In diesen Tagen wird der November 1989 immer und immer wieder aufgerufen. Gut so. Viele anrührende, auch betroffene und ambivalente Erinnerungen und Bewertungen von ganz normalen, d.h. nicht prominenten ZeitzeugInnen, vergegenwärtigen diese doch einmaligen Tage und Wochen.
Natürlich habe ich mich auch gefreut – über die Befreiung aus der Botschaft in Prag, über den Zusammenbruch der Diktatur der DDR, über die Maueröffnung. Auch, ebenso ehrlich, weil ich dieses Ereignis vorhergesagt hatte. Kein Triumph, aber Freude über eine gewisse Hellsicht, die etwas damit zu tun hat(te), dass ich zwar in Deutschland lebte, aber kein Deutscher, sondern Mitteleuropäer war. Aber ich habe einen Irrtum und eine zweifelhafte Deutung begangen, die mich lange belastet haben und bis heute nicht freuen:
Am 3. Oktober 1990 hatten wir Gäste aus der DDR zu Gast an unserer Universität, und ich hatte eine Rede zu halten, Willkommen, Reflektion, Analyse. Bis heute sage ich, keine schlechte Rede. Aber da war ein Satz: Wo die Nazis Leichenberge hinterlassen haben, hinterließ die Stasi Aktenberge. Beifall. So ein Unsinn. Ich habe den Vergleich, der in dieser Rede sehr wohl eine Rolle gespielt hatte, abgeschliffen und geglättet. Man hätte es schon damals wissen können und wusste es: der Vergleich war in diesem Bereich unangemessen, auf anderen Ebenen aber weniger.
Der zweite Kommentar ist komplizierter und verfolgt mich hartnäckiger. Mit vielen anderen – von Angela Merkel über Gregor Gysi zu Oskar Negt und Björn Engholm, habe ich zu einem Buch beigetragen: (Daxner 1993). Meine drei Seiten waren überschrieben: „Was mich nichts angeht, was mich ärgert“ und nehmen die Satire der Diskurse und Kommentare zur Einheit aufs Korn, das würde heute auch passen – in diesen Tagen: aber wie schnell werden die Kommentare wieder vergessen werden? Die Ausgangsthese war ja richtig, dass die alte BRD einen Teil ihrer späten demokratischen Errungenschaften und ihr ökonomisches Glück „gerade durch den antifaschistischen Friedenswall“ mitbegründet hatte. Aber es war falsch, die Anerkennung der baltischen und osteuropäischen Nationalstaaten als voreilig zu kritisieren, und deren Staatsbildungen nicht als Reflex ihrer langen Unterdrückung durch den kommunistischen Herrn in Moskau zu erkennen. Ich betrachtete die demokratischen Belehrungen der Westdeutschen gegenüber den befreiten Ländern als Satire, weil sie vergessen hatten, wem sie vor allem den langen Prozess der Demokratisierung im Westen zu verdanken hatten, was gerade die „Linken“ verdrängt hätten. Hinter dieser Doppelbödigkeit stand die Hochachtung vor der ostdeutschen Widerständigkeit und vor dem Mut des sich konstituierenden Volks (hab ich damals richtig gesehen); und die falsche Vorstellung, wie wir den erreichten Stand von Demokratie durch Übernahme statt Vereinigung in Demokratie würden halten können (hatte ich falsch gesehen).
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Heute, 2019, wissen wir mehr und können wir mehr verstehen und erklären. Aber wie hartnäckig sich der unterworfene Osten hält, zeigen gerade die gutwilligen Aufklärer: in der neuen ZEIT werden 100 besondere Ostdeutsche hervorgehoben, landauf landab wird die Unzufriedenheit der Ostbürger analysiert, die die reale Freude über die Befreiung relativiert (als wäre die wahre Freiheit das gewesen, was die untergegangene BRD täglich über die Mauer ausgestrahlt hatte – man ist an Platons Höhlengleichnis erinnert: die Vorstellung, nicht die Hoffnung, begründete bald eine Enttäuschung, die viele westdeutsche Politiker in Kauf genommen hatten). Heute erinnern sich nur die Älteren an die wirkliche Geschichte. Aber die Erzählung hat gefährliche Folgen angenommen, nicht nur in der Ideologie von AfD und anderen Rechten, aber auch in der Verweigerung vieler Leute aus der Linkspartei, ihre Wählerabgabe an die AfD anständig zu erklären.
Wir müssen uns heute mit dem Nationalismus und der erstarkten rechtsradikalen Identitätspolitik nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und darüber hinaus auseinandersetzen. Und wir müssen ehrlicherweise feststellen, dass die Rechts-links-Koordinate zur Beschreibung der politischen Strukturen nur sehr bedingt taugt. Mein Unverständnis für die Verwerfungen von Mittel- und Osteuropa hatte einen richtigen Ansatz: „Ich habe den Prozeß der Auflösung der DDR mit großer Sympathie verfolgt, weil dieses Land meine weniger internationalistisch als kosmopolitisch gefärbte Weltsicht immer schon beleidigt hatte“. Und ich beschwere mich über das westdeutsche Gejammere, das viele heute nicht mehr erinnern wollen.
Von 1990 bis 1993 habe ich sehr viel im „Osten“ mit-gearbeitet, u.a. an der Humboldt-Universität Berlin und in der GEW. Es sollte nicht lange dauern, bis ich erkennen musste, wie missmutig-kleinhirnig gerade das westliche Misstrauen gegen den demokratischen Aufstand kurz vor der Wende war (z.B. bei Frau Seebacher-Brandt noch im August 1989), und wie sich die Freude über die gelungene Einheit in eine Spaltung zweier ungleicher Hirnhälften von Stund‘ an vertiefte.
Das beleidigt mich heute noch, und mein geringfügiger Anteil an diesem Irrtum ist ungut. Ein Heilmittel habe ich: lest die über 20 Aufsätze in diesem Buch. Ein weiteres Heilmittel sind die ungleich besseren Aussichten des heutigen deutschen Ostens gegenüber den anderen befreiten Nationen in Mittel- und Osteuropa, ob in der EU oder nicht – daraus kann man sogar etwas lernen.
Wer meint, das sei doch auch besserwessihaft, möge in – sagen wir: — einem Jahr auf das Thema dieses Blogs zurückkommen. Und die Aufarbeitung des nicht mehr existierenden westdeutschen Staats kann auch nicht mehr lange warten (da hat man sich einen zu großen Bissen zugemutet), und die EU gibt’s ja auch noch, die durch die neuen Mitglieder kurzfristig schwächer geworden ist, aber langfristig ohne sie nicht existieren kann.
Ich will nicht trösten, steht mir ja nicht zu; und mich nicht über meine Distanziertheit 1993 hinwegtrösten. Aber gerade jetzt wäre ein wenig großzügiges Beachten der Umstände von kollektiver und persönlicher Befreiung angebracht, um nicht die Abgehängten zu betreuen, sondern die Bürgerinnen und Bürger eines der wenigen demokratischen und freien Länder.
(Pathos statt Ironie tut manchmal gut)
Daxner, M. (1993). Was mich nichts angeht, was mich ärgert. Neues Deutschland – Innenansichten einer wiedervereinigten Nation. S. Kogel, Zimmermann. Frankfurt, Fischer: 42-45.