Mein Blog wird in den nächsten Tagen einige Rezensionen bringen, was sonst selten ist. Aber im Zuge einer Art Inventur dessen, was anliegt, wenn die Hauptbeschäftigung mit einiger Anstrengung zur Seite gedrängt wird: das Leben ist meist in einer anderen Dimension als dort, wo man gerade heran muss. Theater, Musik, Literatur – naja, das Übliche am agilen Bildungsbürger, und zugleich die Gewissheit, dass die Kritik dieser Bürgerlichkeit verhindert, dass sie zu eng, zu selbstzufrieden werde. Politische Lateralität hat den Vorteil, dass die zentralen Prioritäten besser in den Blick genommen und damit vielleicht besser politisch bearbeitet werden können. Genug der Vorrede: gestern, 3. März.
Gerade nach dem Volksfeind[1] heimgekommen, Ostermeyers Meisterwerk in der Schaubühne. Seit 2012 spielen sie das in dieser Fassung, ist um die ganze Welt gegangen. Man glaubt es kaum. Muss sehr genau analysiert werden, was auch Spaß und Nachdenken und Spannung gemacht hat, denn da sind Sprengfallen drin, und man meint das Stück schon gut zu kennen. Stockmann zeigt einem imaginär aufgeklärten Massenpublikum a) dass ein Umweltaktivist weder gut noch sympathisch sein muss (ich denke so wenig, wie ein zu Unrecht im Knast Sitzender deshalb schon besser oder netter sein muss, weil er gelitten hat, b) dass die Verstrickungen der besitzenden Klasse und ihrer Abhängigen und deren Habitusaffinitäten und Brüche nicht aufgehen in klaren Gleichungen…wissen wir doch, nur in der Schaubühne so viel mehr besser und origineller als im HOT (Hans Otto Theater Potsdam) vor vier Jahren. Dann aber bricht das Stück ins Publikum, Stockmann hält eine politische Rede gegen den Individualismus, Liberalismus, und wer nicht aufpasst, freut sich, klatscht und – erstarrt: irgendwann will er „die Schädlinge ausrotten“, irgendwann ist die Presse eben die Lügenpresse, und es verwundert nicht, dass Hitler bei Ibsen unzitierte Anleihen genommen hatte (Programmheft ist gut und wichtig, schade, dass das HOT diese Information zugunsten eines billigen Blättchens abgeschafft hat). Die Rede Stockmanns fasst viel zusammen, das damals wie heute gegen „die da oben“ gesagt werden kann und. Was den Gegnern im Stück nur insofern nützt, als sie ihre niedere Gesinnung nun anhübschen können, mit der Plausibilität, dass die Kritik eines Einzelnen ja doch der Mehrheit schaden kann…anscheinend siegt der Common sense. Und einige Leute im Publikum diskutieren mit, dass es zum schämen ist, bei anderen waren die Wortmeldungen wohl von der Regie gesetzt, jedenfalls zerfallen die Fronten. Ich denke an Antonia Grunenbergs Walter Benjamin (Götterdämmerung, Herder 2019) und die Kritik am Liberalismus und daran, dass zwei, die das Gleiche sagen, noch lange nicht das Selbe sagen…Schön auch der Schäferhund auf der Bühne. Und ich denke, dass viele, die sich nicht geäußert hatten, wohl an eine auffällige Analogie gedacht hatten: Stockmann hat ein Anliegen: Gift im Wasser macht krank. Solange das nicht kausal und evident ist, halten die Heilbadbetreiber, und alle, die davon leben, ihn für den Volksfeind, weil ja die Mehrheitsdemokratie auch auf dem Spiel steht, bei beiden Kontrahenten. Nun ersetzen wir Stockmann mit dem so genannten Arzt und Lungenfachmann Köhler, dessen falsche Berechnungen für den so genannten Minister Scheuer ein Anlass sind, die Autoindustrie (Bad Untertürkheim, Bad Zuffenhausen, Bad Wolfsburg etc.) zu verteidigen (Arbeitsplätze, Steuern, halt die geglaubte „Mehrheit“), und die Kritiker an der Feinstaubpolitik und den Dieselfahrverboten zu Volksfeinden zu erklären. Die Dialektik ist, dass Stockmann offenbar nicht gelogen hat, Scheuer und Köhler und seine 100 Lungenarzt-Scharlatane aber offenbar schon. Ähnlich wie bei Joachim Meyerhoffs Melle-Solostück in der Volksbühne: so muss Theater sein.
[1] Henrik Ibsen: Der Volksfeind. https://www.schaubuehne.de/de/produktionen/ein-volksfeind.html