Da wurden Adressen, Chats, Passwörter usw. gehackt. Na und?
Der zuständige, wie zu erwarten minderbemittelte, Leiter des zuständigen, wie zu erwarten Seehofer unterstellten Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik, erklärte, man sei nicht dazu da „abzuwehren“, sondern zu „reagieren“. Na und?
Man wolle die NSA bei der Aufklärung um Hilfe bitten. Jene National Security Agency, die Merkels Handy gehackt hatte und eigentlich nur illegale und oft kriminelle Aktionen setzt. Aber warum nicht, wir setzen ja auch kriminelle V-Leute ein. Was nutzt es, wenn wir die Täter finden? Prozess, Verurteilung, das will das empörte Volk. Ja schon, aber…
Wir geben unsere Daten freiwillig und dauerhaft Preis, manchmal müssen wir es. Meistens müssen wir es nicht. Keiner muss Payback-Karten benutzen (darüber werden Einkaufsverhalten und Lebensgewohnheiten ausgeforscht und werbewirksam weiter verarbeitet). Wie oft drücken wir auf OK, wenn auf Cookies hingewiesen wird, die bei Infoanfragen vorgeschaltet sind? Wie oft geben wir in sozialen Netzwerken das Preis, das wir geschützt wissen wollen, wenn es zu uns zurück kommt? Keine Klage: unser schlechtes oder unvorsichtiges Verhalten rechtfertigt die globale Bewegung zu totaler Überwachung keineswegs.
(Schnitt: zu diesem Thema sind die Medie3nmeldungen gestern und heute voll. Kann man alles im Detail nachlesen. Mir geht es darum: der Mensch als Datum, als Nummer, als Zahl).
Das ist nicht neu. In ihrem wichtigen Buch Erstickte Worte, Wien 1988, beschreibt Sarah Kofman, der Vater in Auschwitz ermordet wurde, die Verwandlung des Häftlings in eine Zahl, in ein Datum, ganz im Kontext der Sprachlosigkeit.
„Mein Vater: Berek Kofman, geboren am 10. Oktober 1900 in Sobin (Polen), am 16. Juli 1942 nach Drancy gebracht. Gehörte zum 12. Deportationszug vom 29. Juli 1942, einem Zug mit 1000 Deportierten, 270 Männern und 730 Frauen (zwischen 36 und 54 Jahren): 270 Männer mit Matrikelnummern von 54.153 bis 54.442, 514 für die Arbeit selektionierter Frauen mit den Nummern 13.320 bis 13.833, 216 anderen Frauen, die sofort vergast wurden“ (S.28, Quelle u.a. Serge Klarsfeld).
Seit damals beschäftigt mich die Verwandlung der Opfer in Zahlen (Jenseits der Sprachanalyse, mit der Kofman nicht alleine steht). Erst Sarah und Israel als Mittelname zur „Erkennung“ der jüdischen Menschen und dann die Nummer. Bei den Deportierten aus Drancy der übersetzte Begriff „Matrikelnummer“, der in ziviler Form auch zur Erkennung von Studierenden heute dient.
Wenn wir heute in die Algorithmen aller möglichen Informationspolitiken eingebaut werden, geht es nicht um Transportnummern in den Tod, sondern als Ortung von Objekten der Werbung, Überwachung, Manipulation etc. Das kann zu Tod und Verfolgung führen, wie die chinesischen Sozialüberwachungssysteme, die nach den digitalen Erkenntnissen die Daten zurück in den zu verfolgenden, maßzuregelnden Menschen verwandeln; gibt es anderswo auch, vielleicht weniger explizit und nachvollziehbar. China first. Das kann auch zur Lebensgestaltung und zu den Bedingungen der Reproduktion eines Arbeitslebens führen, wie die Digitalisierung der Publikationsmerkmale (z.B. Citation Index) für die Laufbahn ganzer Generationen und Individuen in der Wissenschaft. Wieder tausende Beispiele, und wieder höchst variable Spielräume für die Individuen, ob sie ihre Daten preisgeben oder nicht.
Wie oft spiele ich das Spiel mit? Täglich, denke, mehrmals, selten überwiegen die bewussten Entscheidungen, ok zu drücken.
Anfangs war ich überrascht, wie gerade meine besten und Freunde hier viel gelassener waren als ich, obwohl sie genauso politisch, öffentlich, kenntlich sind. Ihr Argument: was hindert mich am Sagen und Leben der Wahrheit, wenn andere das beobachten, verfolgen, speichern und in ihre Handlungsschemata einspeisen. Wenn sich diese Verarbeitung unserer digitalen Existenz auswirkt, wir also bestraft, gelenkt, behindert werden, muss man sich wehren, aber bis dahin ist der Aufwand, gegen jedeweder Art der Überwachung sich zu wappnen, größer als der Effekt im Einzelfall. Genaugenommen haben sie Recht. Als Einzelner kann ich nur ganz beschränkt meine Verdatung behindern, die daraus erfolgenden Sanktionen sind größer als der Anlass rechtfertigt. Dieser Appell an Gelassenheit ist die eine Seite der Medaille.
Die andere ist, für uns selbst zu entscheiden, was ohnedies öffentlich sein kann, darf, soll. Immunisierung der Privatsphäre durch Öffentlichkeit? In diese Richtung gehen viele meiner Überlegungen. In den 68er verwendeten wir etwas präcox die Losung: das Private ist öffentlich/politisch. Wir meinten unter anderem, dass der „Besitz“ an Privatem der Öffentlichkeit nicht entzogen werden sollte. Das ging bis Reduktion der Intimität beim Herstellen von Orgasmen, oder auch die „Veröffentlichung“ von Lebensgewohnheiten usw. es wurde über die Öffentlichkeit kleinlich, aber genauer nachgedacht als darüber was privat bedeuten sollte, und ob privat auch persönlich sein soll. Für mich ist heute u.a. die Frage, wo meine Menschenwürde anzusiedeln sei. Und welche zu Unrecht angeeigneten Daten gefährden diese Würde? Die Häftlingsnummer ist die ultima ratio der Entwürdigung, wer Nummern tötet, tötet schon keine Menschen mehr. Die politische Frage ist, mit welchem Recht Daten geteilt werden und wieweit wir selbst da gleich mitportioniert werden. Hier sind wir Demokratien weit hinter der Praxis aller Diktaturen und auch verselbstständigten Datenkraken von NSA, CIA, FSB usw. – das stärkt unsere Würde und unsere Verwundbarkeit.
Wenn ich möchte, dass z.B. eine bestimmte Habitusgemeinschaft (politisch, aber auch einfach im Sportverein oder Literaturklub) etwas über mich weiß, dann nehme ich ein bestimmtes Mitlesen, Mitwissen in Kauf, und wenn da die Falschen dabei sind, gilt meine Güterabwägung. Wenn ich den Innenminister wegen seiner unmenschlichen Deportationspolitik angreifen will, dann müssen das Menschen auch ohne die Habitusaffinität auch erfahren, und dann riskiere ich Gegenwehr. Nicht einfach na und?, sondern Risikobewertung. Wenn ich bestimmte Daten und persönlichen Qualitäten partout bei mir behalten will, muss ich sie nicht über die Sozialen Medien meinen dort sich tummelnden „Freunden“ mitteilen, Unbefugte lesen immer mit. Und so weiter…das kennen wir doch? Aber es gibt Gründe, es nicht zu beherzigen. Es gibt auch Gründe, warum Menschen trotz der Krebsgefahr weiter rauchen oder Trinken. Die Wahrnehmung dieser Gründe liegt immer an der Wasserscheide zwischen Privat und Öffentlich. Und so kann sein, dass die Öffentlichkeit unsere Privatheit schützt, indem sie bestimmte Dinge einfach für sich nicht in Anspruch nimmt.
Die Passwörter meiner Menschenwürde müssen gut geschützt sein. Das kann ich trotz China, NSA, BMI, Google etc. weitgehend, nicht gänzlich, selbst entscheiden, einschließlich bestimmter Einschränkungen im täglichen Leben. Dass das Konstrukt der Ehre jedes Menschen durch die Verdatung besser und wirkungsvoller angreifbar wird, wissen wir auch. Aber es ist eben politisch, nicht jedes Konstrukt als relevant anzusehen und wenn nötig abzuwehren.
Womit wir bei der Sorge um uns selbst (Foucault) und bei der Genauigkeit der Wahrnehmung dessen angekommen sind, was um uns und mit uns geschieht. Große Philosophie – mag sein, aber vor allem kleine, alltägliche Korrekturen. Seit man die Bahncard durch ein Lesegerät in der Lounge ziehen muss, werden offenbar Bewegungsprofile von Bahnreisenden angelegt. Na und? Wenn sie mich nicht aus anderen Gründen suchen, sollen sie weiter solchen Unsinn machen. Seit ich weiß, wie Payback-Karten bei Rewe und anderswo für direkte Werbeansprache verwendet werden, benütze ich keine mehr. Na und? Und auch hier: und so weiter, den ganzen Tag…Die Reduzierung der Zahl dieser Entscheidungen und die hinterlistige Erzeugung falscher Daten, wenn uns das nur immer gelänge, ist auch ein Teil gelassener mit wichtigen Problemen umzugehen. Wichtig ist es, öffentlich zu leben, um ein Stück Privatheit zu schützen.