Vor dem Verfassungsgerichtshof geht es heute um den Antrag der Berliner AfD gegen einen Tweet des Regierenden Bürgermeisters – auf dessen Account wurde am Tag mehrerer Demonstrationen folgendes verbreitet: „Zehntausende in Berlin heute auf der Straße, vor dem Brandenburger Tor und auf dem Wasser. Was für ein eindrucksvolles Signal für Demokratie und Freiheit, gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze.“ Die AfD möchte also demonstrieren dürfen, ohne dass sich der Regierende Bürgermeister für Demokratie und Freiheit, aber gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze ausspricht. Ernst Reuter würde auf die Barrikaden gehen. (Tagesspiegel Online 9.1.2019)
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Dass die AfD sich überall als Opfer stilisiert, ist eine ebenso bewährte, wie bekannte, Haltung, die sie keineswegs allein einnimmt – aber mit großem Erfolg. Aus der Opferrolle heraus die eigenen Untaten entweder als legitime Reaktion ausgeben oder marginalisieren, das können die Extremisten aller Couleur, und das können auch single-issue-Gruppen, die ein Anliegen zum Nabel der Welt machen.
Die AfD ist und bleibt eine Nazi-Partei, und zwar unabhängig vom gewaltsamen Anschlag von Bremen, von dem noch niemand weiß, wer ihn warum verübt hat. Dass die demokratischen Parteien ihn verurteilen, ist richtig. Sich davon zu distanzieren ist falsch. Denn es würde bedeuten, dass man auch die Wahl hätte, eine solche Tat unter anderen Umständen gutzuheißen oder gar selbst zu begehen.
Die Passivität, mit der auf die Angriffswelle der AfD reagiert wird, erschreckt mich. Deutsche Gewalt wird verharmlost, ausländische übertrieben (Bottrop versus Bamberg), und immer behalten die Rechten das letzte Wort. Diese Methode wird geradezu gepflegt, denn warum soll man die Gewaltanstifter der AfD auch noch provozieren?
(Wenn ich als jüdischer Deutscher bei jedem rassistischen Rülpser von Höcke oder von Storch so reagieren würde, wie es auch möglich und angemessen wäre, dann hätte ich viel zu tun; das Gleiche gilt für antisemitische Taten, die sich ja nun wirklich häufen, aber – wir jüdischen Menschen sind ja keine Opfer).
Die AfD ist trotz des Anschlags kein Opfer. Die Opferlogik, die u.a. Weidel und Gauland jetzt stolz produzieren, ist aus zwei Gründen falsch: innerhalb des von der AfD bekämpften demokratischen Systems gilt der Rechtsstaat, sozusagen die „blinde Justitia“ auch dann, wenn sie die Feinde der Demokratie beschützt. (Ich weiß schon, dass das politisch idealisiert, aber lasst es einmal als Prinzip stehen). Und im politischen Raum hat ein Gewaltakt wie jeder andere die Funktion, auf die Grundsätze des Zusammenlebens in der Republik zu reflektieren. Deshalb kann man, soll man, muss man die Tat von Bremen verurteilen, ohne deshalb der AfD den Bonus der Normalität zu geben, als ob Anschläge auf Demokraten nicht auch sich ereigneten. Demokraten sind in der Demokratie niemals Opfer. Eine Partei politischer Täter wie die AfD kann sich als Opfer aufspielen, und ihre erlittenen Wunden im Kampf gegen die Demokratie wirkungsvoll lecken. Das macht sie nicht weniger schuldig.
Caveat: in letzter Zeit wird die Partei von Ereignissen geradezu verwöhnt: die Affäre Relotius und andere Medienmissgriffe stützen ihre Angriffe auf die öffentlichen Diskurse, unsinnige und strafbare Aktionen gegen Parteifunktionäre und -einrichtungen gehören zur Polizei und nicht zum System. Das System schützt natürlich die AfD besser als viele, die sich exponieren. Aber auch deshalb verteidigen wir ja die Demokratie.
In diesem Ereignistaumel geht unter, dass Deportationsminister Seehofer und einige Bundesländer wieder Afghanen in den Tod abschieben. Unbemerkt und unbeirrt von der Sicherheitslage in Afghanistan wird hier Deutschland gesäubert. Eine Ursache für die Verrohung der gesellschaftlichen Diskurse ist, dass es für diese Untaten keine öffentliche Sprache gibt. Nicht Rückführungen, sondern Abschiebungen sind das, und ohne hinreichenden Grund. Hier wird die Demokratie bewusst, mutwillig zerstört.
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wg „abschiebungen“/“rückführungen“ vs. „rückkehr“:
die meisten medien, die gestern über die jüngste abschiebung nach afghanistan berichteten, sprachen richtig über eine solche. leider aber verwendete ausgerechnet die ARD (also das medium mit einer der größten reichweiten) in einem tagesschau-background (hier: https://www.tagesschau.de/ausland/abschiebeflug-afghanistan-101.html) beides synonym, schon in der überschrift „Abschiebeflug nach Kabul: Das Leid der Rückkehrer“. das ist natürlich falsch und verharmlosend. rückkehrer wären solche (die es auch gibt), die freiwillig gehen.
unterpunkt: nicht alle freiwilligen rückkehrer gehen freiwillig, sondern unter dem von unseren regierungsbehörden bewusst geschaffenen umständen: falschdarstellung als quasi-wirtschaftsflüchtlinge (weil afghanistan teilweise ja „scher genug“ zum abschieben sei); ausschluss von integrationsmaßnahmen; versauern in hangar- und anderen massenunterkünften, in denen die wenigen, die jobs ergattern, kaum ruhe finden, weil die frustrierten nebenan stämdig lärm veranstalten; oft vergebliche suche nach eigenem wohnraum, u.a. weil aufenthaltsfristen so kurz gehalten werden, dass kaum ein vermieter gewillt ist, an sie zu vermieten.
auch die (zu) kurze darstellung dort der IOM-beratung und der von der Bundesregierung „in bestimmten Fällen… gewährt[en]… sogenannte Wiedereingliederungshilfen für Rückkehrer aus Deutschland“ ist eben das: zu kurz und damit zu positiv. sie richten sich v.a. an die sog. freiwilligen rückkehrer; abgeschobene können, wo weit ich weiß, nur beihilfe zu unterbringung und evtl „geschäftsgründung“ beantragen. aber mir ist kein fall bekannt, wo das von einem abgeschobenen in anspruch genommen wurde – oder genommen werden konnte. (die beihilfen sollen ja gerade „freiwillige“ rückkehr inspirieren, bevor man mit nur mit einem 50-euro-schein in der tasche – wenn man glück hat – in kabul abgesetzt wird.
eine reihe von erfahrungsberichten zeigt, dass der zugang (schon physisch) zum zuständigen büro in kabul schwierig, die bürokratischen hürden für beihilfen zu hoch und die summen insgesamt zu gering sind. selbst für die „freiwilligen“ rückkehrer.
die bundesregierung scheint auch selbst im fall der „freiwilligen“ nicht nachzuvollziehen, wie es mit ihnen weiterging.(mir sind jedenfalls keine statistiken bekannt.) hier wäre auskunft erforderlich. selbst
„freiwillige“ rückkehr ist also zu schlecht vorbereitet und nicht darauf angelegt, wirkliche re-integration im herkunftsland zu betreiben. siehe hier (https://mediendienst-integration.de/artikel/wie-die-rueckkehr-gelingen-kann.html): „wenn Flüchtlinge zu früh, überstürzt und unvorbereitet in ihre alte Heimat zurückgeschickt werden …verbrauchen Rückkehrer in kurzer Zeit ihr angespartes oder ausgezahltes Anfangskapital, ohne sich damit ein neues Leben aufbauen zu können“
zudem, michael, wäre mal ein detaillierter gesonderter beitrag zum thema „straftäter“/“schwere straftaten“ als begründung für abschiebungen nötig.
salam/schalom
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