Alles ist voll davon: dass die Mitte auch nicht mehr ist, was sie war. Dobrindt (CSU) möchte die Nazis von der Werte-Union in die konservative Mitte zurückführen (16.2.), die ZEIT vom 13.2.2020 titelt „Die Mitte wankt“ und verwendet als Symbol Merkels Raute. Man möchte mit Luhmann fragen: was ist der Fall? Und Was steckt dahinter?
Viele erklären ungefragt, sie wollten nicht zu den extremen Rändern gehören, die Mitte müsste wiederhergestellt werden. Die Metapher von der Mitte verfolgt mich seit Jugendtagen. Da war sie aufgeladen mit positiven Merkmalen (so wie es heute ja „Maß und Mitte“ heißt). Seit Konfuzius, über Ludwig Erhard (1957)[1] bis Arthur Kitzler[2] (Der gründete eine philosophische Schule der antiken Lebensweisheit gleichen Namens, 2010, und hat sich in seiner Jugend, wie ich, an Will Durant festgelesen, bei Werner Marx studiert, wie ich, und ist dann Rechtsanwalt und Philosoph und Regisseur geworden, nicht wie ich); zunächst beeinflusst hat mich ein radikaler Konservativer: Hans Sedlmayr 1896-1984: „Verlust der Mitte“ (1948). Der Kunsthistoriker beruft sich auf Pascal und sieht im Verlust der Mitte den Verlust von Menschlichkeit. Die konservative Kritik an der Moderne hatte ich damals gar nicht so wahrgenommen, und bis heute gilt das Buch als wegweisend, nicht nur in der rechten Szene. Mich erinnert Sedlmayr heute an Gehlen, beide mit ähnlichen Biographien in der NS- Zeit und einer durch die Fachwissenschaften rehabilitierten Position im Diskurs der Kritik der Moderne[3].
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Wenn Demokratie ihren Zukunftsaspekt ablegt, dann gerät sie als Alternative zu anderen Herrschaftsformen ins Hintertreffen. Timothy Snyder bezeichnet diesen Zustand im Gefolge von Fukuyamas Ende der Geschichte als Politik der Unvermeidlichkeit, die nach 1989 behauptete, mit dem Kapitalismus sei auch die Demokratie unvermeidlich[4]. Mit „Hoffnung“ und „Verantwortung“ greift er Konzepte auf, die uns vor langer Zeit (vor der Wende 1989) beflügelt haben Bloch, Jonas, die zur Politik drängte und zur Auseinandersetzung mit dem „Fortschritt“ gezwungen hatte. Das hat mit „Mitte“ mehr zu tun als auf den ersten Blick ersichtlich. Solange, vor allem in der Moderne und zu ihrer Konstitution der Fortschritt die Richtung auf die Zukunft angibt/angab, war die Demokratie die dafür notwendige (nicht hinreichende) Bedingung. Wenn aber Demokratie als Begleiterscheinung von alternativloser kapitalistischer Weltherrschaft ohnedies unvermeidlich sei, kann ihr Scheitern keine Herausforderung für Demokraten mehr sein.
Hier gibt es zwei Fallen, Stolpersteine. Wenn der „Fortschritt“ sich nicht mehr auf eine Zukunft richtet, die selbst Zukunft hat (also nicht mit dem Himmelreich oder dem Ende der Welt abschließt) von der Demokratie ablöst, gäbe es dann eine Demokratie ohne Zukunft, sozusagen eine des Jetzt?
Das ist nicht abstrakt. Es ist die illiberale Demokratie, die Autokratie des Beschwörens der Vergangenheit (Auslegung der amerikanischen Verfassung, textuelle Dogmatik der heiligen Schriften in allen Religionen etc. mit jeweiliger Auslegung für die Gegenwart).
Mitte, um die es mir hier kritisch geht, kann nicht mit dem Zukunftsvektor verbunden sein.
Die Mitte wird zu Unrecht als immunisierender politischer Raum gegen den Einfluss von extremen Positionen oder Kräfteverhältnisse bezeichnet. Sie ist eine rhetorische bzw. diskursive Konstruktion. Es gibt keine Mitte im politischen Raum. Geometrisch wäre sie ein Punkt, ideell mit gleichen Abständen zu definierten Extremen. Das ist natürlich Unsinn, aber es ist der reale Unsinn in Thüringen, wenn die FDP und die CDU sich selbst als Mitte verstehen und AfD und Linkspartei gleich weit entfernt ansiedeln. Wenn das nur wahltaktisch wäre, dann könnte man von einer lässlichen Sünde oder Dummheit sprechen. Sie meinen das aber so, weil sie der Mitte Entscheidungsspielraum zusprechen. Die Mittemenschen können sich frei entscheiden wieweit sie sich politisch in welche Richtung ausdehnen (Beweis heute: Dobrindt zur Werteunion, aber auch über lange Zeit die „antifaschistische“ Ausdehnung von Flügeln der SPD oder Grünen in Richtung Linke). Aber das ist natürlich ein virtuelles Spiel, mit einem Freiraum, dessen tatsächliche Bewegungen durch Macht und den Einfluss von zentrifugalen Kräften bestimmt werden. (Beispiel heute: da die Sicherheitskräfte massiv nach rechts driften, wird Gefahr für die Sicherheit contra factum eher links vermutet). Dass sie nach rechts driften, haben wir heute Politikern wie Seehofer und Maassen zu verdanken, früher schon dem BND und den schrecklichen Juristen des Kalten Kriegs; umgekehrt war die antifaschistische Fiktion eher eine Phantasmagorie, die die Wiederkehr der Nazis verfrüht, aber nicht ganz falsch gesehen haben). Wie richtig dieses Beispiel vor allem in seinem ersten Teil ist, und wie schwach das antifaschistische Ideologem heute ist, kann man an vielen Beispielen belegen: etwa dass im gesamten diskursiven NSU-Umfeld, aber auch bei populistischer Kritik an Maßnahmen gegen Extremisten das so genannte „Empfinden der Bevölkerung“ (nicht gleich das „gesunde Volksempfinden, das ist eine Stufe extremer) gegen die formale Justiz ausgespielt wird (der NRW Innenminister war dafür besonders bekannt, jetzt ist er vorsichtiger; im Grunde ist das aber die verallgemeinerte Trump’sche Methode).
Die Demokratie, also die Intention, für die eigne Zukunft zu handeln und für die unserer nachfolgenden Generationen, besteht darin, die Mitte ständig zu verlassen, und nicht sie immer stärker abzusichern. Darum gibt es auch keine liberale, konservative, linke „Mitte“, sondern nur einen ideellen geometrischen Punkt, von dem aus ich die Situation, die ich verlassen möchte, um sie zu verändern, beobachte und analysiere. Eine Demokratie (in) der Mitte ist eine in der Krise, oder sie ist die Krise selbst, weil keine Demokratie mehr.
[1] ZEIT 1957/51, worin der die Soziale Marktwirtschaft als Sowohl-Als auch verteidigt, und gegen die Hybris der Einseitigkeit wettert.
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Kitzler
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Verlust_der_Mitte; hier ist schon wichtig, wer aller sich dazu äußert: Norbert Schneider, Horst Bredekamp, Werner Hofmann, Willibald Sauerländer, Martin Warnke. Introspektion erlaubt mir heute nicht mehr die Überreste in meiner Kritik der Moderne aufzuspüren…
[4] DLF 16.2.2020 mit dem Plädoyer für aktives Handeln gegen die Politik der Katastrophe (falsche Zukunft der Klimakatastrophe, negative Zukunft). „55 Voices for Democracy“ – Stephanie Metzger.
UPDATE – Nachwort
In allen Diskussionen wird oft übersehen, “ dass es nicht auf eine bestimmte Gesinnung ankommt, sondern auf die Würde des Rechtsstaats und auf republikanischen Purismus, der sich von den aufgestachelten Stimmungen der Massen nicht anstecken lassen darf“...So kann jemand, der gegenteiliger Auffassung als sein Verteidigter, „nicht mitansehen…, wie die Missachtung republikanischer Prinzipien den Staat zersetzt“.
(Adam Soboczynski, in einer….ja, in einer Filmkritik zu Roman Polanskis „Intrige“ über den Dreyfus-Prozess von 1894. ZEIT #7, 6.2.2020, S.57)
Wenn man der politischen Gesäßgeographie von rechts und links folgen möchte, wofür es m-E. unverändert gute Gründe gibt, wird es irgendwo dazwischen eine Mitte geben. Interessant finde ich, dass Du auf den Vektorcharakter von Politik hinweist – den gibt es dann doch aber nicht nur links, sondern rechts, auch wenn wir uns einig sind, dass er links zukunftsgerichtet und positiv ist, rechts niederträchtig und rückwärtsgewandt. Aber es geht auch dort um Veränderung, während die politische Mitte alles wie gehabt belassen möchte und in dem Sinne konservativ ist. Die nützlichen Idioten von Erfurt haben sich sicher nicht wählen lassen, um irgendein politisches Programm durchzusetzen, sondern mal wieder – Mit der Macht ist der Mensch so gern alleine etc.; anders die Faschos, die sie gewählt haben, die wollen einen anderen Staat, eine andere Gesellschaft, eine andere Politik.
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Also nicht, dass mein Kommentar eben ein sonderlich geistreicher Aufschlag gewesen wäre, aber ich fand irgendwie, wenn Du Dich mehrfach wöchentlich abmühst, schlaue Texte unters Volk zu streuen, kann dieses auch von Zeit zu Zeit darauf reagieren…(Jetzt wollte ich schon ein smiley hier hinsetzen; gerade ist der Finger noch rechtzeitig weggerutscht!)
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