Faschismus: Schlange und Maus

Antifaschismus war immer eine Art Baldrian auf die kontemplative Seele der Linken. Man war Antifa, und schon auf der richtigen Seite. In der DDR und im Staatssozialismus wurde der Begriff wie bei Orwells 1984 zur Propaganda des Gegenteils, und damit weit über die Grenzen der Diktatur hinaus ein Unwort. Im Westen war die Beruhigungswirkung etwas anders, sie löste sich in der Gleichgültigkeit, glich=gültig, von allem und jedem auf, und antifaschistisch zu sein war einfach, man konnte den Nazis den „Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm und Namen wegdenken.

Die Auseinandersetzung mit diesem Problem gehört seit Jahrzehnten zu meinem beruflichen, d.h. wissenschaftlichen und politischen Programm, und zu meinem persönlichen, nicht nur privaten, obendrein.

Für einen Augenblick lasse ich eine Dimension – den Unterschied und die Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und den Faschismen – außer Betracht, hier ein Nebenwiderspruch.

Mein Befund ist, dass die politischen Eliten und die populären Massen (also die Herrschenden und die Plebs, NICHT das Volk, NICHT die Zivilgesellschaft…) wie die Maus der Schlange ins Auge schauen, erkennend, was da ist, aber nicht handelnd, oder zumindest nicht genug handelnd.

Neben der beruhigenden Wirkung eines ozeanischen Antifaschismus (ozeanisch=ich mag ALLE Menschen, ich könnte die Natur ÜBERALL umarmen) gibt es eine ganz andere, dynamisierende Funktion: wenn ich Trump oder Putin des Faschismus zeihe, muss ich – müssen wir, politisch – handeln. Man kann nicht sagen: du bist ein Mörder, und dann das Glas erheben und weiter Hummer essen. Genau das geschieht aber.

Es ist leichter, Putin,  Xi und ca. 100 autokratische Machthaber unter den Faschismus einzureihen, als einige, die anscheinend zu „UNS“ gehören. Faschismus ist eben nicht eine dumme Ausgeburt des Kapitalismus (allein), nicht ein Ergebnis völkischer Suprematie (allein), nicht ein Produkt des Exzeptionalismus (allein), sondern ein Produkt aus all dem und mehr, immer in neuer Kombination und deshalb schwerer zu greifen.

Nehmt als Ausgangspunkt nicht die große Theorie (heide Gerstenberger: Unmittelbare Herrschaft), sondern eine kleinere, aber gut nachvollziehbare: Umberto Eco: Der ewige Faschismus (Eco 2020). In 14 Thesen fasst er seine Theorie zusammen (S. 30-40). Ich könnte es hier zusammenfassend nicht abdrucken, weil es zu dicht ist, aber ihr könnt das in einer Stunde verarbeitet haben, und ihr erkennt nicht nur die AfD oder die FPÖ oder – jetzt wird es heikler – Seehofer oder Maassen oder … ihr erkennt jeweils deutliche Kombinationen bei Erdögan (NATO Schwergewicht), Kaczynski (lenkt mit der deutschen Schuld von der Polnischen Gegenwart ab) oder Orban (ungerührte Neuauflage des Faschismus), und die EU, die deutsche Regierung,  viele kultivierte „Europäer“ sind die Mäuse.

(Selbstkritischer Einschub: wir, die 68er +/- 10 Jahre, haben mit unseren Parolen gegen das Neuaufleben des Nazismus/Faschismus etwas anderes gemeint, als gesagt, wir haben unser Pulver der Systemkritik dadurch verschossen, dass wir Faschismus dort identifizierten, wo er schon isoliert war, und wir haben übersehen, wo er noch gar nicht aufgetreten ist…das ist ein anderes, bitteres Thema).

Ich erwarte jetzt sofort einen Gegenschlag: Erdögan, naja, Kaczynski – da verkehrt man ja die Dimensionen deutscher und polnischer Schuld, Orban – mal sehen, wie er das nach Corona durchhält…und Seehofer: da gehst du jetzt zu weit. Der ist ein „fremder Blindgänger“, wie du ihn sonst nennst, bald unzurechnungsfähig, unempathisch gegenüber den Flüchtlingen und ausgesprochen EU-feindlich mit seiner Grenzpolitik, aber nein, Faschist ist er keiner. Hab ich auch nicht behauptet. Aber auch in seiner Innenpolitik sind genügend Elemente aus der Ecoschen Varietät enthalten um ihn zu nennen. Ich habe schlimmere Feinde – rhetorisch und in Gedanken. Aber: es kommt darauf an, diese Elemente des Faschismus auch dort zu erkennen, wo sie noch nicht aktiviert sind, wo sie noch keine Herdenimmunität produziert haben. Das ist mein Stichwort: es gibt so etwas wie demokratische Herdenimmunität gegen Faschismus, aber die hat keine lange Halbwertszeit.

Kennzeichnend schauen wir erst einmal auf Trump, noch immer Selbstherrscher unserer Bündnisse:

Nicht nur seine Schläge gegen die UNO, gegen die Klimabeschlüsse, gegen WHO, nein, seine Alltagsautokratie ist faschistisch:

Trump’s war against the Postal Service could have another casualty: tens of thousands of military veterans with disabilities   The Postal Service employs nearly 100,000 military veterans. Over half of them have a disability rating.   Business Insider
Sailor on USS Roosevelt, whose captain was fired after pleading for help, dies of coronavirus   The ship’s captain was fired after pleading for help for his crew of 4,800. The sailor is the first active-duty service member to die of the disease.   USA TODAY

Zusätzlich zu seinen Lügen, sexuellen und rassistischen Schweinereien, agiert er sehr wohl in dem Rahmen, den wir auch dann faschistisch bezeichnen könne, wenn er nicht alle Merkmale einer Diktatur erfüllt, sowenig wie die polnische, ungarische und Teile anderer EU-Regierungen in unterschiedlichem Maße. Darum geht’s mir auch gar nicht.

Der „ewige Faschismus“ entspricht der Apodiktik von Hannah Arendts Titel: „Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher“ (Knott 2000). Texte von 1941-45, von teilweise erschreckender Voraussicht, wie übrigens später bei Eco. Einen klaren Zusammenhang sieht man bei den Faschisten in Polen und Ungarn, anderswo sind die Bausteine etwas anders gemischt. Aber Netanjahu-Trump ist z.B. eine brisante Mischung.

Dass wir nicht Erdögan aus der NATO schmeißen, hat ja einen komplizierten Grund: hätten wir die Türkei vor mehr als 20 Jahren in die EU eingeladen, wäre sie vielleicht demokratischer geworden. Und heute ist das Problem, dass wir die NATO kritisieren können, wir haben aber keine europäische Armee, auch aus falsch verstandenem, „passiven“ Pazifismus). Dass wir den polnischen und ungarischen und anderen Autoritarismen nicht entgegentreten, ist noch komplexer: die meisten dieser betroffenen Länder hängen am ökonomischen Tropf der EU, richtig so, aber da muss man schon den Primat der Politik über die Ökonomie, die regionale Struktur- und Wirtschaftshilfe stellen…Aber Trump: der Führer des Westens ist der Führer, weil man ihn in seiner „Form“ noch anerkennt, während sich fast alle demokratischen Politiker einig sind, dass er „inhaltlich“ ein Verbrecher ist (ein Verbrecher am Klima, an unserem Leben, nicht nur dem der Amerikaner). Das hat man mit verschiedenen Faschisten der Vergangenheit auch gemacht, zeitweise und meist lange genug, um sie zu stabilisieren. Faschismus mag ewig sein, er ist nicht ubiquitär (=allgegenwärtig), und er tritt nicht mit geballtem, sichtbarem Herrschaftsanspruch auf; er ist oft bürgerlich gewandet (Eco) und noch öfter zitiert er unsere Werte, um sie uns bitter zu vergällen.

Wie werden wir, immer wieder, die Faschisten los?

Literatur:

Eco, U. (2020). Der ewige Faschismus. München, Hanser.

Knott, M.-L., Ed. (2000). Hannah Arendt: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. München, Piper.

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