt … Volkstheater.
Zweiter Mime: (nachdenklich): Mährisch-Ostrau war besser als Teplitz-Schönau.
Erster Mime: Vom neuen Jedermann habe ich furchtbare Verrisse gelesen.
Zweiter Mime: Ich habe immer gesagt, das Stück passt nicht zu Salzburg.
Erster Mime: Vielleicht zu Linz … In Linz müsste man sein.
[1] Ilse Walter: Best of Qualtinger.Wien, München: Deuticke, 1999. S. 139