Glücklich ist,
wer vergisst,
was doch nicht zu ändern ist.
(„Die Fledermaus“)
Seit Tagen raschelt etwas bei mir im Bücherzimmer, undefinierbar. Heute wurde es lauter. Auf einem hohen, schwer erreichbaren Regal, wo Marx, Engels, Lenin und Mao einträchtig verstauben, rumort es. Ich ziehe zwei Bände Lenin heraus, und gleich wieder drücke ich sie ins Regal: dahinter saßen mehrere kleine Fledermäuse.
Erste Erklärung: vor ein paar Tagen flatterten gleich mehrere dieser lieben Tiere durch unsere Balkonzimmer.
Was tun? Lenin gab keine Antwort. Nach einigen Telefonaten kam eine NABU-Expertin für Fledermäuse (die war zufällig beides und am Freitag um 16 Uhr noch erreichbar). Sie erbat einen Karton, wir mussten die Oberlichtfenster aufmachen. Dann räumten wir die Bücher ab: Hinter Marx ca. 15, hinter Lenin 5, hinter Hannah Arendt 1 Fledermaus der Gattung „Mückenfledermaus (Pipistrellus pygmaeus)“; sie ist zierlich, passt in eine Streichholzschachtel und nährt sich von Insekten. Leider scheißt sie regelmäßig und kurz nach Nahrungsaufnahme, sodass ich endlich meine verstaubte Bibliothek nach Fledermausbefall verabscheue und den ganzen Raum reinigen muss.
21 Tiere im Karton, drei oder vier flatterten noch dazu im Raum herum und verschwanden dann durchs Oberlicht. Auf dem Dachboden war es den niedlichen Tierchen wohl zu warm, der Klimawandel schlägt auch da zu. Die Expertin zog mit dem Karton und den geretteten Tieren ab. Die Tiere sind zu klein, um einen in die Hand zu beißen, und deshalb bekommt man keine Tollwut; das beruhigt. Sie sind bislang nicht verhungert, also muss es doch einige Insekten hier gegeben haben. Für meinen Freund, dessen Hund Mopsa heißt, hätte ich mir natürlich die Mopsfledermaus (Barbastella barbastellus) gewünscht, aber die ist größer.
Die Geschichte erzähle ich euch, weil offenbar Marx und Lenin in Büchern sich verewigen, in denen sich Fledermäuse gerne aufhalten, weil sie da ungestört bleiben. Jetzt frage ich mich natürlich, wie bei anderen Büchern, warum ich die noch aufbewahrt habe. Naja, im Kapital I und III sind ja bedeutsame Aufzeichnungen mit Bleistift als Randglossen drin (Lesekreis Osnabrück 1975), aber in weiteren Bänden eher keine Spuren intensiver Lektüre. Lenins Reden ohnedies fürs Alter angeschafft, und so weit bin ich noch nicht. Die Beschaffungsgeschichte lässt mich meine Ausflüge nach Ostberlin erinnern und die Arbeitskreise, in denen sich über Marx und seinen Exegeten Beziehungen bildeten bzw. entzweiten und tiefe Einblicke in unser Verhältnis zum Proletariat gewährt wurden. Heute gibt es uns, aber kein Proletariat mehr, oder umgekehrt, es gibt uns nicht mehr.
Unsere Fledermäuse waren zu klein, um Alpträume zu produzieren. Aber beim Beseitigen der Batman-Scheiße blättere ich durch die säurefesten MEW Klassiker und die großgedruckten Mao-Bände, meine Notizen goutierend, auch das Arbeitsheft des Kapitalarbeitskreises ist dabei, ich war damals schon ein guter Chronist. Parteiprogramme, a so a Schaas, wie der Wiener sagt.
Kommentar eines guten Freundes, lesbar gemacht:
Erstens beweist der Nestbefall, dass Du noch klar im Kopf bist und jahrelang gut marxistisch in Blogs argumentieren kannst, ohne die blauen Bände in die Hand zu nehmen.
Zweitens ist der Fall ein Beweis dafür, dass Dein Arbeitszimmer gut durchlüftet und mit Sauerstoff versorgt ist (irgendwie müssen die Tiere ja von außen hereinkommen, wenn sie nicht Brehms Tierleben entflogen sind) – was für den Kopf ebenfalls von Vorteil ist.
Zum Dritten hättest Du nun die Möglichkeit, das Nest heimlich an der Willy Brandt Baustelle (BER) zu verstecken und damit den Bau des Flughafens um weitere 20 Jahre zu verzögern.
Ich bin gerührt. Nun ist aber das Problem, dass nach Säuberung und Entstaubung die Klassiker wieder dort stehen, wo sie gestanden haben, und wohl bis zu meinem Auszug in die elysischen Gefilde dort stehen bleiben, obwohl ich gesehen habe, wie viele von den Frühschriften ich genauer, und wie wenig von der politischen Ökonomie ich durchblättert hatte in jenen Tagen…(letztere kam erst vor ein paar Jahren wieder zu Ehren, nicht ganz linientreu).
*
Die Episode der Kleinvampire ist auserzählt. Der Rückblick auf meine Frühbildung auch. Was bleibt, sind doch ziemlich viele Bücher, weniger als eine Gelehrtenbibliothek, viel mehr als ein normale Büchersammlung. Und die geben mir heute schon ein paar mehr Überlegungen auf. Sich mit Büchern und Bildern zu umgeben, ist auch ein Zeichen. Nicht in den weiß-gläsernen Apartments der transparenten Bürger wohnen zu wollen. Ein Zeichen für wen? Die Konservativen? Die Wärmedämmung durch Bücher als Beitrag zum Klimawandel? Die ständige Möglichkeit der Bildungsergänzung, wenn EndNote zu wenig bietet? Keine trivialen Erwägungen, weil ich ja der Endlichkeit dieser Lagerstätte entgegensehe, und es schon etwas schmerzt vorauszusehen, wie wenige der Bücher ein Antiquar meinen Nachkommen anbieten wird, wenn sie das alles entrümpeln. Stelle ich Bücher an die Straße, sind sie schnell weg…habe ich etwas übersehen bei Lohn, Preis und Profit? Die Sache hat ja auch einen aktuellen Haken. Solche Wohnungen und Bibliotheken sind eine Emanation der Sesshaftigkeit. Migranten haben das Problem nicht.